Kapitel 28

Von Saint-Bonnet nach Avignon

Am nächsten Vormittag verabschiedeten sie sich herzlich von ihrer Gastgeberin.

Steffi wirkte traurig, ihren Besuch so schnell wieder ziehen lassen zu müssen. »Schade, dass ihr nicht länger bleiben könnt. Falls ihr auf dem Rückweg hier vorbeifahrt – Blümchen und ich würden uns wirklich freuen.«

»Vielleicht kommen ja bald andere. Ich habe schon von deinem Stellplatz als echtem Geheimtipp in unserem Forum berichtet.« Anja lächelte versöhnlich.

Heike nickte zustimmend. »Anja ist da schneller als ich und kennt sich besser aus.«

Steffi lachte. »Ihr seid, glaube ich, ein gutes Team. Macht was draus. Und jetzt wünsche ich euch eine tolle Weiterfahrt und noch ganz viele schöne Erlebnisse. Ich schaue später mal im Internet nach und werde euch dort weiter verfolgen. Und jetzt los!«

Als sie wieder auf der Autobahn gen Süden unterwegs waren, zog Anja sich ihren Laptop auf die Knie.

»Ich werde mal eine Karte in das Forum einbauen, wo die User Stellplätze eintragen können.«

Heike nickte noch etwas unschlüssig, während sie Möppi lenkte. »Hört sich sinnvoll an. Ich habe gar nicht so viel Ahnung von alldem, was man da machen kann. Woher weißt du das alles?«

»Na ja, sagen wir mal, ich hatte in den letzten Jahren ziemlich viel Zeit, um vor dem PC zu sitzen. Da schaut man sich einiges ab. Wir haben übrigens inzwischen knapp über fünfhundert Mitglieder.«

»Was?« Heike sah Anja überrascht an.

»Das wird, glaube ich, noch um einiges größer.« Anja lachte. »Also, wenn du einen Rückzieher machen willst, dann lieber jetzt.«

»Nein.« Heike schüttelte den Kopf. »Rückzieher machen ist jetzt nicht mehr. Aber, Anja?«

»Hm?«

»Du musst mir versprechen, dass du mir weiterhin hilfst. Ohne dich bin ich in Sachen Internet sonst aufgeschmissen.«

Anja grinste nur. »Denke, das geht klar.«

Sie kamen am frühen Nachmittag in Avignon an. Möppi hatte sie jetzt endgültig in ein mediterranes Klima gebracht. Die Luft war warm und roch nach Bergen und Wasser.

Das Erste, was sie von Avignon sahen, war eine hohe, alte Stadtmauer, die zunächst keinen Blick auf die Stadt zuließ. Es gab zwar Tore und Türmchen, aber keine Durchfahrt – zumindest keine, bei der Heike sich getraut hätte, das Wohnmobil durchzusteuern.

An Eisenstangen hängende, mittelalterlich anmutende Straßenlaternen baumelten im leichten Wind, zu ihrer Rechten war der Fluss jetzt nur durch eine Mauer von der Straße getrennt.

»Schöne Mauern«, unkte Anja irgendwann. Sie hatte ihren Laptop schon vor einigen Stunden beiseitegelegt und lange nachdenklich aus dem Fenster geblickt. Auch Heike hatte ihre Gedanken kreisen lassen. Hamburg war so weit entfernt, dass sie dazu gar keine klaren Gefühle mehr hatte.

»Ja, die wollen wohl, dass keiner reinguckt.« Heike fuhr weiter daran entlang.

»Guck mal – da steht eine halbe Brücke im Fluss.« Anja zeigte durch das geöffnete Fenster nach draußen.

Heike grübelte kurz. »Ist das nicht diese Brücke, die in dem Kinderlied besungen wird?«

»Was für ein Kinderlied?«

Heike begann leise die einfache Melodie zu singen: Sur le pont d’Avignon l’on y danse, l’on y danse, sur le pont d’Avignon l’on y danse tout en rond.«

Anja lachte. »Ich dachte, du kannst kein Französisch.«

»Kann ich auch nicht, aber dieses Lied hat meine Tochter im Kindergarten gelernt, und dazu gab es so ein Tanzspiel. Das habe ich mit Sicherheit fünfhundert Mal mitsingen müssen.« Heike summte die Melodie noch mal.

»Danke, jetzt habe ich einen Ohrwurm. Aber schau, dahinten geht eine ganze Brücke über den Fluss, und da ist dann irgendwo der Campingplatz.«

»Hoffentlich hat der nicht auch so eine schicke Mauer.« Heike nickte nach links, wo es nach wie vor nur Steine zu sehen gab.

Ihr heutiges Ziel lag auf einer Insel inmitten des Flusses. Obwohl vor dem Tor zum Campingplatz eine kleine Schlange Reisemobile stand, bekamen sie auch hier noch einen Platz. Dieser war allerdings nicht mit einer guten Aussicht ausgestattet. Auf der einen Seite war ein Zaun, auf der anderen stand schon der Wohnwagen ihres Nachbars.

»Etwas kuschelig hier«, bemerkte Heike, als sie versuchte auszusteigen, ohne die Tür gleich an den nächsten Camper zu schlagen. »Wird schon gehen für eine Nacht.«

Da die Parzelle wirklich nicht dazu einlud, die Stühle auszupacken, beschlossen die beiden, sich ein wenig umzusehen. Anja blickte zögernd zwischen dem Weg und Möppis Heck hin und her. Sie wirkte etwas blass heute. Der spontane Spaziergang im Lavendel, der lange Abend und der Wein hatten Spuren hinterlassen.

»Möchtest du ihn mitnehmen?«, fragte Heike vorsichtig. In den letzten zwei Tagen war Anjas Krankheit kein Thema gewesen. Heike hatte zwar gesehen, wie Anja mehrmals am Tag Medikamente einnahm, aber ansonsten wäre ihr nicht sofort aufgefallen, dass bei der jungen Frau irgendetwas nicht stimmte. Anja schien sich jedoch vor unvorhersehbaren Belastungen, wie einem Spaziergang ins Blaue, zu ängstigen.

»Hm, ich weiß nicht.«

Heike sah Anja an, dass es nicht nur die Unsicherheit mit dem eigenen Körper war, sondern auch etwas Scham.

»Pass auf«, Heike bot ihr den Arm. »Du hakst dich bei mir ein, und wir gehen ganz langsam. Wenn du eine Pause brauchst, sagst du Bescheid. Und wenn es gar nicht geht, laufe ich zurück und hole das Ding. Okay?«

»Okay!« Anja lächelte sie dankbar an.

Ganz gemütlich schlenderten sie vom Campingplatz in Richtung Flussufer. Ein Trampelpfad führte durch eine Hecke, dann über einen kleinen, rasenbewachsenen Deich, und schon standen sie an der Rhône, fast genau gegenüber der alten, unvollständigen Brücke, hinter der sich die Stadtmauer und eine Art Festung erhoben.

»Oh, das ist … beeindruckend.« Heike hielt einen Augenblick inne. Dann gingen sie ein Stück weiter und setzten sich auf eine Bank. Auf dem Fluss paddelten ein paar Kanuten herum, und in einiger Entfernung tuckerte ein Ausflugsschiff auf dem Wasser.

Anja streckte genüsslich die Beine aus und hielt das Gesicht in die Sonne. Schweigend saßen sie eine ganze Weile dort. Irgendwann bemerkte Heike, dass Anja sich aufrecht hingesetzt hatte und auf die Brücke starrte. Als sie spürte, dass Heike sie beobachtete, presste sie die Lippen kurz aufeinander. Dann nickte sie in Richtung der Brücke. »Die sieht aus wie mein Leben.«

Jetzt setzte sich auch Heike wieder gerade hin. »Wie meinst du das?«

»Abgebrochen halt.«

»Ja, aber du lebst ja noch.«

Anja lachte kurz auf. »Ja, noch!«

Heike wusste nicht recht, was sie sagen sollte, aber es schien auch nicht nötig zu sein, denn Anja sprach weiter.

»Weißt du, bevor ich meine Diagnose bekam, hatte ich ein ganz normales Leben. Ich hatte einen Job, der mir Freude machte, ich hatte einen Freund, ich hatte eine Familie. Dann stellte mich der Arzt vor vollendete Tatsachen, zumindest was die Diagnose anging. Alles andere ist bei MS nämlich so gut wie nicht vorhersehbar. Ich kann steinalt werden, ich kann aber auch in fünf Jahren tot sein. Und genau da brach mein altes Leben ab.« Anja seufzte leise. »Ich wurde depressiv, bekam Medikamente, diese lösten einen Schub aus, ich bekam Schmerzen, andere Medikamente, die Depression wurde schlimmer. Ich verlor meinen Job, mein Freund kam mit der Situation nicht klar, und meine Eltern …« Jetzt lachte sie enttäuscht auf, »die halten mich für eine Simulantin und einfach nur für faul.«

»Was?«, entfuhr es Heike. Entsetzt sah sie Anja an.

»Ist so. Mein Vater hat wortwörtlich zu mir gesagt, dass ich die Krankheit nur als Ausrede für meine Faulheit benutzen würde. Seitdem habe ich kein Wort mehr mit ihm gesprochen.«

»Das ist hart.« Heike schüttelte den Kopf. Wenn sie darüber nachdachte, dass einem ihrer Kinder so eine Diagnose gestellt worden wäre … nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, Jenny oder Kai als Simulanten abzustempeln. »Das tut mir sehr leid, Anja.«

»Das Schlimme ist, ich kann selbst damit einfach nicht umgehen. Ich sitze die meiste Zeit zu Hause und grüble vor mich hin. Dabei sollte ich doch eigentlich zusehen, dass ich noch irgendwas Sinnvolles mache in meinem Leben. Ich meine …« Sie hob ergeben die Hände, »mir bleibt schon so vieles verwehrt. Familie, Kinder – da bin ich doch raus, schätze ich. Ich würde mich das auch gar nicht trauen. Aber irgendwas muss ich doch noch machen!«

»Hmhm … ja, da kommt man wohl in so einen Teufelskreis, aus dem man schlecht rausfindet. Also, ich … ich habe jetzt auch viele Jahre in einer Blase gelebt, nein, wohl eher in einem Karton. Ich habe gar nicht gemerkt, dass vieles von meinem alten Leben einfach vorbei war, und ich habe nichts Neues angefangen. Ich konnte aus diesem Karton auch nicht raus, nicht mal rausgucken konnte ich.« Heike senkte den Blick, diese Erkenntnis traf sie jetzt selbst. »Und dann steht mein Mann da und sagt, er geht.«

»Und was hast du da gemacht?« Anja sah Heike neugierig an.

»Ich hab den Nudelsalat fallen lassen und lag fünfzehn Minuten später im Krankenwagen. Blackout, ausgeknipst. Zack, weg war ich.«

»Aua – ehrlich. So ähnlich wie bei Steffi?«

»Ja, ehrlich. Ich hätte ihm in dem Augenblick sagen sollen, was er für ein Armleuchter ist und all so was, aber dazu kam ich gar nicht. Tja, aber mein Karton war weg, ich sah die nackte Wahrheit über mein Leben und musste mir eingestehen, dass ich plötzlich nicht nur vor dem Nichts stand, sondern auch in der Zukunft nichts für mich sah.«

»Wow … und dann? Ich meine, jetzt sitzt du hier.« Anja nickte anerkennend.

»Ja – und das Wunderliche daran ist: Das ist alles gerade mal ein paar Wochen her.«

Anja senkte den Blick. »Ja, ich habe mich gestern schon total erschrocken, ich dachte, das ist Jahre her oder so.«

»Nein. Aber es kommt mir vor, als wäre es vor einer halben Ewigkeit gewesen. Was ich dir damit eigentlich sagen wollte … es kann sein, dass sich binnen weniger Tage dein ganzes Leben umkrempelt. Und das muss nicht immer etwas Schlechtes sein, selbst bei dir nicht. Ich meine … guck, du sitzt jetzt auch hier.«

»Das ist wohl wahr.« Anja fasst kurz nach Heikes Hand und drückte diese ganz fest. »Das ist wohl wahr …«

Am Abend verfasste Heike einen neuen Bericht für ihren Blog. Natürlich vergaß sie nicht, Steffis Hof zu erwähnen. Im Forum kam sie selbst schon gar nicht mehr hinterher. Neue Fahrgemeinschaften wildfremder Menschen hatten sich gebildet, und die ersten hatten ebenso wie sie die ersten Erlebnisse online gestellt. Heike freute sich ehrlich darüber. Dass aus so einer kleinen Idee plötzlich so etwas Großes werden konnte.

Zeitgleich mit ihr war Anja online. Sie bewegte sich viel souveräner im Internet als Heike und spickte das Forum mit nützlichen Inhalten und Beiträgen, die die anderen User zum Mitmachen animierten. Heike sah sie über den Tisch hinweg an. Sie saßen im Wohnmobil, weil draußen heute einfach kein Platz war, um einen Tisch und Stühle aufzustellen. Anja war ganz vertieft und tippte fleißig auf die Tasten. Heike wurde warm ums Herz. Und wenn sie es nur geschafft hatte, dass Anja einige Stunden ihre Krankheit und das leidige Drumherum vergessen konnte, hatte sie schon etwas Gutes vollbracht.