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ie bin ich da nur hineingeraten?
Ich seufze, glätte ein letztes Mal meine Kleidung und gehe auf die cremefarbene, ledergepolsterte Tür zu.
„Mia, warte!“, ruft Raphael mir nach.
Ich bleibe stehen und drehe mich um.
Er öffnet seinen kantigen Mund, als wolle er etwas sagen, schließt ihn dann wieder und lächelt mich streng an. Das Lächeln einer Person, die daran zweifelt, ob das was sie sagen wird, wirklich zweckmäßig sein wird.
Naja, ich werde nicht hier herumstehen und darauf warten, dass das Ergebnis seiner inneren Überlegungen endlich aus ihm hervorbricht. Da liegen noch zwei umfangreiche Berichte und ein Dutzend Emails auf meinem Schreibtisch, die ich alle noch bearbeiten sollte, bevor ich heute Abend nach Hause gehen kann.
Ergo, die Fristeinhaltung ist wesentlich für die Vertragserfüllung.
Ich führe meine Wanderung durch Raphaels großzügiges Büro fort, bis ich die Tür erreiche. Sie öffnet sich leicht und geräuschlos, dank ihres Hightech-Herzens. Nach einem kurzen Blick auf den Flur, um nachzusehen, ob die Luft rein ist, schlüpfe ich durch die Tür, ohne mich von Raphael oder Anne-Marie, seiner treuen Assistentin, zu verabschieden.
Wie ein Gesetzesbrecher.
Naja, vielleicht kein Gesetzesbrecher, aber definitiv ein rückfällig gewordener Brecher des Ehrenkodex am Arbeitsplatz
. Ganz besonders, Regel #1, die besagt: „Angestellte sollten keinen Geschlechtsverkehr mit hierarchisch übergestellten, untergestellten oder nachgestellten Personen haben.“
Während es geteilte Meinungen zu der genauen Bedeutung von „unterstellt“ und „nachgestellt“ gibt, ist allgemein bekannt, dass ein „Übergestellter“ mehr als nur der direkte Vorgesetzte sein kann. Dieses Konzept beinhaltet auch den Boss des Bosses, den Boss des Bosses des Bosses und der Boss von allen – den CEO.
Das ist nebenbei bemerkt eine sehr sinnvolle Vorschrift und zudem eine, der ich vollkommen zustimme und an die ich mich halte.
Während ich den Flur hinunter eile und meine Absätze auf dem Marmorboden klackern, fällt mir auf, dass ich meine Beobachtungen in die Vergangenheit hätte setzen sollen. Wie in, „ich hielt mich daran.“
Nachdem ich die erste Regel seit März zum wiederholten Male gebrochen habe, bin ich zu einer Filou und einer Heuchlerin der schlimmsten Sorte geworden.
Wie konnte ich nur so tief fallen?
Ein kleiner Hinweis: Rudolph, das Rentier mit der roten Nase ist an allem schuld.
Nur Gott weiß, dass ich das nicht geplant hatte, als ich den durchschnittlichsten Job der Welt, als Assistentin des täglichen Berichterstatters von DCA Paris bekommen habe. DCA steht für „D’Arcy Consulting und Audit“. Jepp, dasselbe „d’Arcy“, das zwischen „Raphael“ und dem Rest des extravaganten Namens auf dem Briefkopf meines Liebhabers gequetscht ist.
Sexualverkehr mit Raphael d’Arcy du Grand-Thouars de Saint-Maurice, einem Gentleman und Freigeist, zu haben, war das letzte, an das ich dachte, als ich bei der DCA anfing. Tatsächlich existierte dieser Gedanke noch nicht einmal.
Trotz meiner dunklen Vergangenheit, bin das nicht ich. Des Weiteren braucht mein Leben im Moment nicht noch mehr Komplikationen.
Vertrau mir.
Pauline Cordiers vertraute Silhouette erscheint am Ende des Flurs, gerade als ich den Fahrstuhl erreiche und den Knopf drücke. Mein Herz macht einen Aussetzer. Wenn meine direkte Vorgesetze mich auf diesem Stockwerk sieht, wird sie eines der folgenden Dinge vermuten: (a) meine Anwesenheit hier steht in Zusammenhang mit der Arbeit, was bedeutet, dass ich sie übergangen habe; oder (b) meine Anwesenheit hat nichts mit der Arbeit zu tun, was bedeutet, dass ich mit einem der Senior Manager schlafe.
Ganz unnötig zu erwähnen, dass beide Alternativen dazu beitragen mich kaltzumachen, geächtet und schlussendlich gefeuert zu werden.
Ich atme tief ein und werfe einen verstohlenen Blick auf die näherkommende Gestalt.
Es ist nicht Pauline.
Die Frau sieht ihr, jetzt wo sie näherkommt, nicht einmal ähnlich.
Puuh
.
Man mag es mir nicht glauben, aber ich war mir nicht einmal sicher wie Raphael d’Arcy aussieht, als die DCA mich eingestellt hat. Während ich seine offizielle Biographie in der Vorbereitung meines Vorstellungsgespräches durchgelesen habe, habe ich mir einen vagen Eindruck von ihm gebildet, der sich schließlich auf „jung, aus gutem Hause stammend und gut gekleidet“ reduziert hat. Die genauen Details der Familienverhältnisse des unternehmensgründenden CEOs haben sich nicht in mein Gehirn gebrannt. Ich bezweifle, dass sie überhaupt mein Gehirn betreten haben.
Einfach nur, weil sie nicht wichtig waren.
Alles was ich von Monsieur d’Arcy wollte, war ein Job in seiner Firma, der mir monatlich ein Gehalt ausbezahlte, damit ich den Hungerlohn aufpeppen konnte, den meine Schule ein Stipendium nennt. Auf diesem Weg konnte ich meine Promotion beenden, ohne unter der Brücke schlafen oder mir Geld leihen zu müssen.
Man muss dazu sagen, dass Pariser Brücken ziemlich windig sein können. Und feucht. Und was den Geruch angeht, dank der Höflichkeit von gut erzogenen Hunden und schlecht erzogenen Menschen… davon will ich gar nicht erst anfangen! Und obendrein bieten Brücken nicht ausreichend Stauraum für Recherche-Notizen, Kopien und Bücher.
Kurz gesagt, sie haben den Namen „Unterbringung“ nicht verdient.
Was das Leihen von Geld angeht, haben meine Eltern mir und Eva beigebracht, dass Schulden um jeden Preis vermieden werden sollten. Ihr Grundsatz nach dem Motto „Schulden sind schlecht“ scheint sich stärker bewiesen zu haben als die Tatsache, dass so ziemlich jeder in der westeuropäischen Gesellschaft mit einem Kredit lebt.
Das heißt, bis auf meine Eltern.
Andererseits leben sie im ländlichen Elsass. Das Leben dort ist deutlich günstiger als in la capitale
und so waren sie in der Lage es bis in ihr fünfzigstes Lebensalter zu schaffen, ohne auch nur einen einzigen Kredit aufzunehmen, der ihren Horizont hätte trüben können.
Ich trete aus dem Fahrstuhl hinaus in den zweiten Stock, erleichtert, dass mich niemand im himmelsgleichen Top Management Revier gesehen hat, als mein Telefon klingelt. Wenn man in Betracht zieht, dass ich bereits seit zwei Monaten so umherschleiche, steigt die Wahrscheinlichkeit täglich, dass mich jemand sehen wird und Pauline davon erfährt.
Das macht mir mehr Sorge, als ich es mir eingestehe.
Als ich an das Telefon gehe, holt mich Raphaels tiefes, sexy Timbre aus meinen Sorgen.
„Du hast dein Höschen hier vergessen“, sagt er und hört sich dabei amüsiert und selbstgefällig zugleich an. Kurz gesagt, er klingt wie er selbst.
„Nein, das habe ich –“
Oh Mist.
Das habe ich.
„Mir bleiben fünf Minuten bis zur Konferenz“, sagt er, „wenn du also zurückkommen und es abholen –“
„Nein!“, ich sehe mich um und rede mit leiser Stimme weiter. „Das ist schon okay. Ich bin sicher, dass ich es einen Nachmittag ohne aushalte.“
„Oh, daran habe ich keinen Zweifel. Die Frage ist eher, ob ich es den Nachmittag mit dem Wissen aushalte, dass du es nicht
anhast.“ Er pausiert, als würde er über eine Frage grübeln und fügt dann hinzu: „Und es sich in meiner Hosentasche befindet.“
Mein Magen dreht sich um.
Etwas Schmerzhaftes und dennoch angenehm Schweres braut sich in meinem Unterbauch zusammen, was mich daran erinnert, was Raphael und ich noch vor ungefähr einer halben Stunde gemacht haben. Plötzlich wird mir mit jedem Schritt meine höschenlose Situation bewusster. Das Gefühl meines seidenen Innenrockes an meiner nackten Haut lässt sie kribbeln. Mein Atem spannt sich an und mein Herz pocht in meiner Brust.
Während ich große Schwierigkeiten damit habe mich zu beruhigen, bevor ich das Büro betrete, das ich mir mit zwei weiteren Assistenten teile, erinnere ich mich an einen Moment in der Arztpraxis unseres Familienarztes in Straßburg.
„Wie lautet meine Diagnose, Herr Doktor?“, fragte ich, nachdem er mich untersucht hatte.
„Keine Sorge, mon enfant
! Du wirst es überleben.“ Er schob seine normale Brille auf seine Stirn und setzte die Lesebrille auf. „Du bist ein Fall wie aus dem Lehrbuch von lustium unwiderstehbulum
.“
„Können sie bitte machen, dass es verschwindet?“
Er lächelte und schüttelte den Kopf, während er meine Akte auf dem Computer ergänzte. „Das ist wie eine virale Erkältung. Sie wird vermutlich von ganz alleine verschwinden.“
Und das, meine Freunde, ist der zweite Hinweis in dem Mysterium, wie ich hierhergekommen bin.
Anscheinend habe ich mir ansteckende lustium unwiderstehbulum-
Viren eingefangen, die bewirken, dass ich mich zu Ladykiller Raphael d’Arcy hingezogen fühle. Und bei meinem Glück werden wir erwischt, bevor die Viren wieder verschwunden sind.
„Ich muss auflegen“, flüstere ich in das Telefon und lege auf.
Ich atme ein paar Mal tief ein, um meine Erregung abzuschütteln, bevor ich das Büro betrete.
Leichter gesagt, als getan.
Die Dinge, die Raphael sagt, das was er mit mir macht… Sie erregen
nicht nur – sie brechen in mein Gehirn ein und verwirren es auf einer tiefen molekularen Ebene. Ihnen mit moralischen Argumenten entgegen zu kommen, war genauso effektiv, als würde man versuchen, den Todesstern mit Schaumstoff-Darts zu beschießen.
Aber ich werde nicht aufgeben.
Bis zum bitteren Ende.