Von Hamburg zum Feensee
Als Heike erwachte, zwitscherten draußen im Garten die ersten Vögel. Es war kurz nach fünf in der Früh. Wie lange hatte sie geschlafen? Sechs Stunden vielleicht. Der Gedanke an den Aufbruch hatte sie kaum zur Ruhe kommen lassen, doch irgendwann hatte der Schlaf sie doch übermannt.
Jetzt streckte sie sich auf ihrem Sofa und horchte in sich hinein. Ja! Es fühlte sich gut und richtig an. Allerdings verspürte sie immer noch eine große Portion Respekt vor diesem Abenteuer.
»Na, na, Frau Berger …«, schalt sie sich leise, »nicht kneifen!« Unwillkürlich musste sie daran denken, dass sie womöglich bald wieder ihren Mädchennamen tragen würde. War das nicht so nach Scheidungen? Ohlenberg? Frau Heike Ohlenberg? Oh Gott, das war so lange her. Sie stöhnte leise und rieb sich die Augen. Aber darüber konnte sie sich Gedanken machen, wenn es so weit war. Vor der endgültigen Trennung würde sicherlich noch ein Berg von anderen Dingen auf sie zukommen. Kurz schauderte sie und spürte, wie der Mut sie verließ, dann aber befahl sie den negativen Gedanken, schön brav in diesem Haus zu bleiben. Sie würde sich erst mal erholen, zu sich selbst finden oder wozu auch immer dieser Trip gut sein würde.
»Jawohl! Das wirst du – und du wirst fahren.« Mit diesem an sich selbst gerichteten Befehl schwang sie die Beine vom Sofa und setzte sich auf. Ein klitzekleiner Teil von ihr wollte sich am liebsten wieder in die Polster kuscheln, die Decke über den Kopf ziehen und abwarten. Nur worauf? Wenn du merkst, du sitzt auf einem toten Pferd, dann steig ab. Diesen schlauen Spruch hatte sie irgendwo mal gelesen. Das Sofa war jetzt das tote Pferd. Heike fühlte das abgewetzte Leder unter ihren Handflächen und stand auf. Sie streckte sich, ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Es war so still im Haus. Natürlich war es auch vorher still im Haus gewesen, doch jetzt war es eine andere Stille. Verstummte Erinnerungen und eine schweigende Zukunft. Heike presste die Lippen aufeinander. Sie musste sich jetzt auf ihre Reise konzentrieren, wenn sie nicht zusammenbrechen wollte.
Schnell fokussierte sie ihre Gedanken auf die Dinge, die noch zu erledigen waren. Wasser! Sie musste noch Möppis Wassertanks auffüllen! Die Behälter der Küche und des Bades konnte sie herausnehmen, das hatte Gabi ihr gezeigt. Nur wie, um Himmels willen, bekam sie das Wasser in die Toilette? Die konnte sie ja schlecht ausbauen und … Bei dem Gedanken daran, das Klo durch den Vorgarten zu tragen, musste sie selbst lachen. Sie überlegte kurz. Mit einer Gießkanne würde sie bestimmt Wasser in den Einfüllstutzen neben dem Deckel bekommen. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging zur Terrassentür. Am Ende des Grundstücks war ein Holzhäuschen, in dem die Gartenutensilien verstaut waren. Das Gras war noch taunass, und es war frisch, als Heike sich in ihrem Schlafanzug auf den kurzen Weg machte. Schnell war die Gießkanne gefunden. Ihr fiel ein kleiner Sonnenschirm ins Auge, den man mit einer Hülse in den Boden stecken konnte und der früher über Finns Sandkiste aufgebaut gewesen war. Diesen griff sie sich auch noch.
Zurück im Haus, hinterließen ihre Pantoffeln feuchte Abdrücke auf den Fliesen. Sie widerstand dem Drang, sie fortzuwischen. Ihren hausfraulichen Ordnungswahn verbannte sie auf später. »Du bleibst mal schön hier«, sagte sie leise, aber bestimmt, als sie nun die Gießkanne auf die Spüle stellte.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie nach draußen zu Möppi und baute die Wassertanks aus. In der Siedlung um sie herum war es noch still. Hier und da wurden Rollläden hochgezogen, das Auto der Schneiders von schräg gegenüber stand nicht vor der Garage, David war sicher arbeiten, er war bei der Berufsfeuerwehr. Es war nett hier gewesen, aber über all die Jahre waren keine tieferen Freundschaften entstanden, wie Heike jetzt feststellte. Zumindest gab es niemanden in der weiteren Nachbarschaft, dem sie hätte mitteilen wollen, dass sie einige Zeit nicht zu Hause wäre. Und schon gar nicht, warum.
Wahrscheinlich fiel ihre Abwesenheit nicht mal sonderlich auf. Möppi war auch keinem aufgefallen. Außer Doris, die am Abend noch mehrmals bei ihren alibimäßigen Mülltonnen gewesen war und den Hals neugierig gereckt hatte.
Die vollen Wasserbehälter waren recht schwer, und Heike kam das erste Mal an diesem Tag ins Schwitzen, als sie diese zurück zum Wohnmobil schleppte. Danach befüllte sie die Gießkanne mit Wasser und kletterte damit in Möppis Inneres. Sie kippte die ganze Kanne in den Einfüllstutzen der Toilette. Noch war das Wasser im Kasten aber nicht zu sehen. Also wiederholte sie die Prozedur, bis es die obere Kante erreicht hatte.
»Soll wohl reichen, oder?« Heike öffnete ratlos den Toilettendeckel, der Abfluss war verschlossen. Musste man das irgendwie öffnen? Sie drückte vorsichtig auf die Spülung. Wasser floss wie gewohnt in die Schüssel, und der Abfluss öffnete sich nach unten hin und schloss sich dann wieder. »Aha!« Zufrieden klappte sie den Toilettendeckel herunter. Im Gang des Wohnmobils blieb sie stehen und sah sich um. Hatte sie noch etwas vergessen, außer der Kaffeemaschine, die sie vorhin noch benutzt hatte?
Möppi machte einen gut bestückten Eindruck. Gabi hatte für alles gesorgt, was man in einem Haushalt so brauchte. Sogar einen Handstaubsauger hatte Heike gesehen.
Zufrieden ging Heike zurück zum Haus. Sie spürte, dass es nicht nur ein Abschied auf Zeit sein würde, nein – es war schon ein Abschied für immer, ein Abschied von der alten Zeit. Sie unterdrückte das Brennen in ihrem Hals, als sie sich die Kaffeemaschine schnappte. In die andere Hand nahm sie den Korb, in den sie die letzten wichtigen Dinge gepackt hatte, wie den Laptop, ohne den sie lieber doch nicht reisen wollte, und verließ das Haus wieder.
Minuten später saß sie hinter Möppis Lenkrad. Es war gerade acht Uhr vorbei. »Dann mal los.« Sie drehte den Zündschlüssel, und der Motor startete. Aus dem Radio erklang leise Klassikmusik. Das war ihr am Vortag bei der aufregenden ersten Fahrt gar nicht aufgefallen. »Och nö, Gabi.« Heike drehte am Sendersuchknopf und stellte einen mit leichterer Musik ein. Zufrieden nickte sie. Dann löste sie die Handbremse und trat zaghaft auf das Gaspedal. Möppi bewegte sich artig vorwärts. Ohne einen Blick zurück zum Haus zu werfen, lenkte sie das Wohnmobil aus der Siedlung und in Richtung der nächsten Ausfallstraße.
Heute saß sie schon viel entspannter auf dem mit einem Schaffellschoner bezogenen Fahrersitz. Dieser schwang leicht hoch und runter, wenn die Reifen eine Unebenheit durchfuhren, und Heike fühlte sich eher, als würde sie ein Schiff steuern als ein Wohnmobil.
Es war nicht viel Verkehr auf der Straße, und nach einigen Kilometern löste sich ihr verkrampfter Griff am Lenkrad. Zufrieden rutschte sie auf dem bequemen Sitz etwas hin und her, um sich zu entspannen, lehnte sich zurück und steuerte das Fahrzeug lässig mit einer Hand. Möppi wirkte nun nicht mehr so groß und ungelenk wie noch tags zuvor. Heike fühlte sich mit einem Mal stärker und selbstbewusst. Leise schlich sich dieses berühmte Gefühl von Freiheit ein, von dem so viele Camper schwärmten. Und das, wo sie die Stadtgrenze von Hamburg gerade mal vor zehn Minuten passiert hatte. Sie musste über sich selbst schmunzeln.
Gut dreißig Kilometer hinter Hamburg setzte leichter Nieselregen ein. Möppis Scheibenwischer quietschten über die große Windschutzscheibe. Heike konzentrierte sich aufs Fahren, ihr Kopf war angenehm leer, ihre Gedanken einzig bei dem Wohnmobil und dem Vorankommen auf der Straße.
Um neun, als sie um die sechzig Kilometer hinter sich gebracht hatte, meldete sich ihr Magen mit einem lauten Knurren. Heike steuerte eine große Tankstelle an. Kurz überfiel sie der Stress. Es war eng und voll hier, riesige Lkws standen herum, die Fahrer machten wohl Pause hier, bis das Sonntagfahrverbot endete. Vor den Tanksäulen hatten sich Schlangen gebildet. Mit Schaudern dachte sie daran, dass Möppi sicher auch mal Durst haben würde. Hoffentlich schaffte sie es dann, ihn an die Tanksäule zu lenken, ohne irgendwo anzuecken.
Im Schneckentempo bugsierte sie das Wohnmobil an den Hindernissen vorbei und stellte es auf eine Parkfläche seitlich des Tankstellen-Shops. Geschafft!
Wenig später saß sie hinten in ihrem »Wohnzimmer« und aß ein belegtes Brötchen, das sie sich im Shop geholt hatte. Ihr erstes Frühstück mit Möppi! Draußen nieselte es noch, einzelne Tropfen rannen an der Scheibe hinunter. Heike beobachtete einige Autos, die angefahren kamen, tankten und kurze Zeit später wieder davonbrausten. Hoffentlich würde das Wetter nicht die ganze Zeit so schlecht sein, denn wenn sie jeden Tag im Wohnmobil sitzen müsste, würde sie um trübe Gedanken wohl nicht herumkommen. Sie knüllte die Serviette zusammen, die der Verkäufer um das Brötchen gelegt hatte, und schon fiel ihr auf, was sie vergessen hatte: Müllbeutel. Ob es welche in der Tankstelle gab? In Anbetracht der Feuchte draußen beschloss sie, sich später darum zu kümmern. Und so kletterte sie trockenen Fußes durch den schmalen Einstieg zum Fahrersitz und startete erneut. Doch irgendwie praktisch, so ein Wohnmobil!
Bald fuhr Heike durch ländliche Gegenden. Kühe standen an Weidezäunen und dösten vor sich hin, hier und da tuckerte ein Trecker vor ihr her, einen überholte sie sogar ganz mutig. Die Zeit verging wie im Flug, und gegen Mittag sah sie schon das erste Hinweisschild auf den Ort, in dessen Nähe ihr erstes Ziel lag.
Sie hatte das alte Navigationsgerät, mit dem Möppi ausgestattet war, eingeschaltet, und eine rudimentäre Karte mit einem großen blauen Pfeil wies ihr den Weg. Eine blecherne Frauenstimme gab ihr ab und an Anweisungen.
Plötzlich sagte diese: »Sie haben Ihr Ziel erreicht, Ihr Ziel liegt links.« Heike war auf einer recht schmalen Nebenstraße unterwegs. Links von ihr war aber nichts außer einem Acker. Sie fuhr langsam weiter und besah angestrengt die Umgebung. Am Rand eines Wäldchens stand ein verwittertes Schild, auf dem das Campingplatzsymbol prangte. Es wies nach links auf einen Feldweg. Heike hielt mitten auf der Straße an. »Na toll – da soll ich rein?« Sie blickte sich um. Das war in der Tat der einzige Weg. Dass Camping etwas Wildromantisches war, hatte sie ja geahnt … aber dass ihr erster Versuch regelrecht in der Wildnis endete, hatte sie so nicht geplant.
Sie lenkte Möppi in die schmale Einfahrt und hoffte, dass die niedrigen Bäume mit ihren tief hängenden Ästen ihm keine Kratzer verpassten. Das Wohnmobil schuckelte und schaukelte jetzt wie ein Krabbenkutter bei gesundem Seegang. »Oohh!« Heike wurde etwas ängstlich zumute. Plötzlich war der Weg mit einer Schranke versperrt. Heike hielt an und starrte auf das Hindernis. »Na toll.«
Neben der Schranke verwies ein großes Holzschild auf den Campingplatz Vornholz. Darunter stand in verwitterten Lettern: Herzlich willkommen – Welcome – Bienvenue.
»Bienvenue.« Heike seufzte, stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, und hier und da riss die Wolkendecke auf. Sie äugte über die Schranke und ging dann an dieser vorbei. Ein Stück weiter am Weg stand ein Häuschen. Erleichtert stellte sie fest, dass es die Anmeldung war und diese sogar besetzt war. Ein älterer Herr mit weißem Rauschebart saß an einem Schreibtisch. Sie klopfte an der Tür und trat ein.
»Oh, hallo«, sagte der Mann. »Kann ich Ihnen helfen?« Er stand auf und reichte Heike die Hand.
»Äh, ja, guten Tag, ich … ich wollte fragen, ob bei Ihnen noch ein Platz frei ist.«
»Ja, ist noch was frei.« Der Mann nickte freundlich und lächelte. »Wohnwagen, Zelt oder Mobil?«
»Mobil, äh, Wohnmobil, es steht vor der Schranke.« Heike hatte keinen blassen Schimmer, wie die Aufnahmemodalitäten auf Campingplätzen abliefen. Das Ganze war ihr gerade etwas peinlich.
Der Mann nickte und schien Heikes Unsicherheit nicht zu bemerken. Vielleicht tat er auch nur so, aus Höflichkeit. »Wir haben noch einen Platz am See frei, möchten Sie den?«
Heike hob kurz die Hände. »Ja, hört sich gut an.«
»Brauchen Sie Strom, Wasser, Abwasser? Wie lange möchten Sie bei uns bleiben?«
»Oh, ich … Ich bleibe wahrscheinlich nur eine Nacht.« Hoffentlich war das jetzt kein Grund, sie abzuweisen. »Aber Strom, Strom wäre super.«
»In Ordnung.« Der Mann nahm einen Zettel und schrieb etwas darauf. »Ihr Name?«
»Berger, Heike.«
»Wie viele Personen?«
»Eine.«
»Gut, Stellplatz dreiundvierzig. Die Schranke können Sie hochschubsen und nach dem Durchfahren wieder schließen, sie hat nur nachts ein Schloss. Wenn Sie vor sieben abreisen möchten, müssten Sie uns das sagen.«
»Nein, kein Problem, ich habe es nicht eilig.«
»Dann können Sie auch bei der Abreise bezahlen, die Nacht kostet siebzehn Euro fünfzig, da ist die Strompauschale mit drin und eine kleine Müllgebühr. Duschen ist kostenlos. Dann fahren Sie mal rein, ich geleite Sie zu Ihrem Platz.«
Heike nickte mit einem Lächeln und ging zurück zu Möppi. Dabei stieß sie die Schranke hoch, die schwerer aussah, als sie war. Sie fuhr Möppi hindurch und stieg kurz aus, um die Schranke wieder zu schließen. Der nette Herr mit dem Bart stand schon auf dem Weg und winkte ihr zu. Im Schritttempo tuckerte Heike ihm hinterher. Der Campingplatz hatte schnurgerade, schmale Schotterwege, an denen links und rechts Parzellen lagen, auf denen vereinzelt Wohnwagen oder Wohnmobile abgestellt waren. Schließlich blieb der Mann stehen und deutete auf einen Platz vor sich. Auf einem kleinen Schild erspähte Heike die Dreiundvierzig. Sie kurbelte das Fenster herunter. »Danke schön.«
»Bitte schön. Der Stromanschluss ist links in der Ecke, am besten fahren Sie vorwärts rein. Schönen Aufenthalt. Auf der anderen Seite des Sees haben wir einen kleinen Kiosk, falls Sie noch etwas brauchen.«
»Ja, danke.«
Der Mann winkte und ließ Heike allein. Heike besah sich die Parzelle, sie schien breit genug, dass Möppi da ohne Probleme reinpasste. Zu ihrer Erleichterung befand sich gegenüber ein größeres Stück Rasenfläche; immerhin musste sie ja nicht nur hinein-, sondern auch wieder herausrangieren. Langsam ließ sie das Wohnmobil auf seinen Platz rollen, darauf bedacht, genug Abstand zu den Hecken zu halten. Als Möppi stand, ballte Heike die Hände zu Fäusten und machte eine siegreiche Geste, dann atmete sie erleichtert aus. Das war schon mal geschafft.
Sie ließ den Blick schweifen. Weiter vorne, hinter ein paar kleinen Büschen, die das Ende des Standplatzes markierten, lag ein sanft abfallender Uferbereich, teils sandig, teils mit Gras bewachsen. Dahinter erstreckte sich ein großer See. Heike entfuhr ein leises »Oh«, denn die Aussicht war wirklich schön. Die stand einem guten Ferienhaus in nichts nach. Statt andere Camper sah sie nur Wasser, einige große Weiden, die ihre Zweige fast bis in den See hängen ließen, und ein paar Enten, die gemächlich ihre Bahnen zogen. Das war – schön! Konnte sie nicht anders sagen. Zufrieden reckte sie sich.
»Dann mal auf einen schönen ersten Urlaubstag.« Sie spürte, dass ihre Blase sich meldete. Nein, sie würde das Duschklo heute noch nicht einweihen, wenn es auch anders ging. Sie stieg aus, reckte sich noch einmal und trat auf den Schotterweg. Vorhin war sie an etwas vorbeigefahren, das ganz nach Sanitäranlagen aussah. Auf dem Weg dorthin kam ihr eine ältere Dame mit einem kleinen Hund an der Leine entgegen.
»Hallo«, sagte diese freundlich. Heike erwiderte den Gruß, lächelte und ging weiter. Das Waschhaus war nicht groß. Auf die rechte Tür war das Symbol für Männer aufgemalt, auf die linke das für Frauen. Der Raum, den Heike nun betrat, hatte etwas Schwimmbadartiges an sich. Es roch nach Desinfektionsmittel, und an der Decke strahlten helle Neonröhren. Vor ihr lagen einige blitzsaubere Toilettenabteile. Daneben befand sich ein Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Auf der ersten prangte das Zeichen für einen Wickelraum, auf der nächsten ein Bild mit mehreren Männchen und einem Duschsymbol. Heike öffnete vorsichtig die Tür, doch die Kabine war leer. Es schien eine Familiendusche zu sein für Mütter mit Kindern. Wie nett, dachte sie sich und trat zur nächsten Tür. Dahinter lag eine saubere Einzelduschkabine, wie auch hinter weiteren vier Türen. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich kleine Einzelbäder mit jeweils einem Waschbecken und einem Spiegel. Heike schürzte beeindruckt die Lippen. Das war bei Weitem komfortabler, als sie gedacht hatte, vor allem nach der etwas abenteuerlichen Zufahrt. Alles schien zwar älter zu sein, aber war sauber und gepflegt. Nachdem sie die Toilette benutzt hatte und auf dem Weg zu den Waschbecken war, hörte sie die Eingangstür klappern. Eine junge Frau hatte den Raum betreten und wusch sich die Hände.
»Hallo«, sagte auch diese freundlich. Heike antwortete lächelnd, nickte und verließ das Waschhaus. Freundlichkeit schien großgeschrieben zu werden unter Campern, dachte sie und machte sich gut gelaunt auf den Weg zurück zu Möppi.
Als Erstes suchte sie das Stromkabel mit den dicken blauen Enden und schaffte es auch gleich beim ersten Versuch, Möppi anzuschließen. Im Wohnmobil selbst legte sie, wie Gabi es ihr erklärt hatte, einen Schalter auf »Extern« um. Kurz schaltete sie die Lampe am Tisch an. Es brannte Licht – der Anschluss funktionierte. Heike nickte zufrieden. Dann holte sie den Laptop aus dem Korb und setzte sich damit an den Tisch. Kurz sah sie durch die Frontscheibe auf den See hinaus. Wenn all ihre Ziele so idyllisch werden würden … Sie seufzte wohlig. Bevor sie sich die Zeit vertrieb, wollte sie ihre Route wenigstens grob vorplanen. Abends irgendwo am Straßenrand zu stehen erschien ihr wenig reizvoll. Sie überlegte, wie weit sie am nächsten Tag würde fahren wollen. Ein paar Kilometer mehr als heute durften es schon sein. Allerdings wollte sie auch nicht zu schnell nach Habo kommen. Sie blickte auf die Karte. Da sie sich noch nicht traute, mit Möppi auf einer Fähre überzusetzen, musste sie an dem dänischen Ort Kolding vorbei, dort über die Brücke fahren und würde so auf die Insel Fünen gelangen. Das wären nur knapp zweieinhalb Stunden, wenn sie sich nicht sonderlich beeilte. Sie könnte ganz in Ruhe vormittags starten, irgendwo eine Pause machen und wäre dann am frühen Nachmittag schon am östlichen Ende von Fünen bei Nyborg. Sie zoomte auf den Kartenausschnitt und gab erneut das Wort Campingplatz in die Suche ein. Es gab einige Treffer direkt an der Küste. Sie klickte auf den Link zu der Webseite eines Platzes, der nicht ganz so weit abseits der Straße lag, auf der sie unterwegs sein würde. Auch dort sah alles sehr idyllisch aus. Vor allem der Strand ließ ihr Herz einen kleinen Hopser machen. Neugierig klickte sie auf die Seite mit der Preisliste des Campingplatzes und sog erschrocken die Luft ein. Doch dann wurde ihr klar, dass die Angaben in Dänischen Kronen waren. Sie musste ja noch Geld wechseln! Auch schwedische Kronen sollte sie sich besorgen.
»Verdammt.« Sie fuhr sich über die Stirn. Das war auch so etwas gewesen, das Jochen auf der Fahrt zu Jenny erledigt hatte. Trotzig rief sie die Suchmaschine erneut auf. Es würde wohl nichts geben, das Jochen bisher getan hatte und das ihr das Internet nicht verraten konnte. Sie gelangte auch sofort auf eine Seite von einer Camperin, wo alles Wissenswerte erklärt wurde und sich auch verschiedene Umrechnungstabellen befanden. Heike überschlug grob die Kosten für den Campingplatz und ein wenig Essen. Hundert Euro würden locker reichen, die restlichen Dänischen Kronen könnte sie auf der Rückfahrt ausgeben.
Neugierig scrollte sie noch etwas auf der Internetseite herum, die den Namen Micky-Van trug und von einer jungen Frau gestaltet war, wie Heike las. Michaela alias Micky reiste auch mit einem Wohnmobil umher und berichtete darüber auf diesem Blog. Von solchen Blogs hatte ihr Jenny erzählt, als sie Informationen für ihre Auswanderung nach Schweden gesammelt hatte. Heike war kein Internetspezialist, aber jetzt las sie begeistert weiter. Micky reiste mit einem alten blauen Transporter, den sie selbst zum Wohnmobil umgebaut hatte. Heike bestaunte die Bilder, der Wagen sah sehr gemütlich aus. Die junge Frau berichtete mit vielen Fotos von ihren Touren durch Schweden und Norwegen. Bis hinauf zum Nordkap und sogar Finnland war sie gewesen. Bei einem Bild, auf dem der blaue Transporter tief eingeschneit irgendwo mitten in der Wildnis zu stehen schien, schauderte es Heike allerdings. So viel Abenteuer brauchte sie dann doch nicht. Sie bemerkte gar nicht, wie die Zeit verstrich, während sie in Mickys Abenteuern versunken da saß. Als sie irgendwann den Kopf hob, war draußen schon alles in warmes rotes Abendlicht getaucht.
Heike besuchte noch mal das Waschhaus, nicht ohne wieder diversen freundlichen Mitcampern zu begegnen, und schmierte sich zum Abendessen ein Brot. Campingplätze waren auf jeden Fall geselliger als ihre eigene Wohnsiedlung zu Hause. Dort grüßte man sich nur, wenn man sich auch kannte. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, einem fremden Menschen auf der Straße ein nettes »Hallo« zu sagen. Sollte man vielleicht mal einführen, sinnierte Heike, während sie ihr Abendessen auf den Tisch stellte. Man fühlte sich gleich gut aufgehoben und vor allem nicht einsam. Zufrieden kauend beobachtete sie kurz darauf, wie die Sonne hinter dem See und den hohen Weiden unterging. Dann nahm sie ihr Telefon und schickte Gabi eine Nachricht. »Hat alles gut geklappt! Steh auf einem schönen Platz. Bin jetzt aber auch müde. LG Heike.«
Wenig später kam eine Antwort. »Prima, freu mich! Dann schlaf mal gut!«
Heike musste lächeln und sagte leise: »Ja, mach ich.«