Von Lyon über Bochum nach Hamburg
Der Abschied von dem kleinen Ort am Mittelmeer war mehr als hart gewesen. Erst hatten sie sich noch ganz tapfer von Ari und Kai verabschiedet, aber als Möppi brav den Berg zur Straße hochgetuckert war, hatte Anja gewimmert und geschluchzt und dann auch Heike. Daraufhin hatten sie beide geheult und zwischendurch doch immer wieder lachen müssen.
Heike war auf die nächste Autobahn gefahren und hatte den Fuß stur aufs Gas gedrückt. Zu groß war die Verlockung, einfach wieder abzufahren und zurückzukehren. Aber sie hatten Kais und Aris Gastfreundschaft lange genug strapaziert. Es war Zeit, sich auf den Weg nach Hause zu machen. Was für Heike eine neuerliche Reise ins Ungewisse bedeutete und für Anja die Rückkehr in ihre winzige Wohnung in dem grauen Betonbau.
In der Nacht hielten sie auf einem Campingplatz bei Lyon. Auch wenn Frankreich immer noch wunderschön war, hatte keine der beiden Lust, sich etwas anzusehen. Am nächsten Morgen frühstückten sie fast wortlos, jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Dann ging es weiter Richtung Deutschland. Zwischendurch schrieb Heike Stefan eine Nachricht, dass sie jetzt auf dem Rückweg seien.
»Treffen wir uns bei Hamburg?« Heike hatte noch keine Ahnung, wo und wie, aber sie wollte Stefan unbedingt wiedersehen. Vorher musste sie Möppi zu Gabi zurückbringen.
»Ich mache mich auf den Weg«, antwortete er.
Irgendwo vor Luxemburg brach Anja das Schweigen.
»Du, Heike. Der Alex hatte da eine Idee. Er war ja von der Fahrt mit Stefan genauso begeistert wie ich jetzt von der Fahrt mit dir.« Dabei tätschelte sie Heike kurz den Arm. »Danke noch mal, du weißt gar nicht, wie gut mir das getan hat.«
»Um welche Idee geht es denn?« Heike war wirklich neugierig. Sie hatte Anja des Abends öfter beobachtet, wie diese ganz in Gedanken vor ihrem Laptop gesessen hatte.
»Also, dein Blog, der läuft ja super. Und in dem Forum ist richtig was los. Wir sind nicht die Einzigen, die unterwegs waren. Da sind ein paar ganz tolle Geschichten bei rausgekommen.« Anja drehte sich aufgeregt auf dem Beifahrersitz in Heikes Richtung. »Also, Alex und ich … wir finden, dass man das durchaus noch etwas mehr ausbauen und vielleicht auch professioneller gestalten könnte. Damit Camper und Mitfahrer noch besser zusammenfinden.«
»Hört sich gut an. Macht das doch.«
»Na ja, wir würden gern dein Forum als Grundlage benutzen.«
Heike zuckte mit den Achseln und lachte. »Du, ich habe von dem ganzen Internetkram keine Ahnung. Ich bin froh, dass ich so halbwegs den Überblick behalte mit dem Blog. Wenn ihr euch mehr um das Forum kümmern wollt – dann macht das.«
»Das ist total cool, danke. Das wird super, du wirst sehen.« Anja grinste verschmitzt, und Heike wusste mit einem Mal, dass sie in Zukunft nicht mehr traurig in ihrem Betonbau rumsitzen würde. Sie schien wieder eine Idee für ihr Leben zu haben und die Kraft und den Mut, dies auch anzugehen. Heikes Herz machte einen kleinen Hüpfer. Dafür hatte sich der Weg tausendmal gelohnt.
Als die beiden Frauen sich wenige Stunden später in Bochum voneinander verabschiedeten, heulten sie schon wieder. Heike hatte Anja noch geholfen, ihre Sachen nach oben zu tragen, und Anja war in ihrem Wohnzimmer verschwunden und hatte Heike zwei zuckersüße kleine Strickjäckchen in die Hand gedrückt. »Für deine zukünftige Enkeltochter.«
»Ach, Anja.« Sie hatte mitbekommen, wie Jenny ihr erzählt hatte, dass Finn bald ein Schwesterchen haben würde.
»Das ist das Mindeste, was ich dir geben kann.«
»Und du kommst klar jetzt? Ich meine …«
»Heike, mir ist es seit Jahren nicht so gut gegangen wie gerade, und ich werde es ausnutzen. Du hast mir eine Idee geliefert, die meinem Leben einen Sinn gibt, und ein Vorbild warst du auch. Ich weiß also gar nicht, wie ich dir danken soll.«
Heike drückte Anja noch mal. Ihr fehlten die Worte.
Gerade als Heike zum Fahrstuhl ging, rief Anja: »Wir sehen uns dieses Jahr noch mal wieder, versprochen!«
Bevor Heike nachfragen konnte, schloss Anja grinsend ihre Tür.
Heike fuhr mit einem guten Gefühl weiter. Das nannte man wohl »Urlaub mit Mehrwert«. Sie lenkte Möppi wieder auf die Autobahn und drehte die Musik lauter.
Irgendwo bei Bremen bemerkte sie, dass ihr Telefon klingelte. Nicht am Steuer, ermahnte sie sich. Doch es klingelte unaufhörlich weiter. Sie warf einen Blick auf das Display. Stefan! Na gut, einmal …
»Hey!«
»Heike? Wo bist du?«
Sie hörte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Stefan? Was ist los?« Es war laut bei ihm im Hintergrund.
»Der Bus! Totalschaden. Da war ein Lkw … Auffahrt …«
»Stefan? Stefan, ist dir was passiert?« Heike jagte ein kalter Schauer über den Rücken.
Er schrie ins Telefon, denn der Lärm im Hintergrund übertönte ihn fast. »Mir geht’s gut. Der Bus wird gerade abgeschleppt. Ich bin kurz vor Hamburg. Stillhorn, da auf dem Rastplatz!«
»Stefan – ich bin in einer Stunde da.«
Heike hatte noch nie so aufs Gaspedal des armen Möppi getreten wie jetzt, aber es handelte sich schließlich um einen Notfall.
Es wurde etwas mehr als eine Stunde, aber dann kam sie endlich am genannten Rastplatz an und fand auch Stefan dort. Sein Anblick rührte sie. Er saß auf einer Bank, sein ganzes Hab und Gut aus seinem Bus um sich herum verstreut. Er sah aus wie ein Gestrandeter. Was er wohl auch war an diesem Tag.
Heike parkte neben ihm und sprang aus Möppi hinaus. »Mensch, Stefan, was machst du denn für Sachen?«
Er stand wankend auf und kam ihr entgegen. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn.
»Oh Gott«, stammelte er. »Das ist mir noch nie passiert. Da kam ein Lkw, ich guck noch so, und rums, zieht der rüber. Ich hab nur noch die Mittelleitplanke gesehen, und mein Bus … Mein Bus ist hin. Alles kaputt.« Er schniefte.
Heike drückte ihn. »Oh weh. Aber Hauptsache, dir ist nichts passiert.« Sie schob ihn kurz von sich weg und legte dann sein Gesicht in ihre Hände. »Geht es dir wirklich gut?«, fragte sie nachdrücklich.
»Ich habe ein paar Schrammen am Bein. Ein Krankenwagen war auch da, doch ich wollte nicht mit.«
»Aber mit mir kommst du jetzt mit. Los, Sachen einladen.« Heike schnappte sich schon die erste Tasche.
Stefan stand total unter Schock. Heike sah aus den Augenwinkeln, wie er sich mit zittrigen Händen über das Gesicht wischte.
Als sie von der Autobahn abfuhren, missachtete sie das zweite Mal an diesem Tag die Telefonregel. Sie wählte Gabis Nummer.
»Gabi, ich bin es. Bin gleich da. Ich bringe jemanden mit. Notfall. Stell mal ’nen Schnaps hin!«
Kurze Zeit später hatte Heike es geschafft, Stefan in Gabis Küche zu bugsieren, ihn auf einen Stuhl gesetzt und ihm ein großes Glas Schnaps in die Hand gedrückt. »Trink!«, befahl sie. Alkohol war zwar keine gute Lösung, aber gerade das einzige Heilmittel, das sie zur Hand hatte.
»Was ist euch denn passiert? Alles klar?« Gabi sah perplex auf Heike und Stefan.
»Stefan hatte einen Unfall. Sein Bus ist hin.«
Stefan sah immer noch aus, als hätte man ihn verprügelt.
»DerKleineGelbeBus? Ach du meine Güte, das tut mir leid.« Aus Gabis Stimme sprach tiefstes Mitgefühl. Und auch Heike konnte inzwischen nachvollziehen, wie schwer es Stefan fallen musste, hatte sie Möppi doch selbst ins Herz geschlossen. So ein Wohnmobil, ob groß oder klein, war nicht einfach nur ein Duschklo auf Rädern. Es war ein Teil des Lebens, es schrieb Geschichten, und es war immer für einen da. Wenn man es verlor, dann war es so, als würde man einer Schildkröte den Panzer wegnehmen. Sie legte Stefan tröstend die Hand auf die Schulter.
»Ist Möppi denn okay? Bist du okay, Heike?« Gabi sah ihre Freundin immer noch mit großen Augen an.
»Möppi ist okay. Vielleicht ist sein Tank so gut wie leer, aber er steht sicher und wohlbehalten hinten auf dem Hof. Alles gut. Ich fürchte jedoch, du musst jetzt nicht nur mir, sondern auch Stefan kurz ein Quartier bieten.«
Gabi hob die Hände. »Kein Problem.«
Heike lächelte dankbar.
»Du bist die Beste.«