Von Avignon nach Perpignan und Collioure
Auf dem Weg von Avignon in Richtung Perpignan beschlossen sie, über Land zu fahren. Sie hofften, so noch ein wenig von der Camargue zu sehen.
Camargue, das waren für Heike weiße Pferde, die durch seichte Salzwasserfelder galoppierten, und große Herden schwarzer Rinder. Nachdem sie allerdings einige Kilometer am Rand des Naturparks entlanggefahren waren, musste sie trocken zugeben: »Sieht hier ein bisschen so aus, als wäre es das französische Holland: flach, Wiesen, Schilf.«
Anja lachte. »Ja, da hast du leider recht, irgendwie gibt es hier ziemlich viel Nichts.«
Dafür entschädigte Montpellier die beiden mit echtem Urlaubsfeeling. Schicke französische Jugendstilbauten mit schmalen, verschnörkelten Balkongeländern säumten die Straßen, hier und da standen Palmen, und die dichte Bebauung wurde immer wieder von kleinen Parks unterbrochen, in denen Menschen in Cafés saßen. Die ganze Stadt hatte etwas Mondänes an sich und strahlte zugleich Ruhe aus. Man spürte die Nähe zum Mittelmeer.
Heike hatte inzwischen beschlossen, dass sie nicht hetzen mussten. Den einen oder anderen Zwischenstopp konnten sie sich gönnen, und so parkte sie Möppi am Mittag auf einem großen Parkplatz unweit des Stadtzentrums. In einem der Cafés verputzte jede von ihnen einen riesigen Eisbecher. Dabei beobachteten sie die Menschen auf den Straßen, kicherten und lachten und vergaßen einen Augenblick lang, warum sie eigentlich auf dieser Reise waren.
Danach ging es weiter in Richtung Perpignan. Sie nahmen Straßen, die zwischen Lagunen und der Küste entlangführten. Dort wechselten kleine Ansiedlungen mit Feldern ab, durchbrochen von urigen Pinienwäldern und großen Plantagen, auf denen die Bäume in schnurgeraden Linien standen. Hier und da sahen sie pompöse Villen nahe der Küste, dann wieder Campingplätze. Diese waren wesentlich größer als alle, die Heike bisher angefahren hatte. Auf einigen sah sie sogar riesige Wasserrutschen in den Himmel ragen, es waren wohl richtige Ferienanlagen. Sie fuhren durch urtümliche, verschlafene Dörfer, wo ältere Herren auf Klappstühlen vor den Häusern saßen und den Tag vorbeiziehen ließen. Und sie kamen durch größere Orte, wo man vom Tourismus lebte und wo sich unzählige kleine bunte Läden aneinanderdrängten. Kaum hatten sie eine der Ortschaften hinter sich gelassen, erstreckten sich auch schon wieder Felder und Pinienwälder entlang der Straße, um dann aufs Neue von Ferienanlagen und hohen Hotelbauten abgelöst zu werden.
Sie folgten dem Küstenverlauf, und zu ihrer Linken sahen sie das Wasser der Lagunen glitzern, breite Strände und die Schaumkronen des Mittelmeers.
Je näher sie Perpignan kamen, desto öfter erhaschten sie einen Blick auf imposante Berge in der Ferne.
Kurz bevor sie die Küstenstraße verlassen mussten, hielt Heike auf einem Parkplatz, um sich bei Kai zu melden. Dieser schickte ihr sogleich die Adresse, zu der sie kommen sollte. Diese lag allerdings nicht in Perpignan, sondern ein Stück Richtung Süden in einem Ort namens Collioure. Also blieben sie in der Nähe der Küste und fuhren weiter.
Überraschenderweise änderte sich die Landschaft jetzt gänzlich. Sie wurde richtig bergig, und die Straße wand sich immer höher über die Küste, die zudem felsiger und steiler wurde. Nur noch hier und da gab es kleine Buchten mit weißen Stränden.
Sie waren gerade an den ersten Häusern des Ortes vorbeigefahren, als die Navigation beschied, sie sollten nach links abbiegen.
»Links? Da geht’s ins Meer?« Anja beugte sich vor und versuchte zu erkennen, ob der Schotterweg, in den der Pfeil wies, überhaupt befahrbar war. »Nicht, dass wir gleich im Wasser stehen, wie an der Mosel.«
Heike lenkte Möppi, der angesichts des warmen Wetters und der plötzlichen Steigungen zunehmend zu schnaufen schien, langsam auf den Weg. Möppi holperte artig die recht steile Abfahrt hinunter.
Heike klammerte sich am Lenkrad fest. »Wenn das hier falsch ist, kommen wir hier nie wieder weg.«
Am Ende des Weges befand sich zu ihrer Erleichterung ein größerer geschotterter Platz auf einem Felsplateau. Hinter einem blauen Tor ragten das rote Ziegeldach und die oberste Etage eines gelben Hauses hervor, das wie ein Schwalbennest am Felsen klebte. Nicht weit von ihnen tat sich schon der Abgrund hinunter zum Meer auf.
Heike hielt an und löste die Hände vom Lenkrad. »Puh, das war jetzt aber noch mal ein Ritt.«
»Da kommt jemand.« Anja deutete zu dem blauen Tor.
»Kai! Das ist Kai, mein Sohn!« Im Nu war Heike aus dem Wohnmobil geklettert und lief ihm entgegen.
»Hey, Mama!« Er breitete die Arme aus.
Heike umarmte ihren Sohn und war so von Stolz erfüllt, wie groß und kräftig er war und wie gut er aussah. »Mensch«, sie hielt ihn eine Armeslänge von sich entfernt, »das scheint dir aber mehr als gutzutun, dieses Frankreich.«
»Ja, ist schon was anderes, als nur zu sitzen und zu studieren. Du siehst aber auch gut aus, Mutti.«
Jetzt bemerkte Kai, dass seine Mutter nicht alleine gekommen war.
»Hi!« Anja winkte schüchtern vom Wohnmobil her.
»Hi! Äh, Mama, und wer ist das?«
Heike winkte Anja zu, dass sie zu ihnen kam. »Kai, das ist Anja. Sie begleitet mich auf dieser Reise.«
»Hi, freut mich.« Kai begrüßte Anja höflich und lächelte ihr zu.
Anja gab ihm etwas scheu die Hand. »Hi.«
»Schön, dass ihr da seid. Mama, du und ein Wohnmobil?« Er schüttelte den Kopf.
»Ja, deine Mama fährt jetzt Wohnmobil.« Heike grinste stolz. »Sag, wohnst du hier? Ich dachte, du bist in Perpignan.«
»Äh ja, ist eine längere Geschichte. Ari und ich haben erst in Perpignan gewohnt, jetzt aber konnten wir das Haus hier mieten. Ist doch eine tolle Lage, oder?« Er deutete aufs Meer. »Und die Tauchschule ist gleich unten in der Bucht.«
»Ist Ari deine Freundin?« Heike hob neugierig die Augenbrauen.
»Hm, Mama, kommt einfach mit – ich stelle euch Ari vor.«
Kai ging voran in Richtung des Hauses am Hang. Hinter dem blauen Gartentor verbarg sich ein stufiger Garten, welcher vor dem Haus in eine große Terrasse überging. Was Heike oben vom Parkplatz aus gesehen hatte, war in der Tat die oberste Etage des Hauses. Diese war wesentlich größer, als sie vermutet hatte. Zur Terrasse hin bildeten steinerne Rundbögen eine schattige Überdachung. Unter dieser befand sich ein großer, langer Holztisch, der aussah, als wäre er mindestens zehn Jahre als Treibholz im Mittelmeer unterwegs gewesen. Einfache Bänke aus halben Stämmen säumten ihn ein.
»Ari? Ari! Meine Mutter ist da.«
Heike wurde kurz nervös und blickte gespannt aufs Haus. Dass Kai eine Freundin hatte, freute sie.
Statt einer Frau kam jetzt aber ein junger blonder Mann aus einer der Terrassentüren und strahlte sie an. »Bon jour – ich bin Ari.« Er streckte Heike die Hand hin.
Heikes Blick sprang zwischen Kai und Ari hin und her. Kais Gesichtsausdruck sprach Bände, sie kannte ihren Sohn.
»Oh, okay, hallo, Ari, freut mich.«
Heike sah zu Kai. »Freund-Freund oder Freund?«
»Mama, Freund. Ari und ich leben schon länger zusammen, also auch in Köln.«
Heike setzte sich auf eine der Holzbänke. »Okaaaay …« Heike hatte mit irgendwelchen Hiobsbotschaften bezüglich des Studiums gerechnet. Dass ihr Sohn aber … Sie hatte nicht geahnt, dass er … Selbst in Gedanken wollte ihr Gehirn da gerade keine Worte finden. Sie fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Alles gut? Möchtest du etwas trinken?« Kai sah seine Mutter besorgt an.
»Etwas Hochprozentiges wäre gut, am besten das Stärkste, was ihr im Haus habt. Du und Ari, ihr seid also … schwul?«
»Ich hol mal was zu trinken.« Ari verschwand wieder im Haus.
Es hörte sich komisch an. In Gedanken strich sie gerade seltsamerweise weitere Enkelkinder und überlegte, wie denn wohl – so es überhaupt noch mal eins geben würde – das nächste gemeinsame Familientreffen ablaufen würde. Jochen würde nicht begeistert sein, gar nicht. Verrückt, was einem bei solchen Botschaften blitzschnell durch den Kopf schoss. Heike legte sich unwillkürlich eine Hand auf die Stirn, als hätte sie Fieber.
»Mama, ich weiß, ich hätte mal was sagen sollen … Aber das ist auch für mich nie so einfach gewesen.« Er sah jetzt ein bisschen verzweifelt aus.
Heike hob die Hand. »Kai, alles gut – ich habe in den letzten Wochen so viele Nachrichten bekommen, gute und schlechte … Gib mir einfach ein paar Stunden oder vielleicht auch Tage, um mich daran zu gewöhnen, okay?«
»Hier, bitte, Frau Berger.« Ari war wieder auf die Terrasse gekommen und reichte ihr ein Glas.
Heike nahm einen Schluck und hustete. »Oh … das ist gut, ja, das ist richtig gut. Ari, ich bin Heike.«
Ari lächelte verhalten. Ihm schien die ganze Situation auch nicht sonderlich angenehm zu sein. Er wandte sich an Anja, die ein Stück zurückgeblieben war und die Szene mit gebührendem Abstand beobachtet hatte. »Möchtest du auch irgendetwas trinken?«
Anja lächelte. »Eine Cola wäre ganz gut. Nicht … nicht so was da.«
Heike fing sich wieder. Der Alkohol rauschte durch ihren Körper und richtete alles gerade, was eben ins Wanken geraten war.
»Trotzdem, Mama, ich freue mich riesig, dass du hier bist.«
»Oh Kai, ja … Ich habe auch einige Nachrichten im Gepäck, aber lass uns mal kurz Luft holen.«
Er hob die Hände.
Heike sah von der Terrasse über den Garten hin zum Meer. »Wow … was für eine Wahnsinnsaussicht.«
»Du kannst dort oben stehen bleiben mit dem Wohnmobil – oder willst du lieber auf den nächsten Campingplatz? Auch kein Problem.« Kai deutete auf den Hang hinter sich. »Aber von da ist die Aussicht echt gut, du kannst auch noch ein Stück vorfahren. Keine Angst, es geht nicht so tief runter, wie man denkt. Abgestürzt ist da noch keiner. Wir haben dort öfter Camper stehen. Leicht verdientes Taschengeld.« Er zuckte mit den Achseln. »Ari hat sogar ein kleines Bad da oben ausgebaut, das sieht man nur nicht sofort. Ist hinter den Büschen versteckt.« Er lächelte verlegen.
Heike sah an Kai vorbei zu ihrer Mitfahrerin. »Anja, was denkst du? Campingplatz oder Familie?«
Anja sah hinaus aufs Meer. »Ich find’s super hier.«
»Gut, wir bleiben hier. Du hast es gehört, Kai.«
Den Nachmittag über verbrachten sie im Schatten der Rundbögen, und Heike berichtete von ihrer Reise mit Möppi zu Jenny. Kai wiederum erzählte ganz unverfänglich, wie Ari und er jetzt die Tauchschule von Aris Vater führten, der sich nach einer schweren Operation langsam erholte.
Anja war angesichts der beiden jungen Männer nur zaghaft aufgetaut. Jetzt aber lachte sie mit am Tisch und schien sich wieder zu entspannen.
Als die Sonne langsam hinter den Bergen unterging, tippte Kai Heike von der Seite her an. »Gehen wir beide noch mal runter zum Strand?«
Heike stand mit ihm auf und zwinkerte Anja kurz zu.
Ari nickte. »Geht nur, Anja und ich können uns auch allein unterhalten.«
Breite Stufen führten einen verschlungenen Fußpfad hinab zur Bucht. Der Boden war aus feinem Kies, und die Wellen gaben ein leises Rauschen von sich, wenn sie auf den Strand trafen. Es war ruhig und friedlich in dieser Bucht, und die Wärme des Tages hatte sich in den Felswänden gehalten.
Heike hakte sich bei Kai unter, als sie am Strand angekommen waren. »Toll, dich wiederzusehen, Kai. Ich … ich vermisse dich und Jenny doch manchmal sehr.«
»Du, Mama.« Kai blieb stehen. »Sei nicht böse auf Jenny, aber sie hat mir schon erzählt, warum du gekommen bist.«
»Hat sie?« Heike blieb stehen.
»Ja, also das mit Papa und dir. Natürlich war ich auch erst entsetzt und traurig, aber … ich kann es auch verstehen und komme damit klar.«
»Okay.« Heike drückte seinen Arm.
»Mir … mir ist es nur wichtig zu wissen, wie es dir geht. Geht es dir wirklich gut?«
»Ja, Kai, mir geht es gerade wirklich gut. Sehr gut. Auch wenn mein Sohn mich heute etwas überrumpelt hat.«
»Entschuldige. Aber das ist auch etwas, das man nicht mal schnell auf eine Postkarte schreibt.«
»Ja, da hast du recht. Hauptsache, du bist glücklich. Alles andere ist egal. Aber sag, hast du das Studium ganz hingeschmissen?«
Kai stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ja.«
»Oha. Also das eine«, Heike deutete den Abhang hinauf, »das kannst du dem Papa erzählen, wann du willst. Aber das mit dem Studium, das solltest du ihm bald erklären.«
»Ja, ich weiß.« Kai lachte kurz auf. »Das wird er wohl auch eher verstehen als die Sache mit Ari.«
»Oh, das befürchte ich auch. Dein Vater ist in der Hinsicht etwas … altmodisch. Aber auch das wird er überleben.«
»Und du, Mama? Was willst du jetzt machen?«
»Erst mal bleibe ich ein paar Tage hier. Ich muss doch sehen, was mein Sohn so macht. Und Anja … Anja braucht einen ganz tollen Urlaub. Das liegt mir sehr am Herzen. Und ich erhole mich auch etwas hier, und dann gucke ich mal, wo es mich als Nächstes hinzieht.«
»Du hast jetzt richtig Reisefieber bekommen, hm? Find ich gut. Aber wieso die Anja bei dir mitfährt, das musst du mir jetzt noch mal erklären.«
Heike erzählte Kai Anjas Geschichte, während sie langsam den Strand hinauf- und dann wieder hinabliefen.
»Das ist eine tolle Sache. Und dieser Stefan … ist das irgendwie dein Freund, oder so?«
Kai schien neuerdings ein gutes Gespür für die Gefühle anderer zu haben. Oder Heike hatte einfach ein paar Mal zu oft Stefans Namen erwähnt.
»Wäre das ein Problem für dich?« Heike sah ihren Sohn eindringlich an.
»Nein. Also gut … ich müsste mich dran gewöhnen. Aber ein Problem … nein. Solange er nett ist.«
Heike grinste. »Na, noch sind wir ja nur Freunde und nicht mehr.«
»Aber ein bisschen verguckt hast du dich schon, oder, Mama?« Kai lachte und legte Heike den Arm um die Schulter.