Fünfzehn

Es war eine der Partys, bei denen man den Absprung nicht fand. Vielleicht nicht das Schlechteste, denn niemand wollte hinaus in eine Welt, die sich so massiv verändert hatte. Sogar jetzt, nach Jahren, hatte man sich noch nicht daran gewöhnt, und Partygespräche drehten sich nach wie vor um die Frage, warum es niemand hatte kommen sehen. Sie konnten nicht fassen, was aus ihrem Land geworden war. »Das große Grauen«, meinte eine hochgewachsene, schmale und charismatische Frau, Chefin der Online-Marketing-Abteilung des Verlags, der zur Party eingeladen hatte. Sie lehnte im Flur unter einer Reihe von Diane-Arbus-Fotos an der Wand und hielt Hof. »Am stärksten belastet mich«, sagte sie, »dass der schlimmste Typ Mann, ein Typ, mit dem man nie allein gelassen werden möchte, weil man weiß, dass er gefährlich sein kann, nun mit uns allen allein ist.«

Die Runde aus Frauen und ein paar Männern lachte düster. Man nippte am Drink und schwieg eine Weile. Man hatte eine Demütigung nach der anderen hinnehmen müssen, ständige Breitseiten gegen alles, was einem wichtig war, und man hatte sich organisiert, demonstriert und seinem Zorn Luft gemacht, schaltete aber auch gern in einen beruhigenden Modus, und das seit Jahren. Das Trinken gehörte dazu. Und das Feiern, denn obwohl Frauen den Fortschritt nicht mehr als so selbstverständlich betrachten konnten wie früher – »Ich dachte, es würde immer Fortschritte geben, ausgebremst durch kleinere Rückschritte, und dann wieder ein paar Fortschritte. Aber nun ist das ganze Konzept des Fortschritts zerlegt worden, und wer hätte das je für möglich gehalten?«, meinte die scharfzüngige Frau –, war allen klar, dass man gelegentlich einen draufmachen musste.

An diesem Abend feierte man die Tatsache, dass Greer Kadetskys Buch Außenstimmen seit genau einem Jahr auf der Bestsellerliste stand. Ein Jahr, das dem »großen Grauen« einen Daumen ins Auge zu stoßen schien. Das Buch, sicher nicht das erste seiner Art, war ein lebhaftes und optimistisches Manifest, das die Frauen nicht nur ermutigte, den Mund aufzumachen, sondern dessen Titel obendrein doppeldeutig war, weil sich Frauen im Jahr 2019 natürlich stärker denn je als Außenseiter empfanden.

Greer, mittlerweile einunddreißig, hatte auf ihrer Außenstimmen-Tour landesweit gesprochen. Sie hatte Frauenhaftanstalten besucht, Gesellschaften, Colleges und Büchereien, sie war in staatlichen Schulen gewesen, wo sich kleine Mädchen in Sporthallen gedrängt hatten, und sie hatte zu ihnen gesagt: »Seid laut!« Die Schülerinnen hatten nervös zu ihren an der Wand lehnenden Lehrern und Lehrerinnen geschaut, und diese hatten gehaucht: »Macht nur«, und dann hatten die kleinen Mädchen geschrien und gebrüllt, anfangs zögernd, schließlich aus voller Kehle.

Außenstimmen wurde natürlich oft kritisiert. Es spreche nicht für alle Frauen, hörte Greer. Viele Frauen, die meisten Frauen, hätten weit weniger Möglichkeiten und seien nicht so privilegiert, wie es Greer Kadetsky inzwischen war. Frauen und Mädchen aus dem ganzen Land teilten ihr forsch, zärtlich und aufgeregt mit, was ihnen das Buch bedeutete, sowohl auf Greers Website als auch auf dem message board von Außenstimmen. Man sprach sogar von einer »Außenstimmen-Stiftung«, aber das war noch sehr vage. Das Buch hatte Frauen ermutigt, standhaft und lautstark zu bleiben. Und beides war zurzeit dringend nötig.

Vor ungefähr drei Jahren, zu Beginn des »großen Grauens«, bevor Greer mit Cory zusammenzog und Emilia geboren wurde, hatte sie, die Taue zu Loci waren gekappt, am Women’s March in Washington, D.C., teilgenommen. Sie hatte mit einer halben Million Frauen demonstriert und sich dabei frisch, lebendig und euphorisch gefühlt. Endorphine waren in ihren Blutkreislauf geschossen wie Luftballons in den Himmel. Diese Hochstimmung hatte während der viereinhalbstündigen Heimfahrt in einem Glutofen von Reisebus angehalten und noch wochenlang nachgehallt, teils als Endorphin-Rausch, teils als Verzweiflung. Sie hatte sich an jedem Wochenende mit Cory getroffen, entweder in Brooklyn oder in Macopee, wo er weiter wohnte, während er seiner Mutter half, das Haus zu verkaufen und sich neu einzurichten, und Greer hatte derweil in einer Coffeebar gearbeitet, wo sie Dampf, Schaum und Zimt inhaliert hatte. »Ich habe jetzt eine Zimt-Lunge«, hatte sie Zee erzählt. Abends, in ihrer freien Zeit, hatte sie an ihrem Buch geschrieben.

Inzwischen gab es allerdings Momente, in denen Greer bei der Aussicht, die Mantras ihres Buches zum x-ten Mal wiederholen zu müssen, von Erschöpfung oder Langeweile erfasst wurde und sich fragte, ob ihr Werk trotz des Erfolgs nicht auch etwas lächerlich war. Man konnte sich die Lunge aus dem Hals schreien, klar, aber manchmal schien Geschrei rein gar nichts zu bewirken.

Es war ein nasskalter Novemberabend. Die Party wurde von der Verlegerin, Karen Nordquist, veranstaltet und fand bei ihr zu Hause statt, in einer mustergültig eingerichteten Wohnung mit einem Wohnzimmer, dessen Decke doppelt so hoch war wie normal und das eine gigantische Bücherwand samt Leiter aufwies. Karen war irgendwann während der Party mit ihrem Martini auf diese Leiter gestiegen, um einen Toast auf Greer auszubringen, nervös beäugt von den Gästen, aber sie kannte keine Furcht. Von oben in den Raum blickend, hatte sie leicht angetrunken gesagt: »Wow, ich kann alle Scheitel sehen. Sehr adrett.« Es wurde gelacht. »Wie ich merke, achtet ihr alle auf euer Äußeres. Aber vor allem merke ich, wie wichtig euch dieses erstaunliche Buch ist, dieses Phänomen, Außenstimmen. Und genauso geht es mir. Greer, wir lieben dich alle!«

Die unten stehende Greer kam sich etwas albern vor, als sie erwiderte: »Und ich liebe euch auch.« Aber dann sah sie sich um und war überwältigt. Nicht von Liebe, obwohl sie mehrere Anwesende liebte – Cory war da, er hatte Emilia auf dem Arm, und auch viele gute Freunde waren anwesend –, sondern durch etwas anderes. Was sie überwältigte, war die in den Blicken liegende Erwartung. Die Menschen wünschten sich, dass man aktiv wurde. Sie wünschten sich, dass jemand etwas sagte, das sie verinnerlichen, sich anverwandeln konnten. Ein Wort konnte unterschiedlich ankommen; und es musste nicht unbedingt ein Wort sein. Es konnte auch eine Geste sein, ein Moment der Aufmerksamkeit. Ihr Buch, das sich redlich bemühte, das ermutigte und anspornte, war, wie Greer wusste, keineswegs originell oder brillant; es war definitiv eine unvollkommene Plattform. Und Greer war keine Leitwölfin. Das würde sie nie sein.

»Ich fasse mich kurz«, sagte sie und merkte, dass mehrere Menschen im Raum erleichtert wirkten. Niemand wollte, dass eine Autorin auf einer Buch-Party stundenlang über ihr Werk quatschte. »Wir haben uns heute Abend versammelt, in dieser verrückten Zeit. Dieser langen und verrückten Zeit. Und wenn uns wieder mal etwas schockiert, dann ist es genau das – ein Schock. Aber keine echte Überraschung. Der Erfolg, den das Buch in dieser Zeit hat«, sagte Greer, »ist verwirrend. Aber auch begrüßenswert. Obwohl meine Trommelfelle schwer leiden müssen. Heute Vormittag habe ich in einer Schule eine Gruppe von Drittklässlerinnen besucht, und die Mädchen hatten Trillerpfeifen. Es tut immer noch weh!« Die Leute lachten. »Ich war nie besonders laut«, sagte Greer. »Das wisst ihr inzwischen. Oh, ihr wisst inzwischen so gut wie alles über mich.« Dann sagte sie: »Ich lese nur ein kurzes Stück aus dem Buch. Ein Amuse-Bouche.« Sie griff nach dem Buch mit der inzwischen wohlbekannten Abbildung des offenen Mundes auf dem knalligen Cover und las genau eine Minute und vierzig Sekunden. Alle klatschten und nahmen dann ihre besorgten Gespräche wieder auf, nippten an ihrem Drink. Greers Gesicht glühte wie immer, wenn sie öffentlich sprach, selbst jetzt noch.

Cory kam mit Emilia, die ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte und etwas überdreht wirkte. Mit ihren fünfzehn Monaten hätte sie eigentlich nicht so lange auf sein dürfen. Andererseits war ihre Mutter seit einem Jahr auf der Bestsellerliste. Emilia hatte den ganzen Abend herumgetobt und sogar zwei Sprossen der Leiter geschafft, bis sie von ihrer Babysitterin am Kragen gepackt und abgepflückt worden war. Nun stand die Babysitterin, Kay Chung, eine sechzehnjährige Highschool-Schülerin, die mit ihrer Familie in Sheepshead Bay wohnte, auf der anderen Seite von Cory, eine Hand auf Emilias Kopf. Kay war klein und temperamentvoll, trug einen dicken Norwegerpullover und einen kurzen Rock. Greer hatte sie auf Empfehlung einer Freundin engagiert, und wie sich zeigte, konnte Kay nicht nur glänzend mit Kleinkindern umgehen, sondern war auch sonst eine wunderbare Person. Sie erklärte ohne Ironie oder Augenzwinkern, dass sie überwiegend radikale Ansichten habe, fügte aber auch warnend hinzu, sie unterwerfe sich keiner orthodoxen Sichtweise.

»Und was soll das heißen?«, hatte Greer an einem späten Samstagabend gefragt, nachdem sie mit Cory von einer Dinnerparty zurückgekehrt war. Sie standen im vorderen Flur des Reihenhauses, in dem sie jetzt wohnten, und warteten auf das Taxi für die Babysitterin.

»Dass ich eine Skeptikerin bin, schätze ich«, meinte Kay. Auf Nachfrage gestand sie dann, auch dem Feminismus skeptisch gegenüberzustehen. »Du musst wirklich wissen, dass ich dich toll finde, Greer. Echt wahr. Meine Freundinnen und ich, wir haben alle dein Buch gelesen, und sie sind schwer beeindruckt, dass ich bei dir Babysitterin bin«, sagte sie wohlwollend. »Wir sollten uns auf der Welt stärker bemerkbar machen, das ist absolut richtig. Aber Frauen haben während der letzten Jahrzehnte so vieles gesagt und getan, und trotzdem sitzen wir wieder in einem Höhlenmenschen-Moment fest. Obwohl es doch eigentlich unsere Zeit sein sollte, oder?«

Sie stellte Greer keine Frage, sondern wollte ihren Standpunkt verdeutlichen. Kay organisierte alles Mögliche an ihrer Schule, mischte bei Versammlungen und Mini-Demos und auch bei dem mit, was sie »Twitter-Feuer« nannte; dabei schlug sie einen Tonfall wie verbrannte Erde an und entschuldigte sich nie. Ihr und ihren Freunden, sagte sie abfällig, seien Leitfiguren und Wortführer, wie es sie in der Vergangenheit gegeben habe, absolut egal. Solche Menschen seien überflüssig, ja nicht einmal real gewesen. »Wir haben es nicht nötig, Leute auf einen Sockel zu stellen«, sagte sie. »Jeder kann führen. Jeder kann das übernehmen.«

Sie äußerte diese Ansichten, als wären sie noch nie da gewesen, und klang dabei erfrischend aufgeregt und fröhlich. Greer hätte erwidern können: »Ja, kenne ich alles. Das haben die Frauen damals in den Siebzigern auch schon gesagt, meint Faith.« Aber das wäre unhöflich gewesen.

Es dürfe keine Hierarchien geben, erklärte Kay, weil das immer dazu führe, dass man Menschen kleinhalte, und das habe es im Laufe der Geschichte oft genug gegeben, das brauche man nicht mehr, zumal es mit einer von Weißen dominierten Sichtweise einhergehe, die sich für die einzig wahre halte und veraltete Rollenbilder und Geschlechterkonzepte zementiere, alle total falsch. Damit sei endgültig Schluss, sagte Kay. Außerdem, fuhr sie in einem Plauderton fort, der ein enormes Selbstbewusstsein verriet, gehe es nicht so sehr um Menschen, sondern vor allem um Ideen.

Greer wusste nicht, was sie auf den Monolog der Babysitterin erwidern sollte, konnte nur etwas wiederholen, was sie bereits in ihrem Buch dargelegt hatte, dies in einem sowohl zornigen als auch ermutigenden Ton; sie hatte es »Er-wut-igung« genannt. Kay hütete am Wochenende oft Emilia, und Greer hatte ihr alles geschenkt, was mit Außenstimmen zusammenhing: die gebundene Ausgabe, das Arbeitsbuch, den Tischkalender und, wie Cory meinte, die Snacks. Kay sagte auch oft: »Wenn ihr etwas zu lesen habt …«, und Greer und Cory gaben ihr Bücher, jede Menge, Romane und Essaybände, sogar ein paar alte Collegetexte mit zig Unterstreichungen und das Buch, das sich Greer damals von Professor Malick geliehen, aber nie zurückgegeben hatte. Greer hatte es nicht wirklich verstanden, aber Kay meinte, es sei total interessant und irgendwie auch lustig, über diese veralteten Denkweisen zu lesen.

»Unsere Babysitterin ist klüger als wir«, erzählte Greer gern. »Viel klüger.« Das Problem bestand allerdings darin, dass die Babysitterin nicht gehätschelt, nicht durch Außenstimmen gewindelt und getröstet werden konnte. Der kleine Triumph, der darin bestand, dass ihr wohlmeinender, feministischer Weckruf auf der Bestsellerliste stand, schien keine Hilfe für dieses Mädchen zu sein, das wusste, dass es später gute Chancen hätte, aber befürchtete, all das könnte jetzt zunichtegemacht werden.

Es war an der Zeit, die Party zu verlassen, die die Verlegerin zu ihren Ehren gab und die nach Greers Abschied sicher noch lange nicht zu Ende war. Die Älteren gingen, die Jüngeren blieben. Greer und Cory boten Kay an, sie nach Hause zu fahren, aber sie lehnte dankend ab, wollte wissen, ob sie etwas dagegen hätten, wenn sie noch bliebe. Die Babysitterin hatte ein paar Praktikanten kennengelernt. Sie gab Emilia einen Kuss auf den Kopf, sagte: »Tschüss, mein Häschen«, und kehrte dann zu ihren neuen Bekannten zurück, die sie sofort in ihre Runde aufnahmen.

»Ich kann den Begriff ›Außenstimmen‹ echt nicht mehr hören«, sagte Greer während der Heimfahrt zu Cory.

»Du hast ihn selbst in die Welt gesetzt.«

Sie lehnte sich an ihn, dicht neben ihm sitzend, weil der Baby-Safe so viel Platz einnahm. Emilia hatte schon die Augen geschlossen, ihr verschwitzter Kopf lag unnatürlich schief. Das Auto rumpelte durch die stillen Straßen, fuhr dann über die Brücke. Sie waren kaum in Brooklyn, da stießen sie auf erste Baustellen. Hier wurde ständig gebaut. Ihr Reihenhaus befand sich in Carroll Gardens; sie wohnten dort, seit Greer einen Verlag für ihr Buch gefunden hatte, das sofort weltweit verkauft worden war. Cory und Greer hatten plötzlich Geld, was beide schockierte und für Unbehagen sorgte. Sie hatten das Haus eigentlich renovieren wollen, aber Cory hatte vorgeschlagen, es so zu lassen; es war gemütlich, und vielleicht, meinte er, sollten sie stattdessen lieber seiner Mutter und Greers Eltern monatlich etwas zukommen lassen, denn diese konnten das Geld gut gebrauchen. Und nachdem sie damit begonnen hatten, fiel es ihnen leicht, Menschen zu unterstützen, mit denen sie nicht verwandt waren. Keiner von beiden wusste, wie lange das Geld reichen würde; es würde sich nicht bis in alle Ewigkeit wie von selbst vermehren. Greer hatte einen Bestseller gelandet; sie war keine Hedge-Fonds-Managerin, und vielleicht würden sie nie wieder einen solchen Erfolg haben, aber dann hatten sie andere wenigstens nach Kräften unterstützt.

Als SoulFinder schließlich auf den Markt kam, wurde es kein finanzieller Erfolg, eroberte sich in der Welt der Indie-Computerspiele aber einen durchaus geachteten Nischenplatz. Es glich einem Schläfer. Die Leute, die es spielten, taten das mit Leidenschaft. Corys nächstes Spiel war in Vorbereitung, der Investor hatte wieder seine Unterstützung signalisiert. Cory hatte erwogen, nach all den Jahren doch noch wie geplant ins Mikrofinanzwesen einzusteigen, aber die Abläufe hatten sich verändert, er hatte den Anschluss verpasst, Geld war stets heikel, und er befürchtete, die Sache zu verbocken. Er war beruflich nicht »angekommen«, und vielleicht würde er das nie schaffen, aber das war nicht weiter dramatisch. Cory arbeitete, und das gern. Er erledigte viel im Haus, bereitete selbstgemachte Fischstäbchen für Emilia zu und kochte vegetarische Gerichte für Greer, war für den Gesamtplan zuständig. Er wollte Emilia Portugiesisch beibringen, hatte ihr sogar schon eine DVD mit portugiesischen Kinderliedern und Versen gekauft. Diese DVD erinnerte ihn an seine Mutter, die jetzt in Fall River wohnte und putzmunter war, aber auch an seinen Vater in Lissabon; vielleicht war der Gedanke an diesen der wahre Auslöser für die Online-Bestellung der DVD gewesen. Cory hatte erklärt, seinen Vater trotz allem in Portugal besuchen und dann mit seiner Familie Sightseeing machen zu wollen, nur hätte Emilia erst in ein paar Jahren etwas davon, sie mussten also noch ein bisschen warten.

Nach der Heimkehr von der Party legten sie Emilia in ihre Wiege, wo sie weiterschlief wie ein Stein. An diesem Abend war keine Geschichte erforderlich, kein Wasser, nicht die Projektorlampe, die tanzende Figuren auf die Zimmerdecke warf, keine weitere Geschichte, nicht noch mehr Wasser. Greer stellte bei einem Blick auf ihr Handy fest, dass sie eine SMS aus Chicago bekommen hatte. »Habe dir einen Link geschickt«, schrieb Zee. »Ruf mich an. Ich will deine Reaktion in Echtzeit erleben.«

Also ging Greer in ihr Arbeitszimmer und rief Zee an. Beide saßen vor ihrem jeweiligen Laptop, und Greer klickte auf den Link, der zu einem Video führte, wackelig mit dem Handy gefilmt. Zuerst trat ein dicklicher, fast kahler Mann in die Tür eines Hauses, das offenbar in einem Garten stand. Das Umfeld war irgendwie tropisch. Er hatte die Tür kaum geöffnet, da flog ihm der feuchte Inhalt eines Mülleimers ins Gesicht, und die Kamera schwenkte ruckartig zu einer jungen Frau, die den Eimer hielt und schrie: »Du hast noch Schlimmeres verdient, du Dreckstück.« Der Mann, voller Abfall in der Tür seines Hauses stehend, wirkte anfangs schockiert und sagte: »Hey, hey, was soll die Scheiße?«, begann aber Sekunden später fröhlich zu lachen. »Alles klar«, sagte er und wischte Müll von einer Wange. »Mach weiter, los, das ist eine schwere Tätlichkeit, ja, bewirf mich weiter.«

Greer stoppte das Video. »Halt mal – warum soll ich mir das anschauen?«, fragte sie.

»Klick auf Vollbildmodus«, sagte Zee.

Das Standbild füllte den ganzen Bildschirm aus, und Greer beugte sich so weit vor, dass ihre Nasenspitze fast das erstarrte Gesicht berührte. Sie betrachtete das süffisante Lächeln, die nichtssagenden Züge, die weit auseinanderliegenden Augen. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, aber sie konnte es nicht einordnen. Bei genauerem Nachdenken wirkte die Szene vertraut. Jede Geschichte und jeder Charakter hatte Vorläufer. Der lachende, von Abfall bedeckte Mann und die wutentbrannte Frau, beide in irgendeiner warmen Gegend vor einem Haus stehend. Die Vertrautheit der Szene entsprang zunächst einmal der mit den zwei Figuren: erboste Frau und gleichgültiger, schulterzuckender Mann. Eine uralte Geschichte, die Greer sowohl bei Loci als auch während ihrer Außenstimmen-Lesereise gelegentlich gehört hatte, aber das Muster war ihr schon länger bekannt. Aus den antiken griechischen Komödien, die sie als Mädchen gelesen hatte. In weiter, weiter Ferne tauchte eine Erinnerung auf, und Greer wartete, das Gesicht betrachtend, geduldig auf ihre Ankunft. Dann ging ihr ein Licht auf.

»Tinzler?«, fragte sie, fast flüsternd vor Verblüffung.

»Ja.«

»Darren Tinzler? Nein. Wie hast du das gefunden? Was ist das?«

»Chloe Shanahan hat den Link bekommen und an mich weitergeleitet«, sagte Zee. »Darren Tinzler hat eine Rache-Porno-Webseite namens ›DasHastDuVerdientSchlampe.com‹. Er veröffentlicht Fotos und Filmaufnahmen von Frauen mit einem Link zu ihrem Facebook-Profil und verlangt dann eine fette Gebühr von ihnen, damit er alles löscht. Die Gebühr geht an eine Anwaltskanzlei in Chicago, die nicht wirklich existiert. Diese Frau wollte ihn verklagen, aber das ging nicht, weil er seine Identität verbirgt. Außerdem ist die Rechtslage immer noch ungeklärt. Also hat sie ihn aufgespürt und ihm den Abfall ins Gesicht gekippt, während eine Freundin alles gefilmt hat. Sie wollten den Film dann online stellen, um ihn zu blamieren und fertigzumachen. Und nun halt dich fest: Darren Tinzler hat den Film retweetet. Sie konnten ihn nicht blamieren oder fertigmachen. Er fand es zum Brüllen.«

Beide verfielen in ein nachdenkliches Schweigen. Vor dreizehn Jahren hatten sie T-Shirts mit dem Gesicht Darren Tinzlers getragen, seine weit auseinanderliegenden Augen angestarrt. Er war trotz des aufgedunsenen Gesichts, der fast kompletten Glatze und der fehlenden Kappe zu erkennen. Ihre T-Shirt-Kampagne hatte nichts bewirkt, und Faith hatte damals in der Damentoilette gewarnt, man könnte wieder mit Darren Tinzler sympathisieren, wenn sie ihn weiter drangsalierten. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Wenn sie die Sache durchgezogen hätten, dachte Greer, wäre er möglicherweise doch vom College geflogen, dann hätten ihn seine Taten noch Jahre später verfolgt. Dann wäre er vielleicht observiert und gezügelt worden und hätte nicht schalten und walten können, wie er wollte.

»Wir scheinen uns zu wünschen, dass alle nach den gleichen Regeln spielen«, meinte Greer, »aber diese Typen erwidern: ›Wir spielen nicht nach euren Regeln. Kapiert ihr das nicht?‹«

»Ja, stimmt. Und das ist unfassbar deprimierend.«

»Sie schaffen es immer, die Regeln zu bestimmen«, sagte Greer. »Ich meine – sie tun das einfach. Sie fragen gar nicht erst. Wir müssen das auch tun. Das sagen alle, schon klar, das ist keine neue Idee. Aber es ist nach wie vor richtig. Denn andernfalls würde es ewig so weitergehen. Dann müssten wir bis in alle Ewigkeit in den Gebäuden leben, die sie errichten. Und in den Kreisen, die sie ziehen. Das ist vielleicht ein Bild zu viel, aber du weißt sicher, was ich meine.«

»Dein nächstes Buch könnte heißen: Die Kreise, die sie ziehen

»Ich sage das nicht nur so. Das ist kein Gerede, und es soll auch nicht bloß schlau klingen. Ich habe keine Ahnung, wofür die ›Außenstimmen-Stiftung‹ steht, falls sie je gegründet wird. Auf jeden Fall nicht nur dafür, in schweren Zeiten Streicheleinheiten zu verteilen.«

»Es gibt viel Engagement«, meinte Zee. »Und die Leute haben Lust auf mehr. Frauen strömen in die Politik. Man müsste die Sache mit der Stiftung gründlich durchdenken.«

»Sie darf nicht wie Loci sein«, sagte Greer. »Diese ganze Geldgeschichte. Ich bin mir allerdings sicher, dass sie, wenn sie endlich stünde, schon wieder ein Stück weit überholt wäre. Du könntest mir helfen, all das zu durchdenken.«

»Ja, klar. Ich löse alle Probleme.«

»Du hast in Chicago Graswurzel-Erfahrungen gesammelt. Darin bist du irre gut. Noelle könnte hier an einer Schule arbeiten. Das klingt ein bisschen wie: ›Hopp, hopp, auf die Bühne‹, ich weiß, aber so meine ich das nicht. Sollte diese Sache konkreter werden, dann könntest du ein Teil davon sein. Ich schulde dir sowieso noch einen Job«, sagte sie leichthin.

»Nein, du schuldest mir nichts«, erwiderte Zee. »Wirklich nicht, ehrlich.« Sie schwieg kurz. »Außerdem liebe ich meine Arbeit, Greer.«

»Das weiß ich.«

Beide verstummten und dachten über Darren Tinzler nach. Ein Mann, der Frauen entwürdigte und bedrohte, weckte den Wunsch nach allen möglichen Gegenmaßnahmen. Schreien und brüllen; demonstrieren; eine Rede halten; rund um die Uhr den Kongress anrufen; sich in einen anständigen Mann verlieben; einer jungen Frau vor Augen führen, dass trotz gegenteiliger Anzeichen nicht alles verloren war; ändern, was Frauen weltweit empfanden, wenn sie nachts durch eine Straße gingen, oder was ein Mädchen empfand, das am helllichten Tag mit einem Eis in der Hand einen KwikStop in Macopee, Massachusetts, verließ. Keine Frau sollte sich voller Sorge fragen müssen, ob ihre Brüste noch wachsen würden oder jemals groß genug wären. Keine Frau sollte sich in körperlicher oder sexueller Hinsicht Gedanken über sich machen müssen, es sei denn, freiwillig. Jede Frau sollte sich kleiden dürfen, wie es ihr passte. Wie von Faith Frank gewünscht, sollte sich jede Frau zu jeder Zeit kompetent, sicher und frei fühlen.

In Momenten wie diesen tauchte Faith wieder auf, war plötzlich in einem Gespräch präsent. Wenn Greer durch die Stadt ging, erblickte sie manchmal elegante ältere Frauen, teils begleitet von anderen Frauen, und versuchte, sie einzuholen. Aber wenn die betreffende Frau den Kopf zur Seite wandte, zeigte sich nicht nur, dass es nicht Faith war, sondern dass es sich um einen geradezu absurden Irrtum handelte. Dann war die Frau erst dreißig. Oder sie war farbig. Einmal war die Frau sogar ein Mann. In den meisten Fällen handelte es sich jedoch um Frauen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Faith hatten und ihr Stunt-Double hätten sein können: schön und kultiviert. Beim Women’s March, als alle das Hochgefühl gehabt hatten, im Recht zu sein, war Greer überzeugt davon gewesen, dass auch Faith irgendwo in der Menge war – sie gehörte nicht zu den Rednerinnen –, und sie hatte gehofft, ihr über den Weg zu laufen. Obwohl ihr Verhältnis auf denkbar schlimmste Art geendet hatte, würde das Eis da und dort gebrochen werden, dann wäre das, was zwischen ihnen vorgefallen war, Schnee von gestern. Manchmal musste man seine Überzeugungen aufgeben oder in einem Maß aufweichen, das man nie für möglich gehalten hätte. Sie würde rufen: »Faith?«, und diese, mitten zwischen den skandierenden Frauen stehend, würde herumfahren und sie erblicken. Ihre lange Trennungsphase wäre zu Ende. Greer würde sie zurückerhalten wie einen verlorenen Menschen bei SoulFinder. Obwohl man sich bei SoulFinder, wie Cory betonte, auf die Suche nach dem Menschen begeben müsse, den man verloren habe.

Faith war dem achtzigsten Lebensjahr inzwischen näher als dem siebzigsten. Sie arbeitete noch in der Stiftung, obwohl Emmett Shrader vor drei Jahren an einem schweren Herzinfarkt gestorben war. Sein Tod hatte Aufsehen erregt, und die Zeitungen hatten im Nachrichtenteil, aber auch im Wirtschaftsteil ausführlich darauf reagiert, sowohl mit Porträts als auch mit lobenden Nachrufen; aber es kursierten auch Gerüchte über die Ursache des Infarkts. Es hieß, er sei gestorben, als er mit einer jungen Frau habe schlafen wollen. Zuvor habe er ein Medikament gegen Erektionsstörungen genommen, obwohl man ihm nicht nur von diesem Mittel abgeraten habe, sondern von Sex überhaupt, jedenfalls von der Art, die Emmett bevorzugte – aktiv, sportlich, mit vollem Körpereinsatz und rasendem Puls.

Er hatte das Weiterbestehen der Stiftung in seinem Testament gesichert, aber versäumt, die finanzielle Unterstützung genau zu beziffern. Daraufhin strich man das Budget von Loci immer weiter zusammen, bis die Stiftung nur noch ein kleines, bescheidenes Forum für Rednerinnen war und in der Welt einen ähnlichen Platz einnahm wie die Zeitschrift Bloomer am Ende ihres langen Lebens.

Trotzdem arbeitete die Stiftung unter der Führung Faith Franks weiter, wenn auch mit stark reduziertem Personal und in viel kleineren Büroräumen in einem unteren Stockwerk des Strode Building. Die Sache mit dem Mentorinnen-Programm war nie an die Öffentlichkeit gedrungen. Ben, der immer noch bei Loci war, erzählte Greer, dass Faith oft bis in den späten Abend arbeite. Sie hatte ihre Suffragetten-Tür oben und unten um ein paar Zentimeter kürzen müssen, weil ihr neues Büro viel kleiner war. Greer stellte sich vor, wie Faith grimmig zusah, als ein Handwerker mit einer Säge erschien und die Tür kappte.

Loci veranstaltete keine Konferenzen mehr, sondern nur noch kleinere Veranstaltungen mit zwanzig bis dreißig Personen, wie die Lunchtime-Reden, die sie früher als Appetithäppchen für die Konferenzen organisiert hatten. Faith schrieb manchmal Kommentare für die New York Times und die Washington Post, hielt aber fast keine öffentlichen Vorträge mehr. Ab und zu sah Greer Fotos von Faith; suchte diese im Netz, um genau zu sein. Ja, das war Faith, trotz tieferer Falten, die an das Holzschnitt-Porträt einer Fischerin erinnerten. Faith mit ihrem Lächeln und ihrer Intelligenz und stets mit ihrem Markenzeichen, den sexy Stiefeln. Und doch eine Faith mit weniger Spielraum, einem kleineren Budget, in beängstigenden Zeiten. Faith arbeitete weiter, während die Frauenfeindlichkeit überall auf der Welt offen auf dem Vormarsch war; dass sie existierte, bezweifelte kaum noch jemand.

Anne McCauley war inzwischen im Ruhestand und widmete sich im Alter ihrem Hobby, dem Einwecken von Pflaumen. Ihr Sitz im Senat war an ihre Tochter übergegangen, Lucy McCauley-Gevins, die gegenüber dem Abtreibungsrecht eine noch härtere Haltung vertrat als ihre Mutter und mit viel Geld und Beifall unterstützt wurde. Loci war klein; Senatorin Lucy McCauley-Gevins wurde immer größer; Fem Fatale hatte im Laufe der letzten Jahre viel an Beliebtheit verloren, war aber durch andere Websites ersetzt worden, neuere und frechere, die bissige Kommentare, Humor und ein Ventil für die Wut boten; Ragtimes, das nette, kleine Stück, wurde immer noch landesweit in lokalen Theatern und an Highschools aufgeführt; und Außenstimmen gab durch nichts zu erkennen, von der Bestsellerliste rutschen zu wollen.

Opus’ alter Hit The Strong Ones lief jetzt in einem Fernsehwerbespot, in dem zwei weibliche Hände an einem Stück Haushaltspapier zerrten, das sich weder auflöste noch riss. Manche Leute verteidigten Opus’ Entscheidung mit der Begründung, es sei gut, Kunst auf diese Weise zu verbreiten, weil man eine Botschaft so in alle Gewässer der Kultur einfließen lassen könne. Alle wussten, dass man nie ruhen durfte und immer wachsam sein musste, und obwohl es einerseits nicht mehr reichte, sich einfach nur zu engagieren, konnte man sich andererseits nicht den Luxus erlauben, die Hände in den Schoß zu legen. Faith saß bis zum späten Abend im Schein ihrer Lampe im kleinen Büro an ihrem Schreibtisch, der von Papieren übersät war.

Für den Fall, dass sie irgendwann wieder Kontakt mit Faith hätte, hatte sich Greer vorgestellt, diese mit den neuesten Informationen über ihr Leben zu versorgen. Sie würde ihr schreiben:

»Ob du es glaubst oder nicht, Faith, ich habe am Ende meinen Freund aus Highschool-Zeiten geheiratet, dessentwegen ich mal in deinem Büro geheult habe. Anfangs hatte ich Vorbehalte; ich wusste nicht so recht, wie ich zur Ehe stand. Aber weil wir von Anfang an Kinder wollten, war eine Heirat finanziell sinnvoll. Ich wusste, dass ich ihn liebe, finde aber auch, dass nicht jede Liebesbeziehung in einer Heirat münden muss. Zu Beginn hatte ich widersprüchliche Gefühle, aber dann habe ich sie überwunden.

Wir haben die Hochzeit auf einem Hügel ganz in der Nähe des Ortes gefeiert, in dem wir aufgewachsen sind. Meine Mutter hat während des Empfangs eine Clowns-Vorstellung für die kleinen Gäste gegeben. Mein Vater stand da und hat ins Tal geblinzelt, er schien sich für mich zu freuen, aber vielleicht war er auch nur haschbenebelt. Meine Freundin Zee hat übrigens ihre langjährige Partnerin geheiratet. Wir haben darüber gescherzt, dass sie die Ehe viel bereitwilliger eingegangen ist als ich. Sie war ganz wild darauf, zu heiraten; es hat sie so glücklich gemacht. Nicht nur die Tatsache, dass es ihr und Noelle möglich war – weil es so viele Fortschritte gegeben hat, dass es legal und gängig ist –, sondern vor allem, dass sie es überhaupt getan haben. Sie hat alle Hochzeitsvorbereitungen genossen. Die Geschenkparty. Die Sitzordnung. Der Song für den ersten Tanz. Sie fand es herrlich. Ihre Eltern, beide Richter, saßen vorn an der Tafel. Alle haben geweint.

Cory und ich haben eine Tochter. Sie heißt Emilia, nach Corys Großmutter. Ich lag dreiundzwanzig Stunden in den Wehen, und als sie endlich zum Vorschein kam, war sie Cory so ähnlich, als hätte ich keinen Anteil an irgendetwas gehabt. Sie lässt erst jetzt ein paar Ähnlichkeiten mit mir erkennen. Du hattest recht: Es ist verflixt schwierig, alles abzuwägen.

Was mich selbst betrifft, so bin ich vor allem oft müde. Zum Teil, weil ich nonstop für mein Buch werben musste. Der Tag, an dem ich es an einen Verlag verkauft habe, der Tag, als ich den Anruf bekam, war total aufregend. Ich muss manchmal daran denken, wie sehr du dich gefreut hast, wenn jemand einen Erfolg hatte. Du hast immer gesagt, es sei super zu erleben, dass eine Frau ihren beruflichen Traum verwirkliche. Ich glaube, du hättest dich auch für mich gefreut. Das habe ich beschlossen. Aber ich weiß, dass du über anderes nachdenken musst, über andere Leute, die deine Zeit in Anspruch nehmen; Zeit, die du jetzt sicher sorgfältig dosierst, um dich zu schonen. Das ist Selbsterhaltung, und sie ist genauso wichtig wie Großzügigkeit. (Darauf gehe ich kurz in meinem Buch ein.) Denn wenn man nicht auf Selbsterhaltung achtet, sich nicht manchmal schont, kann man auch nichts mehr geben.

Hast du gemerkt, dass ich hinten im Buch auch dir danke? Ich dachte, dass du mich daraufhin vielleicht anrufst oder mir eine kurze Nachricht schickst: ›Volltreffer!‹ Ohne dich hätte ich das Buch ganz sicher nie geschrieben, ich hoffe, das weißt du. Trotz allem, was zwischen uns vorgefallen ist. (Manchmal denke ich, dass du die Worte, die du mir zum Schluss im Büro an den Kopf geworfen hast, inzwischen bereust. Ja, ich denke, du bereust sie ein bisschen.)«

Doch in letzter Zeit wünschte sich Greer, Faith etwas anderes sagen zu können.

»Du hast im College für eine Offenbarung gesorgt«, würde sie zu ihr sagen. »Danach habe ich jahrelang beobachtet, wie du alles, was du aufzubieten hattest – deine Kraft, deine Ansichten, deine Großzügigkeit, deinen Einfluss und natürlich deine Wut über Ungerechtigkeiten, alles zusammen –, anderen Menschen geschenkt hast, meist Frauen. Du hast damals nie zu diesen Frauen gesagt: Okay, und nun müsst ihr das weitergeben. Doch genau das ist oft passiert: Die lange und großartige Geschichte von Frauen, die alles an andere weitergeben. Vielleicht ist das ein Reflex, manchmal auch eine Pflicht; aber wir tun es stets in dem Gefühl, dass es notwendig sei.«

Abschließend würde Greer schreiben: »Sogar mein letzter Besuch in deinem Büro, als du stinksauer auf mich warst und mir mein Fehlverhalten vorgeworfen hast, sogar dieser schreckliche Moment hatte positive Folgen. Er hat mich dazu veranlasst, meine beste Freundin aufzusuchen und ihr alles zu beichten. Schwer zu sagen, warum ich nicht einsehen wollte, dass das nötig war. Ich habe es jahrelang nicht einsehen wollen.«

Greer saß da und malte sich aus, Faith all dies zu sagen, wusste aber nicht, ob das jemals möglich sein würde. Vielleicht wären es auch zu viele Informationen. Vielleicht wollte Faith gar nichts davon wissen. Vielleicht waren sie und Faith von Beginn an auf eine Katastrophe zugesteuert, die dann am Ende tatsächlich eingetreten war. Vielleicht ahnt eine ältere Frau bereits in der Sekunde, in der sie eine jüngere zum ersten Mal anspornt, dass es schließlich zum Bruch kommen wird. Sie weiß es, doch die jüngere Frau ahnt in ihrer Aufregung nichts davon. Eine Person ersetzt die andere, dachte Greer. So läuft es. Genau das passiert die ganze Zeit.

Und wer wird mich ersetzen?, dachte sie entsetzt, entspannte sich aber, und der Gedanke begann sie zu amüsieren. Sie sah mehrere Frauen hereinkommen wie Polizistinnen mit einem Hausdurchsuchungsbefehl, stellte sich vor, dass sie sich wie zu Hause fühlten und alles zur Hand nahmen. Sie malte sich eine ältere Kay Chung aus, die sich ihre Habseligkeiten anschaute. Kay durchstreifte das Haus, neugierig, aufgeregt, blätterte in Büchern, die in den Regalen standen, entdeckte solche, die Greer ihr nicht geliehen hatte, die aber interessant wirkten, futterte ein paar Cashewnüsse aus Greers Vorrat und schüttelte Multivitamintabletten aus der großen, bernsteinfarbenen Flasche auf dem Küchentresen, als könnten sie ihr die Energie und die Kraft geben, die sie für ihr weiteres Leben brauchte. Kay stieg zum Arbeitszimmer hinunter, betrachtete den gemütlichen Sessel und die danebenstehende Leselampe.

Setz dich, Kay, dachte Greer. Lehn dich zurück und schließ die Augen. Stell dir vor, wie es wäre, Greer zu sein. Ist nicht gerade umwerfend, aber stell es dir trotzdem vor.

Bei Loci hatte man abgehoben über Macht diskutiert und Konferenzen dazu veranstaltet, als wäre es eine messbare, ewige Größe. Aber Macht währte nie ewig, was man natürlich nicht ahnte, wenn man sein Leben in Angriff nahm. Greer fiel ein, wie Cory im Zimmer seines Bruders gesessen hatte, ohne etwas mit Macht am Hut zu haben, wie er Slowy aus der Kiste geholt und neben sich auf den blauen Teppich gesetzt hatte. Slowy hatte geblinzelt, ein Bein bewegt, den Kopf gereckt. Am Ende verlor man Macht und Kraft, dachte Greer. Man strengte sich an und versuchte, möglichst viel zu erreichen, bis einem schließlich die Puste ausging. Das Leben war kurz. Vielleicht würde die Schildkröte sie selbst und alle anderen zu guter Letzt überleben.