Kapitel 6

Auf dem Rückweg von Gabi fuhr Heike kurz bei ihrem Arbeitgeber vorbei. Der Autohandel Behrs war vor zwei Jahren vom Junior übernommen worden, und dieser hatte eine recht unterkühlte Art gegenüber den drei Frauen, die seinen Papierkram erledigten. Heike wollte eigentlich nur um weiteren Urlaub oder eine kleine Auszeit bitten. In ihrem derzeitigen Zustand konnte sie sich einfach nicht auf Rechnungen konzentrieren. Doch als sie jetzt im Büro des Autohandels stand, ein kühler, liebloser Raum mit einigen ausgedienten Schreibtischen, und den gewohnt frostigen Gesichtsausdruck ihres Chefs sah, rutschte ihr spontan ein »Herr Behrs, ich werde kündigen« heraus. Ihr Herz machte einen nervösen Hopser, und sie erschrak selbst über ihre Worte.

Christoph Behrs hob nur kurz die Augenbrauen und sagte nur: »Das tut uns natürlich schrecklich leid zu hören, Frau Berger.« Es folgte etwas klischeehaftes Geschwafel und dann auch schon eine schnelle Verabschiedung, er hatte noch einen Kunden.

Kaum stand sie wieder auf der Straße, fuhr sich Heike mit der Hand über die Stirn. Was hatte sie da gerade getan? Die Worte waren ihr einfach so herausgerutscht, irgendetwas in ihr hatte sie förmlich angeschubst … Dabei hatte sie doch gar nicht kündigen wollen.

Im nächsten Moment wurde Heike bewusst, dass sie ab sofort kein eigenes Geld mehr verdienen würde, und ihr wurde leicht schwindlig. Wer wusste schon, inwieweit Jochen sie noch mitversorgen würde? Panik stieg in ihr auf. War sie denn jetzt von allen guten Geistern verlassen? Kurz war sie geneigt, Herrn Behrs abzufangen, doch dann hielt sie inne. Er hatte nicht so gewirkt, als legte er Wert auf ihre Arbeit. Wertschätzung sah anders aus. Sollte sie tatsächlich versuchen, ihre Kündigung rückgängig zu machen? Er würde sie bestimmt für verrückt halten. Nachdenklich ging sie zu ihrem Auto und setzte sich hinter das Steuer, um nachzudenken.

Wirklich falsch fühlte sich ihre Entscheidung eigentlich nicht an. Im Grunde war sie dort doch nur hingegangen, um eine Aufgabe zu haben. Zudem hatte sie noch ein kleines Polster auf ihrem Sparbuch. Selbst wenn Jochen sie hängen ließe, käme sie einige Zeit gut aus und würde ja auch einen Anteil am Haus bekommen. Und überhaupt, im Fernsehen sah man doch andauernd Frauen, die geschieden wurden und dann erfolgreich und glücklich in ein neues Leben starteten.

Sie straffte sich. Jochen würde sie gewiss nicht ohne Geld sitzen lassen. Schließlich hatte sie all die Jahre nicht untätig zu Hause rumgesessen, sondern sich um die Kinder gekümmert, über zwei Jahrzehnte seine Socken gewaschen und seinen Magen gefüllt. Ganz untätig war sie also nicht gewesen, und er hatte es ja auch so gewollt. Und was ihr neues Leben anging, sie wusste nicht wie, was und wo – aber es würde weitergehen, es ging ja immer irgendwie weiter. Auch ohne Jochen und ohne den Job bei Behrs.

Als Heike nach Hause kam und den Wagen unter dem Carport parkte, bemerkte sie Doris. Wie zufällig trat ihre Nachbarin mit einer nicht mal halb vollen Mülltüte aus dem Haus, zupfte kurz an einer Blühpflanze, die in einem Kübel neben der Tür stand, und ging dann zu den Mülltonnen direkt am Zaun zu der Einfahrt von Jochen und Heikes Haus.

In den letzten vier Wochen hatte Heike jeglichen Kontakt mit Doris vermieden. Als sie jetzt aus ihrem Wagen stieg, wappnete sie sich bereits innerlich.

»Hallo, Heike. Wie geht’s dir denn so?«, erklang es schon, kaum dass Heike die Fahrertür zugeschlagen hatte.

Heike bemühte sich um einen beifälligen Ton. »Hallo, Doris. Alles gut – und bei euch so?« Aber ihre Nachbarin gab nicht so schnell auf.

»Na, man sieht euch ja kaum noch. Und vorletzten Donnerstag, wo hast du denn da gesteckt? Wir haben dich vermisst.«

Heike hatte den monatlichen Skatabend einfach ausfallen lassen. Sie hatte wenig Lust gehabt, sich den stets neugierigen Fragen der Nachbarn zu stellen. Früher oder später würden sie es ja doch erfahren, aber noch hatte Heike nicht den Mut, ihre Trennung laut hinauszuposaunen.

»Oh, ja, tut mir leid«, antwortete sie geistesgegenwärtig. »Jochen hatte so furchtbar viel zu tun und kam erst spät nach Hause.«

»Der ist ganz schön viel unterwegs momentan.« Doris stand immer noch an ihren Mülltonnen. »Habt ihr entrümpelt? Neulich stand da ein Transporter vor eurem Haus.«

Innerlich verzog Heike das Gesicht. Es war klar, dass hier in der Nachbarschaft nichts verborgen blieb. »Ja, weißt du … Jochen muss einige Zeit nach Mallorca. Der Kollege dort … ist krank geworden.«

»Ach, wie nett. Also für Jochen. Fährst du mit?«

Heike winkte ab. »Nein, nein. Das ist nichts für mich da. Aber …«, in ihrem Kopf ratterte es, »aber es könnte sein, dass ich zu Jenny, Felix und Finn fahre.«

»Auch schön.« Doris lächelte wohlwollend. »Ihr habt euch ja auch schon wieder so lange nicht gesehen. Sollen Ralf und ich das Haus hüten? Wie lange willst du denn wegfahren?« Sie warf endlich die Mülltüte in die Tonne und trat an den Zaun. »Du weißt ja, dass wir das gerne machen – du gießt schließlich auch immer unsere Blumen, wenn wir nicht da sind.«

»Ich … ich weiß noch gar nicht so genau, wann ich fahre.« Jetzt zuckte Heike etwas hilflos mit den Schultern. »Aber das wäre ganz lieb von euch.«

»Kein Ding. Kannst du dich drauf verlassen. Dann sag einfach Bescheid und bring uns den Schlüssel. Wenn es wieder so trocken wird, gucken wir auch gerne nach dem Garten.«

»Danke, das wäre nett.« Heike spürte plötzlich, wie fremd Haus und Garten ihr mit einem Mal waren. »Ich … ich muss dann mal«, sie deutete etwas unbeholfen auf die Haustür. »Ich gebe euch Bescheid.« Schnell ging sie in Richtung Haus und verschwand darin. Im Flur lehnte sie sich mit dem Rücken an die Haustür und atmete einmal tief ein und aus. Wie sollte sie Doris und Ralf nur erklären, dass sie bald wohl andere Nachbarn bekommen würden? Das Ende ihrer Ehe fühlte sich plötzlich nicht nur schmerzhaft an, es hatte auch noch den bitteren Beigeschmack des Scheiterns an sich. Sie hatte es einfach nicht geschafft, ihre Familie zusammenzuhalten. Bevor sie sich in das Gefühl des Versagens hineinsteigern konnte, hörte sie plötzlich Gabis Stimme im Kopf: Das ist jetzt nicht allein deine Schuld, Heike! Trotzdem fühlte es sich so an. Heike schniefte und wischte sich mit einer Hand über die Augen. Dann gab sie sich einen Ruck. Nein! Es war wirklich nicht nur ihre Schuld.

Sie wanderte durch die Küche in das Wohnzimmer. Dort stellte sie sich an die Terrassentür und sah nach draußen. Der Garten war nicht sehr groß und zu den Nachbarn hin mit einer hohen Hecke eingefasst. Neben dem Kirschbaum, den sie gepflanzt hatten, damals, bevor der Rasen eingesät war, standen noch ein paar Büsche in den Beeten. Wenig anspruchsvoll alles, dafür pflegeleicht und praktisch. Zur Fertigstellung des Hauses war Heike hochschwanger mit Jenny gewesen. Ihre Tochter war kurz nach dem Einzug geboren. Das war 1991 gewesen, wie die Zeit doch rannte. Es war die perfekte Familienidylle gewesen – eine Neubausiedlung in der Vorstadt. Zwei Jahre später war Kai geboren worden. Die Kinder hatten in der Siedlung immer genug Spielkameraden gehabt, alle waren in denselben Kindergarten und später auf die nahe gelegenen Schulen gegangen. Als Eltern war man sich zwar oft über den Weg gelaufen, doch wirklich enge Freundschaften waren daraus nicht entstanden. Die Kinder hatten allerdings oft zusammen gespielt und später gemeinsam Sport getrieben. Heike hatte den Nachmittagen mit Kai in der Handballhalle nicht viel abgewinnen können. Jenny hingegen hatte einige Jahre voltigiert. Ein nahe gelegener Reitverein hatte damals das Turnen auf dem Pferd angeboten, und Jenny war Feuer und Flamme gewesen, weil einige ihrer Freundinnen dort auch mitgemacht hatten. Heike war mehr als einmal das Herz in die Hose gerutscht, wenn die Mädchen auf dem Pferderücken balancierten und kleine Kunststücke geübt hatten.

Im Grunde hatten sie ihren Kindern fast alle Wünsche erfüllt. Wobei Heikes Part das Herumkutschieren gewesen war, während Jochen sich eher auf das Bezahlen und darauf beschränkt hatte, seine Kinder an den Wochenenden ausgiebig zu loben, wenn diese ihm von ihren Erfolgen erzählt hatten, oder aber zu trösten, wenn etwas schiefgelaufen war. Jenny und Kai waren tolle Kinder gewesen, brav und fleißig, beide mit einem guten Abi und den besten Voraussetzungen für ihr späteres Leben. Und dann zerbrach so mir nichts, dir nichts die Ehe ihrer Eltern.

Heike umschlang ihren Oberkörper mit den Armen. Wahrscheinlich erfüllten Jochen und sie damit nur ein weiteres Klischee. Bei den Eltern von Jennys und Kais Freunden hatte es auch so einige Scheidungen gegeben. Heike hatte nur nie daran gedacht, dass es sie auch einmal treffen könnte. Im Gegenteil. Jochen hatte sich früher sogar öfter über solche Paare aufgeregt und sich gefragt, wie sie das den Kindern wohl antun könnten. Aber wenn die Kinder keine Kinder mehr waren, lagen die Dinge wohl anders.

Heike spürte, wie eine Welle des Frusts über sie hinwegspülte. Gabi hatte recht, sie musste sich langsam etwas einfallen lassen. Sie drehte sich von der Terrassentür weg und ließ den Blick durch den Raum wandern. Die Stille im Haus war fast unerträglich, sie lauerte wie ein böser schwarzer Schatten hinter den Sofas, unter dem Esszimmertisch und hinter der Tür zum Flur. Heike hatte diesen Schatten die letzten Jahre über gekonnt ignoriert, waren die lauten und bunten Erinnerungen an vergangene Zeiten doch auch noch präsent gewesen. Diese verblassten jetzt allerdings, und der schwarze Nebel der Stille schien über den Fußboden zu wabern und endgültig Besitz von dem Haus ergreifen zu wollen. Heike fühlte sich plötzlich unwohl, ihr Körper regierte mit einem leichten Zittern. Nein, sie würde hier nicht alleine bleiben. Am liebsten wollte sie keine Sekunde länger in diesen Wänden ausharren. Sie ging mit eiligen Schritten in die Küche und suchte nach ihrem Handy. Rasch rief sie die Landkarte auf und tippte Habo ein. So hieß der Ort in Schweden, wo Jenny und Felix wohnten. Blitzschnell errechnete das Telefon die Route. Heike zog die Stirn in Falten. Es waren gut siebenhundert Kilometer. Die einfache Fahrt würde acht Stunden dauern. Bei ihren Besuchen bei Jenny und Felix war Jochen immer gefahren.

Ein kurzer Anfall von Hilflosigkeit, so ohne Jochen, überfiel sie. Sie versuchte, das Gefühl zu verdrängen. Im Grunde konnte sie das Ganze auch mal positiv betrachten. Sie war auf sich allein gestellt, und das hieß, sie konnte tun und lassen, was sie wollte, und brauchte niemanden mehr fragen. Bei diesen Gedanken straffte sie sich unwillkürlich. Blieb jetzt nur die Frage: Auto oder Möppi? Heike lehnte sich, das Handy mit der Route drauf immer noch in der Hand, an die Arbeitsplatte der Küche. Die eine Route ging von Hamburg Richtung Fehmarn, weiter durch Dänemark, von Kopenhagen dann nach Malmö und anschließend quer durch das schwedische Inland bis nach Habo, das an einem riesengroßen See, dem Vättern, lag. Die zweite Fahrtmöglichkeit ging über Flensburg, Dänemark, Kopenhagen und dann ebenso durch Schweden. Eigentlich viel zu schade, die Strecke mit dem Auto am Stück abzufahren, durchfuhr es Heike, und sie dachte unwillkürlich an das gemütliche Wohnmobil von Gabi. Auch wenn die ganze Technik drum herum ihr Angst einflößte, war es wirklich ein fahrendes Nest, ein Zuhause. Zwar Gabis Zuhause – aber Heike fühlte sich bei Gabi immer wohl. Die augenscheinliche Nähe zu ihrer Freundin, die Möppi unwillkürlich hervorrufen würde, tröstete Heike jetzt schon.

Ihr Herz machte einen kleinen Hopser. Heike sah verwundert auf. Hatte ihr Herz ihr gerade gesagt, was sie tun sollte? Nicht der Kopf? Ihr Kopf sagte gar nichts. Ihr Herz schien aber freudig zu tanzen und zu rufen: »Ja! Mach es doch einfach.« Heike musste kichern. Das letzte Mal, als sie so deutlich wahrgenommen hatte, dass etwas richtig schien, war vor ihrem Umzug nach Hamburg gewesen. Das hatte sie sich auch von ganzem Herzen gewünscht. Die Aussicht, möglichst schnell aus diesem Haus zu kommen, einfach wegzufahren, das Meer zu sehen und dann Jenny und Finn, das ließ den traurigen Anlass der Reise fast verblassen. Heike holte tief Luft, plötzlich fühlte sie sich gut. Die Fähigkeit, Entscheidungen für sich alleine zu treffen, schien wieder in ihr zu erwachen.

An der Haustür klimperte ein Schlüssel. Jochen! Er würde heute seine letzte Nacht hier verbringen. Hastig ließ Heike das Handy in ihrer Hosentasche verschwinden.

»Oh. Hi.« Er streckte den Kopf zur Küchentür herein. »Alles klar?«

»Ja, alles gut.« Heike konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen.

»Aha.« Jochen sah mit einem Mal etwas verwundert aus.

In den letzten Wochen war Heike ihm möglichst aus dem Weg gegangen, was nicht schwer gewesen war, da er meist spät und dann nur zum Übernachten das Haus betreten hatte. Heike klatschte leise in die Hände und rieb diese aneinander.

»Ja, also, ich werde dann zu Jenny fahren in den nächsten Tagen.«

»Nach Schweden?«

»Ja, natürlich.«

»Allein?«

»Ja, allein, Jochen, du kannst ja nicht mitkommen.«

Er verzog kurz das Gesicht. »Find ich gut … ich meine, dass du … Sie wird es schon verstehen.«

»Sie wird es verstehen müssen, ja. Und du – hast du schon alles gepackt?«

»Ähm ja, ich muss morgen früh nur noch meine Reisetasche ins Auto packen … und dann kann es losgehen.«

»Gut. Meldest du dich bei mir, wenn du da unten angekommen bist?« Heike biss sich auf die Lippen, diesen gewohnheitsmäßigen Satz hatte sie sich nicht verkneifen können.

Ein Lächeln huschte über Jochens Mundwinkel. »Ja, natürlich. Und wenn du … also, wenn du bei Jenny bist, gibst du mir auch Bescheid?«

»Klar, mach ich.« Heike horchte in sich hinein. Es war wie bei Freunden, wie immer. Kein Stich im Herzen, kein Abschiedsschmerz – dann war es richtig so.

Als sie später auf ihrem Sofa lag, nahm sie noch einmal das Telefon zur Hand. Kurz überlegte sie, ob sie Jenny schon eine Nachricht schreiben sollte. Doch nein, das hatte Zeit. Sie würde sowieso einige Tage länger unterwegs sein und war ja mehr als flexibel. Stattdessen schrieb sie an Gabi.

Ich mache es! Melde mich morgen!

Wenige Sekunden später zeigte ihr Telefon an, dass Gabi die Nachricht gelesen hatte.

Richtig so!, kam es zurück – mit einem Küsschen-Smiley. Heike lächelte gedankenverloren. Dann legte sie das Telefon weg und kuschelte sich unter ihre Decke. Morgen würde also ihr neues Leben beginnen. Eine kribbelige Vorfreude durchfuhr sie.