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ährend des ersten Monats bei der DCA Paris habe ich Le Big Boss
, wie die anderen Assistenten in meiner Abteilung ihn nennen, nicht einmal auch nur ansatzweise zu Gesicht bekommen. Was nicht sonderlich überraschend ist, wenn man die sechs Stockwerke und ungefähr gleich viele hierarchische Stufen in Betracht zieht, die uns voneinander trennen. Wenn wir uns jemals auf dem Flur begegnet wären, dann hätte er mich nicht von den anderen Assistenten unterscheiden können und ich hätte ihn nicht erkannt.
Und dann kam die alljährliche Weihnachtsfeier. Das Organisations-Komitee hatte entschieden, dass es ein Kostüm-Event sein würde und dass jeder, der es wagte ohne ein anständiges Kostüm aufzutauchen, nach Hause geschickt werden würde.
Wie es ein glücklicher oder auch unglücklicher Zufall wollte, besaß ich ein altes Kostüm, das sich perfekt für eine Weihnachtsfeier eignete – Rudolph das Rentier mit der roten Nase. Ein flauschiger Overall mit Geweihen an der großen Kapuze, welche die Hälfte meines Gesichts verbarg, und dazu eine rote Nase als Gesichtsschmuck. Das Kostüm befand sich seit meinem Abschluss am Gymnasium auf dem Dachboden meiner Eltern. Es schrie förmlich danach, wieder getragen zu werden.
Ich hätte nicht auf seine Schreie hören sollen!
Wenn ich gewusst hätte, wohin mich der Overall aus Kunstfell hinbringen würde, hätte ich ihn niemals auf die Weihnachtsfeier des Büros angezogen. Zum Kuckuck, ich wäre erst gar nicht auf die Party gegangen! Aber in Abwesenheit einer Christallkugel, mit der ich in die Zukunft hätte sehen können, schien Rudolph eine gute Idee zu sein.
Als ich den Konferenzraum betrat, der zu einer Tanzfläche mitsamt Discokugel umfunktioniert wurde, sah das alles so gar nicht nach Weihnachten aus. Spärlich bekleidete Santa-Mädels, provokative Elfen und verführerische Engel – ganz zu schweigen von Playboy Bunnies – kippten Champagner hinunter und wiegten ihre biegsamen Körper zum Rhythmus von „I Know You Want Me“. Viele von ihnen zwinkerten ihren Tanzpartnern zu, während sie mitsangen, I know you want me, You know I want cha.
Ihre männlichen Kollegen lagen nicht weit hinter ihnen. Sie stellten Superhelden-Kostüme mit Schulterpolstern zur Schau und hier und da gab es auch den ein oder anderen oberkörperfreien Santa. Fast jeder von ihnen trank, tanzte und flirtete so wild wie jemand, der es sich fest vorgenommen hatte, heute Abend einen Treffer zu landen.
Mit anderen Worten, es wurde viel Spaß gehabt.
„Der Name des Spiels lautet Finde Le Big Boss
“, sagte meine Bürofreundin Delphine, während sie mir ein Glas Schampus in die Hand drückte.
Ein Champagnerkorken schoss etwas zu nah für mein Wohlbefinden durch die Luft. Ich duckte mich, verschüttete den Inhalt meines Glases und brachte damit Delphine zum Kichern.
Als ich mich wiederaufrichtete, schaute ich mich um. „Vielleicht ist er nicht einmal hier.“
„Es geht das Gerücht um, dass er da ist.“ Delphine zwinkerte mir zu und füllte mein Glas wieder auf. „Barb und ich haben versucht herauszufinden, welcher der Iron Man er ist, indem wir auf die Statur und die Stimme achteten.“
„Ich persönlich denke, dass er keiner von denen ist“, sagte ein Black Swan im Tutu, als sie sich zu uns gesellte.
Nach eingehender Untersuchung stellte sich heraus, dass der Schwan Anya war, eine Junior-Auditorin, bekannt für ihre berühmten Eroberungen.
„Ich persönlich denke, dass er der Weihnachtsmann dort drüben ist.“ Anya zeigte auf den großen, komplett verkleideten Weihnachtsmann, der seinen Bart entlangfuhr und sich mit zwei Playboy Bunnies in einer Ecke des Raumes unterhielt.
„Da könntest du Recht haben“, sagte Delphine, als sie die Gruppe ins Auge fasste. „Ich hörte, dass Raphaels letztes Liebesabenteuer eine dieser Dreier-Fantasien war, von denen jeder Mann träumt.“
Ich grinste. „Also denkst du, dass er sich an einer Wiederholung versucht?“
„Natürlich nicht.“ Anya streckte ihr Kinn in die Luft und zog ihr dünnes Top nach unten, das vermuten ließ, dass sie keinen BH trug. „Sein nächstes Liebesabenteuer werde ich
sein.“
Damit stolzierte sie auf den Weihnachtsmann zu, mit erhobenem Haupt und schwungvollem Gang. Ich kam nicht umhin mir vorzustellen, wie sie mit ihren hervorstehenden Brüsten um sich schießt, die Bunnies vernichtet und sich Le Big Boss
schnappt.
Zumindest für diese Nacht.
„Viel Spaß, ma cocotte
“, sagte Delphine zu mir, als sie sich abwendete, um einen Neuankömmling zu begrüßen.
Ich entfernte mich aus der Champagnerkorken-Flugzone und vom bevorstehenden Bunny-Massaker. Da ich nicht die Absicht hatte, Raphael d’Arcy ausfindig zu machen, hielt ich mich den ganzen Abend von Superhelden und Santas fern und hielt mich eher an die älteren, konservativer gekleideten Kollegen. Irgendwann tanzte ich mit einem ebenfalls in einen Overall gehüllten Schneemann, der als Nase eine überdimensionale Karotte im Gesicht trug. Aber ansonsten nippte ich nur an meinem Champagner und unterhielt mich mit den ü50-Partygästen über Politik.
Das Problem war, dass die besagten Gäste sich schnell nach Mitternacht verabschiedeten. Um ungefähr ein Uhr nachts wurde es zunehmend schwerer jemanden zu finden, dem mehr daran lag sich zu unterhalten, als rumzumachen. Nicht, dass irgendjemand – weiblich oder männlich – mit Rudolph mit der roten Nase rummachen wollen würde.
Mein zweites Problem bestand darin, dass es zunehmend heißer und unangenehmer in meinem Kunstfell-Kostüm wurde. Ich wäre an dieser Stelle gegangen – ich hätte gehen sollen!
– aber Delphine und ich hatten ausgemacht, dass wir uns die Taxifahrt nach Hause teilen würden, da wir im gleichen Arrondissement lebten.
Leider war Delphine zu der Zeit, als ich bereit gewesen wäre zu gehen, in einen fortgeschrittenen Flirt mit dem Hulk vertieft, der Alberto stark ähnelte, auf den sie seit langer Zeit ein Auge geworfen hatte.
Unvorstellbar zu denken, dass sie zu diesem Zeitpunkt gehen würde.
Ich seufzte, füllte mein Glas auf und ging hinaus auf den dunklen Balkon. Ich nahm meine rote Nase ab und richtete mein Gesicht nach oben, um es etwas in der kalten Dezemberluft abzukühlen. Fünf Minuten später, hatte ich den größten Spaß alleine auf dem Balkon, der eigentlich eher eine Terrasse war, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte. Meine Körpertemperatur war gefallen und mein champagnergetränktes Gehirn wurde wieder so klar, dass ich bemerkte, dass der Balkon, den ich willkürlich für meine Flucht wählte, den besten Blick über Paris eröffnete, den ich jemals gesehen habe.
Meine Nacht war gerade dabei besser zu werden.
Während ich über die Brüstung blickte, meinen Champagner hinunterkippte und die hell erleuchtete Stadt bewunderte, stolperte jemand hinaus und kam neben mir zum Stehen.
Es war der Schneemann, mit dem ich zuvor getanzt hatte.
Er nickte mir zu und stieß seine Bierflasche an mein Glas. „Auf dein Wohl.“
„Und auf deines“, sagte ich und versuchte herauszufinden, wie betrunken er war.
Und ob sein Erscheinen mich verärgerte oder eher fröhlich stimmte.
Verärgert
, entschied ich. Definitiv
!
Anders als wir seriösen Rentiere, sind Schneemänner eher unbeständig.
Sie können zu jeder Zeit um einen herum schmelzen.