Kapitel 4

Als Heike am späten Nachmittag zu Fuß von der S-Bahn-Station nach Hause lief, sah sie einen Transporter in der Einfahrt parken. Jochen stand draußen vor dem Hauseingang und redete mit zwei Männern.

»Oh, Heike, da bist du ja.« Er winkte ihr zu. »Die Firma kann heute ein paar Sachen mitnehmen, die noch in den LKW passen. Hollenberger hat gesagt, das geht in Ordnung. Dann muss ich keinen teuren Umzug bezahlen.«

»Jetzt schon?«, fragte Heike überrumpelt. »Ich habe doch noch gar nichts ausgeräumt.«

»Wo ist denn dein Auto?«

»Hab ich bei Gabi stehen lassen. Wir haben auf ihr neues Knie angestoßen.«

»Knie?«

»Ja, auf das Knie. Keine Sorge, ich bin nicht betrunken, falls du das denkst.« Heike merkte den Alkohol wirklich kaum noch. Wobei sie in diesem Moment nichts gegen einen weiteren Cognac gehabt hätte, um ihren Frust fortzuspülen.

»Na dann. Über die Kommode und den Schuhrank hatten wir ja schon kurz gesprochen, die sollten auf jeden Fall mit. Dazu meine Bürosachen … Ah ja, etwas Bettzeug könnte noch zu der Kleidung.«

»Wie der Herr möchte.« Heike schob sich an Jochen vorbei, öffnete den Schuhschrank im Flur und stellte die verbliebenen Schuhe ziemlich lieblos auf den Boden. Seit die Kinder fort waren, war das Ding sowieso halb leer. Ein Erbstück von Jochens Eltern. Der Schrank war praktisch, aber nicht gerade besonders hübsch. Ihm würde sie keine Träne hinterherweinen.

Die beiden Männer packten das Möbelstück und trugen es aus dem Haus. Heike ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer und leerte die Kommode. Darin hatten sie über die Jahre hinweg Socken und Unterwäsche aufbewahrt. Achtlos warf sie den Inhalt der Schubladen auf das Bett. Jochen hatte die meisten seiner Sachen schon in Kartons verpackt, die im Flur standen und von denen nun die ersten auf den Armen der Männer das Haus verließen.

Heike trat zum großen Kleiderschrank und schob die Tür zu dem Fach mit der Bettwäsche auf. Wie passend – auch die Bettwäsche trennt sich jetzt, dachte sie im Stillen, als sie je ein Kopfkissen und einen Deckenbezug der paarweise sortierten Garnituren hervorzog. Es war ein Moment, der überraschend wehtat und ihr die Entscheidung ihres Mannes mehr als bildlich vor Augen führte. Sie schluckte. Ihr wurde klar, dass sie in Zukunft nur noch ungern in dieser Wäsche schlafen würde, in dem Wissen, dass ein Teil davon nicht länger zu ihr gehörte.

»Kann ich das einpacken?« Jochen war unbemerkt die Treppe emporgekommen.

»Ja, nimm, was du willst. Was den Rest angeht, müssen wir dann mal sehen. Ich werde ja auch nicht alles mitnehmen können.« Sie hatte diese Worte einfach so dahingesagt, als hätte sich ihr Kopf bereits damit abgefunden, hier bald auszuziehen.

Jochen sah sie verwundert an. »Hast du dir schon was überlegt? Ich meine … willst du dir eine Wohnung nehmen?«

»Ach, weiß ich noch nicht. Ist ja noch ein bisschen Zeit, aber alleine in dem Haus hier, das ist auch nichts für mich.«

Jochen nickte nur und sah sich gedankenverloren um. Ganz so leicht schien ihm das Verlassen seines Heims wohl doch nicht von der Hand zu gehen. Er seufzte leise. »Na dann. Ich werde übermorgen mit dem Wagen runterfahren dann. Erst mal für drei oder vier Wochen, bis Krause mich da eingearbeitet hat. Dann komme ich wieder nach Hamburg, um mit Hollenberg eventuelle Änderungen im Programm für Mallorca zu besprechen. Krause ist ja nicht mehr der Jüngste, mal gucken, ob wir nicht noch …« Er schien Heikes desinteressierten Blick zu bemerken und brach ab. »Wie auch immer – dann können wir ja in Ruhe sehen, was hier mit allem passiert.«

»Jochen?« Heike war gerade etwas eingefallen, das sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. »Was machen wir mit den Kindern? Ich meine … sie müssen es ja auch wissen.«

Mit einem Mal sah er regelrecht hilflos aus und hob kurz die Hände. »Ja … ähm … Was meinst du, soll ich sie anrufen?«

Heike zog die Brauen zusammen. »Moin, hier ist Papa. Hört mal, Mama und ich haben uns getrennt, das Haus wird verkauft – und bei euch? Alles klar so weit? Ne, Jochen!« Heike schüttelte vehement den Kopf. »Das können wir nicht so machen. Das sollten wir ihnen schon von Angesicht zu Angesicht mitteilen.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich kann jetzt weder nach Schweden noch nach Köln fahren.« Er hob abwehrend die Hände.

»Du sagst es ihnen nicht am Telefon – kein Wort!« Heike zeigte drohend mit dem Finger auf ihn. Dann rieb sie sich die Schläfen. Dass die Kinder so weit weg waren, war ein echtes Problem in diesem Fall. Dennoch war diese einschneidende Veränderung etwas, das man seinen Kindern nur im persönlichen Gespräch verkündete.

»Ich … ich lass mir etwas einfallen. Falls sich einer der beiden bei dir meldet – oder bei mir –, dann bist du halt auf Mallorca zum Arbeiten. Nicht mehr!«

»In Ordnung.« Jochen sah geradezu erleichtert aus. »Aber du lässt es mich wissen, wenn sie Bescheid wissen.«

»Ja, verdammt.« Heike war sauer. Schön, dass sie das nun auch noch erledigen musste.

Jochen fuhr dem Transporter hinterher, um seine Sachen in den Laster von Elbequell zu laden, der wöchentlich von Hamburg auf die spanische Insel unterwegs war.

Heike war allein im Haus. Müde ließ sie sich im Wohnzimmer auf eines der Sofas sinken. Gedankenversunken strich sie über einen verblassten Fleck. Kirschsaft, den hatte Kai vor vielen Jahren verschüttet. Dann betrachtete sie ihr Spiegelbild in dem ausgeschalteten Fernseher. Sie war alt geworden. Ihre schulterlangen, einst nussbraunen Haare hatten viele graue Strähnen. Eine schnittige Frisur trug sie schon lange nicht mehr. Frisch gewaschen sahen sie noch recht ordentlich aus, und zum Putzen oder für die Gartenarbeit flocht sie sich einen praktischen Zopf im Nacken. Sie hatte Fältchen bekommen um die Augen und um den Mund. Wenn sie ins Büro zu Behrs ging, trug sie etwas Make-up und Lidschatten auf. Ansonsten sahen ihre Schminksachen im Badezimmerschrank ähnlich runzelig und trocken aus wie sie jetzt gerade im Spiegelbild. Hatte sie sich zu sehr gehen lassen? Hätte sie mehr auf sich achten müssen?

Nachdenklich zupfte sie an ihrer Bluse, die auch schon einige Sommer hinter sich hatte, und ließ den Blick schweifen. Plötzlich kam ihr alles im Haus abgewohnt vor. Die Fliesen auf dem Boden hatten hier und da einen Sprung, weil die Kinder oft die Stühle vom Esstisch hatten umkippen lassen. Die Wände hatten schon seit Längerem keine frische Farbe mehr bekommen, und die Möbel … allesamt über zwanzig Jahre alt. Sie überlegte, was sie von der Einrichtung mitnehmen würde, wenn sie hier auszog. Die Bilder, einige Dekosachen, Kleidung – ja. Aber weder die fleckigen Sofas noch die Schränke oder der Tisch erschienen ihr in diesem Augenblick reizvoll. An jedem Möbelstück in diesem Haus klebten die Erinnerungen wie Kaugummi. Wollte sie sich das antun? Alles roch doch nach Jochen. Heike wurde übel. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. Sie legte die Hände vor das Gesicht.

»Verdammt!«

Mit einem Mal kamen ihr die Tränen. Und zu allem Überfluss musste sie sich jetzt auch noch überlegen, wie sie ihren Kindern schonend mitteilte, dass ihre Eltern sich trennten.