Kapitel 1

Hamburg, im Mai 2019

»Berger, Heike, zweiundfünfzig Jahre alt, Schwächeanfall mit Ohnmacht.«

Heike hörte eine fremde Stimme neben sich. Sie klang, als wenn jemand in ein Rohr spräche, verzerrt und viel tiefer vom Ton als normal. Sie wollte die rechte Hand heben, bemerkte aber, dass diese ihr nicht gehorchte, wie auch der Rest ihres Körpers. Panik stieg in ihr auf, sie atmete schneller und spürte sogleich wieder den massiven Schwindel in ihrem Kopf, der sie zu Boden gestreckt hatte. Was war dann passiert? Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Man hatte sie in einen Krankenwagen geschoben, ein Sanitäter hatte sich über sie gebeugt. Sie hatte etwas sagen wollen, doch es war nicht gegangen. Sie war nicht Herr über sich selbst.

»Frau Berger. Alles gut. Sie sind im Krankenhaus, wir kümmern uns jetzt ums Sie.« Eine Hand berührte kurz ihre Schulter. »Macht bitte Blutdruck und EKG!«

Heike spürte, wie ihr wieder eine Maske auf das Gesicht gedrückt wurde. Verschwommen nahm sie eine junge Frau im weißen Kittel wahr. »Das wird Ihnen helfen. Atmen Sie ganz tief ein und aus.«

Die junge Frau behielt recht. Kaum füllte der Sauerstoff Heikes Lunge, begann auch ihr Kopf wieder zu funktionieren. Verdammt. Jetzt, da ihre Gedanken wieder klarer wurden, wurde ihr auch bewusst, was passiert war. »Ich werde gehen«, hatte Jochen gesagt. Im nächsten Moment war sie gefallen und weg gewesen

Sie spürte, wie ihr die Krankenschwester etwas Kaltes auf ihrer Haut verteilte, was sie noch ein Stück mehr in die Wirklichkeit zurückholte. Dann befestigte sie mit routinierten Griffen die EKG-Elektroden. Gleich darauf erklang ein gleichmäßiges Piepen. Als Nächstes schob sie ihr die Blutdruckmanschette über den Arm und pumpte sie auf.

»Hundertvierzig zu fünfundneunzig« hörte sie die Frauenstimme sagen.

»Das sieht schon mal ganz gut aus.« Ein weiteres Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. Augenscheinlich der Arzt. »Frau Berger, Ihr Blutdruck ist ein wenig hoch, aber stabil, Puls und Atmung sind normal, das EKG unauffällig. Hatten Sie so etwas schon öfter?«

Heike schüttelte den Kopf.

»Gut. Haben Sie irgendwelche anderen Erkrankungen?«

»Nein.« Heike hörte, wie heiser sich ihre Stimme anhörte.

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Nein.«

»Haben Sie Kopfschmerzen?«

»Nein.«

»Schmerzen in der Brust oder im Rücken?«

»Nein.«

»Sie bekommen jetzt erst mal noch ein bisschen Sauerstoff und bleiben an der Überwachung. Ich komme später wieder zu Ihnen.« Der Arzt nickte kurz und verschwand dann. Die Krankenschwester legte Heike die Hand auf die Schulter. »Ich bin gleich nebenan. Okay?«

Heike nickte. Der Sauerstoff hatte ihren Kopf wieder auf Touren gebracht. Sie versuchte, gleichmäßig und tief zu atmen.

Ich werde gehen. Dieser Satz aus Jochens Mund war die Spitze eines Berges, der sich über einige Jahre aufgetürmt hatte. Aber anstatt ihren Mann zu fragen, wie er sich das überhaupt vorstelle – mit dem Haus, mit den Kindern, mit ihr –, hatte es Heike blitzschnell in einen tiefen dunklen Abgrund gerissen. Das Gefühl, das sie überkommen hatte, als Jochen diese drei Worte ausgesprochen hatte, war schlichtweg grausam gewesen. Ich werde gehen – das ließ keinen Zweifel und auch keinen Spielraum zu, das hatte sein Tonfall mehr als deutlich gemacht. Heike hatte wie vom Donner gerührt dagestanden, eine Plastikdose mit Nudelsalat in der Hand. Dann waren wie in einem dieser Horrorfilme plötzlich die Wände ihres Hauses in sich zusammengefallen, und ein schwarzer Abgrund hatte sich um sie herum aufgetan. Jetzt lag sie da und atmete durch eine Maske. Einige schmerzende Stellen an ihrem Körper sagten ihr zudem, dass sie ziemlich unsanft auf dem Küchenboden aufgeschlagen sein musste.

»Mist!«

»Bitte?« Der Kopf der Schwester tauchte im Türrahmen auf ihr auf. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, es geht so langsam wieder«, hörte Heike sich mit heiserer Stimme sagen. Doch das war eine Lüge. Gar nichts war in Ordnung. Obendrein hatte sie den Augenblick verpasst, ihrem Mann gehörig die Meinung zu sagen. Wie konnte er nur! Nach all den Ehejahren hatte sie doch zumindest eine Erklärung verdient. Ach was, er hätte längst mit ihr darüber sprechen sollen, was ihn unzufrieden machte, statt hinter ihrem Rücken Pläne für seine Zukunft zu schmieden. Eine Zukunft ohne sie. Am liebsten wäre sie zurückgekehrt in die schwarze Stille, in der sie versunken war, denn dort war es ruhig und friedlich, im Gegensatz zu dem, was sie als Nächstes im Leben erwarten würde.

Passenderweise deutete die junge Schwester in Richtung Tür. »Ihr Mann wartet draußen … soll ich?«

»Nein!« Heikes Antwort war wohl etwas heftig ausgefallen, denn die Schwester sah sie erschrocken an, und das EKG-Gerät gab ein lautes Piepen von sich.

Heike hob matt eine Hand und schüttelte den Kopf. »Nein, ich hätte gerne noch einen Augenblick für mich.«

»Natürlich. Er hat nur schon mehrmals nach Ihnen gefragt.« Sie trat näher. »Ich messe noch Ihren Blutzucker. Setzen Sie sich bitte auf. Geht es?«

Heike versuchte, sich auf der Behandlungsliege hinzusetzen. Im nächsten Moment kam der Arzt auch schon wieder hinzu. Heikes Kopf wehrte sich einen Herzschlag lang gegen die aufrechte Haltung, aber nachdem sie mehrmals tief durchgeatmet hatte, legte sich der Schwindel.

»Ja, so ist gut.« Der Arzt nickte ihr wohlwollend zu. »Bleiben Sie einfach noch einen Augenblick so sitzen. Die Schwester misst jetzt Ihren Blutzucker. Haben Sie vielleicht zu wenig gegessen heute?« Er leuchtete ihr mit einer kleinen Lampe in die Augen.

»Kaffee, ich hatte einen Kaffee heute Morgen.«

»Na, das ist ja nicht viel – vielleicht haben wir das Problem damit auch schon gefunden. Frau Lohman, gleich kommt noch ein Autounfall rein, und der Dachdecker in der Fünf muss zum Eingipsen.« Er sah wieder zu Heike. »Frau Berger, wir können Sie gerne zur Überwachung auf die Station überweisen und noch einige Tests machen.«

Heike strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich – ich würde gerne nach Hause. Ich fühle mich wieder ganz gut. Ich glaube, das war eine einmalige Sache.«

Der Arzt sah sie abschätzend an. »Nun gut. Ihre Werte sind alle im Normalbereich, den leicht erhöhten Blutdruck sollten Sie bitte mit dem Hausarzt abklären. Sollte Ihnen aber übel oder schwindelig werden, suchen Sie bitte umgehend einen Arzt auf.«

Heike nickte. »Danke, das werde ich.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich hatte sehr viel Stress heute.«

Der Arzt nickte verständnisvoll. »Ihr Blutzucker ist etwas niedrig. Vielleicht gehen Sie einfach vorne in die Cafeteria und trinken eine Cola und essen einen Happen. Gute Besserung!« Damit eilte er zum nächsten Patienten.

Die Schwester pflückte ihr die Elektroden vom Körper und reichte ihr ein Tuch. Heikes Blick fiel auf die Abdrücke auf ihrer Haut, sie wischte die Reste vom Gel ab.

»Heike?« Jochen steckte den Kopf durch die Tür, er schien nicht mehr warten zu wollen. »Kann ich reinkommen?«

Bevor Heike etwas sagen konnte, hatte die Schwester auch schon genickt, und Jochen stand neben der Liege.

»Alles gut? Mann, hast du mir einen Schrecken eingejagt.« Er legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

»Lass das.« Heike wand sich unter seiner Hand weg.

Die Schwester ließ den Blick zwischen ihnen hin und her schnellen. »Herr Berger, Ihre Frau möchte auf eigenen Willen entlassen werden. Sollten irgendwelche Probleme auftreten, kommen Sie bitte umgehend wieder her oder wählen den Notruf.«

Jochen zog die Stirn in Falten und sah Heike an. »Denkst du nicht, es wäre besser, wenn du noch hierbleibst?«

Heike ignorierte ihn. Sie knöpfte sich die Bluse zu, stand auf und straffte sich. Kein Schwindel, das war schon mal gut. Rasch bedankte sie sich bei der Schwester und wandte sich zum Gehen.

Jochen eilte ihr hinterher und bot ihr den Arm als Stütze.

»Geht schon«, sagte sie. »Der Arzt hat gemeint, ich soll eine Cola trinken und einen Happen essen. Ich gehe erst mal in die Cafeteria.« Heike behagte der Gedanke nicht, mit Jochen allein in ihrem Haus in Buckhorn zu stehen. Sie brauchte noch etwas Zeit, sich zu sammeln.

Im Gang der Notaufnahme stauten sich die Rettungsliegen, Schwestern wuselten um die Patienten herum und kümmerten sich um sie. Heike fühlte sich in Anbetracht dessen ziemlich fehl am Platz mit ihrem kurzen, wenn auch heftigen Schwächeanfall. Obwohl ihr in Jochens Gegenwart gleich wieder etwas wackelig zumute war, wollte sie hier auf keinen Fall irgendeinen Platz belegen, der dringender gebraucht wurde. Also folgte sie den Hinweisschildern zur Cafeteria.

Wenige Minuten später saß sie auf einem harten Holzstuhl an einem weißen Kantinentisch, um sie herum Patienten, von denen einige Infusionsständer vor sich her schoben, und Besucher. Der Geräuschpegel war recht laut. Jochen hatte ihr eine große Cola geholt und vor ihr abgestellt. Beinahe zögerlich nahm er nun ihr gegenüber Platz. Heike griff mit der einen Hand nach dem Cola-Glas, mit der anderen rieb sie sich die Schläfe. Sie bekam ihre Gedanken einfach nicht sortiert. Tausend Dinge rauschten ihr durch den Kopf.

Wie stellte Jochen sich das nur vor?

»Tut dir sonst irgendwas weh?«, fragte er besorgt. »Ich meine … die müssen dich vielleicht röntgen … oder du hast eine Gehirnerschütterung? Oder …«

Heike sah ihn bitterböse an. »Nein, Jochen. Bis auf die Tatsache, dass mein Mann mir vorhin mitgeteilt hat, mich nach fast achtundzwanzig Jahren Ehe einfach so mir nichts, dir nichts zu verlassen – alles gut.«

»Heike … lass uns bitte ganz in Ruhe darüber sprechen. Es tut mir leid, wenn ich dich damit überfallen habe.« Er bekam einen hilflosen Gesichtsausdruck. »Aber ich dachte … ich meine … wir haben uns in den letzten Jahren so auseinandergelebt … Du bist immer noch meine beste Freundin und Vertraute … aber … Und ich will auch keinen Streit.«

Heike hob die Hand. »Lass uns das bitte zu Hause besprechen, nicht hier.« Sie horchte zaghaft in sich hinein. Anstelle des schwarzen Nichts, das sich vorhin aufgetan hatte, fühlte sie sich recht ruhig und gefasst.

»Gut. Ich … ich hol dann mal den Wagen. Vorhin war alles zugeparkt, ich stehe ein ganzes Stück entfernt. Warte hier auf mich, ja?« Er machte Anstalten aufzustehen.

»Ja, mach das.«

Heike sah ihm nach und trank einen Schluck von der Cola. Jochen trug eine helle Baumwollhose, ein hellblaues Hemd und einen dunkelblauen Pullover um die Schultern. Er sah recht sportlich aus, fiel ihr mit einem Mal auf. Früher war er eher der gediegene, unauffällige Ehemann gewesen, jetzt hatte er einen kurzen Vollbart, trug anstelle von T-Shirts bunte Polohemden, auf denen meist irgendein schnörkeliger Schriftzug stand, der Wörter wie »Surf«, »Sail« oder »Race« beinhaltete und an deren Knopfleiste zu allem Überfluss von März bis Oktober auch noch eine Sonnenbrille baumelte. Er hatte seinen praktischen Familienkombi vor einem Jahr gegen einen sportlichen Zweisitzer ausgetauscht und ging allen Ernstes inzwischen gerne und oft auf Partys. Sie wohnten noch im selben Haus und schliefen nebeneinander im Ehebett. Das war aber auch das Einzige, was von der ehemaligen Familie Berger übrig war. Heike hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war, der in ihrem Haus lebte. Aber der Jochen, in den sie sich einst verliebt und den sie geheiratet hatte, war es nicht. Heike musste sich die Hand auf den Mund pressen, um jetzt hier in der Cafeteria des Krankenhauses nicht laut zu schluchzen. Es hatte vor gut drei Jahren angefangen, dass Jochen sich so verändert hatte. Heike wusste nicht, was der Auslöser gewesen war, und sie hatte auch nicht danach gefragt. All die Zeit hatte sie versucht, wieder einen Draht zu Jochen zu bekommen. Hatte für ihn gekocht, hatte ihn ermuntert, doch mal etwas mit ihr gemeinsam zu unternehmen. Aber wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass sie einfach nicht mehr an ihn herangekommen war.

Heike hatte zunächst nicht wahrhaben wollen, dass sich ihr Leben veränderte. Dass die Kinder aus dem Haus waren und ihre eigenen Wege gingen, war schon schwer genug gewesen. Als dann aber die Veränderungen bei Jochen einfach zu offensichtlich geworden waren, hatte Heike sich doch Sorgen gemacht. Er war ein guter Familienvater gewesen, und sie war davon ausgegangen, dass es nicht anders werden würde, wenn sie Großeltern waren. Doch während Heike die Stille im Haus betrauerte und sich nach ihrem Enkel sehnte, nahm Jochen die Gelegenheit beim Schopf und konstruierte sich ein neues Ich und gleich auch noch eine ganz neue Lebensart dazu. Dass sie beide sich dabei immer mehr voneinander entfernt hatten, hatte ihn nicht gestört. Sie hatten nie gestritten – aber so richtig Liebe war das auch nicht mehr zwischen ihnen.

Jochen kam zurück und strich sich kurz über die schwarzen Haare. Deutlich zu schwarz für sein Alter, dachte Heike. Im Gegensatz zu ihr ließ er sich seine grauen Haare regelmäßig färben. Noch so etwas, was sie nicht verstand. Es war doch keine Schande, älter zu werden.

»Der Wagen steht draußen im Halteverbot«, sagte Jochen und half ihr auf.

Heike seufzte in sich hinein. Sie würde sich dem, was nun kam, sowieso stellen müssen. »Gut – fahren wir.«