Kapitel 3
R udolph, mein Freund, ich fühle mit dir“, sagte der Schneemann, nachdem er sich mir zuwendete. „Hier drin ist es wie in einer verdammten Sauna. Ist es immer so heiß in unseren Büros?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist die Schuld der Feen.“
„Ähm…?“
„Linda und Cat“, erklärte ich weiter, „es war ihnen in ihren hauchdünnen Fetzen zu kalt, also haben sie die Heizung vor etwa einer Stunde hochgedreht.“
„Ich verstehe.“
Der Schneemann kam etwas näher und stellte sein Bier auf die Brüstung. Sein Gesicht war noch immer komplett von seiner Kopfbedeckung verdeckt, aber seiner Stimme nach zu urteilen, muss er mindestens zwanzig Jahre jünger sein, als ich ihn geschätzt hatte, als wir kurz getanzt hatten.
Er hatte seinen Mund währenddessen nicht geöffnet, also nahm ich an, dass er aufgrund seines lustigen Kostüms und seines verrückten Tanzstils älter sein muss. Es erinnerte mich an den Schneemann aus Die Eiskönigin und er offenbarte ein Level von Selbstironie, dass für Männer unter vierzig eher untypisch ist.
Mein Freund, der ebenfalls der Erwärmung unseres Arbeitsplatzes zum Opfer gefallen war, streckte die Hand aus. „Ich bin Olaf der Schneemann. Du kannst mich Olly nennen.“
Ah, also lag ich mit Die Eiskönigin nicht falsch.
„Ich bin Rudolph das Rentier mit der roten Nase“, sagte ich. „Du kannst mich auf gar keinen Fall Rudy nennen.“
Wir schüttelten uns die Hände, mein brauner Fäustling an seinem weißen.
Olaf streifte sich die Fäustlinge ab und nahm ein Schluck von seinem Bier. „Oh, das tut gut. Ich habe angefangen innerlich zu schmelzen.“
Ich lächelte ihn mitfühlend an.
„Ich wage es kaum zu fragen, wie du dich gefühlt haben musst.“ Er richtete eine unerwartet attraktive Hand auf mich. „Mit dem ganzen Fell auf deiner Brust.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Wie ein lappländisches Rentier, das einen Fallschirmsprung über Afrika gemacht hat.“
„Du bist neu bei der DCA, richtig?“, fragte er plötzlich.
„Mhm. Du?“
„Nicht mehr.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Auditor?“
„Um Gottes willen, nein. Ich bin schrecklich im Umgang mit Zahlen.“
„Was dann?“
„Redaktionsassistentin.“
Er kommentierte dies nicht, aber ich konnte beinahe sein Gehirn brummen hören, während er versuchte herauszufinden, worin mein Sinn für die DCA bestand.
„Das Mitteilungsblatt“, erläuterte ich.
Er hob sein Kinn verständnisvoll. „Natürlich! Ich Dummerchen. Das lese ich jeden Tag!“
„Und das solltest du auch“, sage ich steif. „Besonders den Weltpolitik-Teil, verfasst von diesem Rentier.“
Er tat so, als würde er den Hut vor mir ziehen.
„Wie verdienst du dir deinen Lebensunterhalt, Olly?“, fragte ich.
„Ich auditiere.“
„Clevere Karrierewahl.“
„Ich denke, ja.“ Er zuckte leicht mit den Schultern. „Was hast du studiert?“
„Geschichte.“
„Ich verstehe“, sagte er.
„Das tust du?“
„Es ist eines von diesen spaßigen Fächern, die dir aber keinen gutbezahlten Job einbringen.“
Ich seufzte. „Und dennoch bleibe ich auf meinem Weg der wirtschaftlichen Marginalisierung.“
„Was meinst du?“
„Ich bin als Doktorandin immatrikuliert.“
„Welches Thema?“
„Prostituierte im mittelalterlichen Paris.“
„Wow“, sagte er. „Hast du ein paar lustige Details für mich?“
„Prostitution ist nicht wirklich ein lustiges Thema…“
„Ach, komm schon!“ Er verpasste mir einen leichten Stups. „Spiel nicht die Eingebildete. Ich bin sicher, du hast Dinge ausgegraben, die zumindest ein wenig unterhaltsam sind.“
„Okay, lass mich nachdenken.“
Ich durchforstete mein Gehirn nach einer Tatsache, die sich als unterhaltsam qualifizieren würde. Okay, hier kommt sie . „Huren wurden gesetzlich dazu aufgefordert, spezielle Kleidung zu tragen, um sich von ehrlichen Frauen zu unterscheiden.“
Er stützte sich mit einem Ellbogen auf der Brüstung ab und drehte sich komplett zu mir. „Wie Miniröcke?“
„Jaha, genau.“ Ich kräuselte die Lippen. „Es konnte ein Umhang, ein Gürtel in einer bestimmten Farbe oder ein bestimmter Typ von Kopfschmuck sein.“
„Was noch?“
„Hmm…“ Ich tippte mir an das Kinn. „Okay, da gibt es noch etwas. Die Entscheidung darüber, in welcher Nachbarschaft sich die maisons closes befinden sollten, wurde oft von den höchsten Instanzen getroffen. In Paris, zum Beispiel, war es Louis IX, der entschied, sie im Beaubourg Viertel zu errichten.“
„Das macht Sinn.“
„Warum?“
„Es gibt eine Straße, die von der Rue de Rivoli abzweigt, die nach Bad Boys benannt ist – Rue des Mauvais-Garçons“
„Tatsächlich hat der Name dieser Straße nichts mit Huren zu tun.“
„Was für eine Enttäuschung.“
„Aber der Name der Rue Petit-Musc. Der ursprüngliche Name war Rue Pute-y-Musse. Hier versteckt sich eine Hure.“
„Faszinierend.“ Sein Blick verweilte auf dem unbedeckten unteren Teil meines Gesichts. „Noch ein Detail?“
„Na gut“, sagte ich. „Ein Letztes.“
„Dann ist es hoffentlich ein Gutes.“
„Olly.“ Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Werd' nicht frech . Das funktioniert nicht so gut, wenn du als Schneemann verkleidet bist.“
„Da hast du Recht, Rudolph.“ Er zog an seiner Karotten-Nase damit sie nach unten zeigte. „Ich bin demütig.“
Ich biss mir auf die Unterlippe, um ein Lächeln zu verstecken. „Also, wegen allgemeiner Nachfrage, hier ein weiteres Detail: Ausländische Staatsgäste wurden für eine besondere Behandlung zu luxuriösen Bordellen gebracht und das bis ins späte neunzehnte Jahrhundert.“
„Oh, ich kann mir ihr offizielles Programm nur zu gut vorstellen“, sagte er und Ausgelassenheit tränkte seine Stimme. „15 Uhr: Lagebesprechung im Außenministerium; 19 Uhr: Abendessen im Elysée Palast; 23 Uhr: Zungenkuss in Beaubourg.“
Ich kicherte und stellte fest, wie tief und samtig Olafs Stimme war. Tatsächlich war sie wirklich sehr schön.
Das heißt, für einen Schneemann.
„Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss“, sagte ich. „Aber das offizielle Programm enthielt keine Form von Küssen. Diese Ausflüge wurden meistens als ‚ein Besuch beim Präsidenten des Senats‘ getarnt.“
Er warf den Kopf zurück und brach in Gelächter aus.
Während der nächsten fünf Minuten sahen Olly und ich uns die festlichen Lichter von Paris in stillschweigender Gesellschaft an. Als der Eifelturm seine stündliche Show aus tanzenden Lichtern startete, wurde ich mir Ollys physischer Präsenz auf sehr durcheinanderbringende Art und Weise bewusst. Er sah immer noch so ulkig in seinem unpassenden Kostüm aus, wie ich es tat. Aber sein sexy Bariton und seine schönen Hände ließen mich andere Dinge an ihm wahrnehmen, wie zum Beispiel seinen großen Körper und seine breite Brust.
Das war sehr verwirrend.
„Wer hätte gedacht, dass es spaßig sein könnte ein Klima-Flüchtling zu sein“, sagte er und brach damit das Schweigen.
„In meinem Fall ist es das Klima und das Kreuzfeuer.“
„Wie das?“
„Champagner.“
Er zog die Augenbrauen zusammen.
„Sobald jemand eine Flasche knallen lässt“, sagte ich, „rechne ich damit, dass der Korken mich im Auge trifft.“
„Selbst, wenn die Flasche auf die Wand auf der anderen Seite gerichtet ist?“
Ich nickte. „Ich erwarte, dass der Korken an der Wand abprallt und mich dann im Auge trifft.“
„Ist das jemals zuvor passiert?“
„Nein“, gab ich zu. „Was die statistische Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es tatsächlich passieren könnte.“ Schuld überkam mich bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte und ließ mich diese unangebrachte Schlussfolgerung bereuen.
Wie konnte ich es wagen, mich mit richtigen Flüchtlingen zu vergleichen, die vor bewaffneten Auseinandersetzungen flüchteten?
Dann hörte ich Ollys leises Kichern und etwas Merwürdiges passierte. Die Scham und die Schuld zogen in weitentfernte und verlassene Bereiche meines Gehirns und hinterließen ein wunderbares Schwindelgefühl. Schon bald würden diese Gefühle in all ihrer klebrigen Herrlichkeit zurückkommen, um Rache zu üben. Das giftige Duo hatte mich nie für allzu lange Zeit allein gelassen, nicht seit der Katastrophe . Aber genau dort, auf dieser verwunschenen Terrasse, überreichte mir das Duo ein Weihnachtsgeschenk – ein seltener Moment von wahrhaftiger und uneingeschränkter Freude.
Und ich nahm es ohne zu fragen an.
„Geht es nur mir so, oder ist es hier draußen wärmer geworden?“, fragte Olly.
Es ging nicht nur ihm so. Ich habe es definitiv auch gespürt.
Lag es am Kostüm? Wenn das der Fall war, dann sollte ich meinen unnützen Wollmantel hinauswerfen und Rudolph den ganzen Winter über tragen. Oder vielleicht wurden wir Zeugen von einer echten Periode der globalen Erwärmung, die so gar nichts mit Märchen, Heizungen oder Kunstfell zu tun hatte.
„Du hast Recht“, sagte ich. „Die Luft ist für den späten Dezember abnormal warm. Wenn du ein echter Schneemann wärst, dann wärst du jetzt nur noch eine Pfütze zu meinen Füßen.“
„Wenn du ein echtes Rentier wärst“, erwiderte er mir, „hättest du ‚zu meinen Hufen‘ sagen müssen.“
Ups.
Er neigte den Kopf zur Seite. „Und wenn du wirklich ein echtes Rentier gewesen wärst, dann hättest du gar nichts gesagt. Dann hättest du mich abgeleckt und an meiner Karotte geknabbert.“
War das gerade eine zweideutige Anspielung in seinen Worten oder war das nur mein unanständiger Kopf?
Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber ich konnte fühlen, wie sein Blick sich in meinen bohrte.
In diesem Moment realisierte ich, wie sehr ich darauf brannte sein Gesicht zu sehen.
„Ist dir nicht zu heiß mit deinem Kopfschmuck?“, fragte ich.
Er schnaubte. „Hättest du gerne, dass ich mich kopflos mache, Rudy?“
„Ich mache mir nur Sorgen um dein Wohlbefinden.“ Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Und für dich bin ich immer noch Rudolph.“
Flirtete ich gerade? Wie untypisch für mich.
„Nee, du bist Rudy“, sagte er und legte eine Betonung auf „Rudy“, als wäre es eine super sexy Schmeichelei… außer, mein unanständiger Kopf wollte das nur hören.
Und dann nahm er seinen Kopfschmuck ab.
In der Dunkelheit konnte ich keine präzisen Details oder die Farbe seiner Augen erkennen, aber ich konnte seine gewellten Haare, seine hohen Wangenknochen, seine kräftigen Kieferknochen und die Form seiner Nase erkennen. Alles deutete darauf hin, dass Ollys Gesicht genauso schön wie seine Stimme war.
Außerdem kam er mir irgendwie bekannt vor, auch wenn ich nicht wusste woher. Auf der anderen Seite waren wir Kollegen. Ich muss schon einige Male mit ihm zusammen im Fahrstuhl gestanden haben.
„Du bist dran“, sagte er und kam einen Schritt auf mich zu.
Seine Zähne blitzen in einem unschuldigen Lächeln auf, aber seine Stimme und seine Haltung vermittelten etwas weitaus weniger Unschuldiges. Ich erwartete beinahe, dass ihm von jetzt auf gleich Fangzähne wachsen würden und er sie in meinem Hals vergraben würde.
Gott steh mir bei, ich verzehrte mich nach diesem Biss.
„Und was für ein großes Maul du hast, Großmutter!“, sagte ich und riss meine Augen für den Effekt auf.
Er blinzelte und lachte dann.
Ich liebte sein Kichern.
Dir soll Ehre zuteil werden, Mia, weil du dich vor einem Wolf gerettet hast!
Woher dann der Anflug von Frustration?
Ich zog an meiner Kapuze und enthüllte meine obere Gesichtshälfte vor ihm.
Er hörte auf zu Lachen und kam näher.
„Deine Augen sind grün“, sagte er, als er sich zu mir hinunter lehnte.
Sein Mund war so nah.
Er war groß, aber auf eine saubere, männliche und unfassbar attraktive Art und Weise. Und habe ich erwähnt, dass er roch, als wäre Sexappeal sein Zweitname?
„Spielt die Farbe meiner Augen eine Rolle?“, fragte ich.
Warum ist meine Stimme plötzlich so rau geworden?
Oh Mia, du weißt ganz genau warum.
„Nein“, sagte er und kam mir noch näher.
Wir berührten uns nun beinahe.
„Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“, fragte er.
Ich nickte.
„Ich bin ein lesbischer Schneemann.“
Ich zog die Augenbrauen nach oben.
„Es gibt so viele gutaussehende Santas hier“, – er zeigte in Richtung des Konferenzraumes – „und dennoch ist es das Rentier, das ich küssen will.“
Ich schluckte.
„Tatsächlich“, sagte er und neigte seinen Kopf zur Seite, „habe ich bereits seit ein paar Stunden das Verlangen sie zu küssen, seit sie mit mir getanzt hat.“
Und dann presste er seine Lippen auf meine.
Ich schnappte nach Luft, als sein Duft in meine Nasenflügel eindrang. Seine Zunge glitt zwischen meinen Lippen hindurch. Er schmeckte himmlisch. Hinter dem leichten Geschmack des Bieres, das er getrunken hatte und einem Hauch von Zahnpasta, verbarg sich die Essenz von Olly.
Und sie war lecker.
Seine Zunge erkundete meinen Mund mit souveränen und forschenden Stößen und ich konnte nicht anders, als den Kuss zu erwidern. Mit Enthusiasmus. Er zog mich näher zu sicher heran, löste den Haargummi und fuhr mit der Hand durch meine Haare.
Oh oui.
Plötzlich ließ er von mir ab und wich zurück.
Ich stand da, keuchend, benommen von seinem Geschmack und komplett desorientiert.
„Du bist Mia, oder?“ fragte er, legte währenddessen seinen Kopfschmuck wieder an und richtete seine Nase aus.
„Woher weißt du –“
„Jemand ruft nach dir. Sie brüllen deinen Namen nun schon seit fast fünf Minuten.“
Mit erheblicher Anstrengung gelang es mir, mein Umfeld wahrzunehmen. Jemand – oder etwas spezifischer, Delphine – rief tatsächlich meinen Namen.
„Ich sollte zu ihr gehen“, sagte ich.
Er nickte und zog die Tür auf.
Als ich in den Raum stolperte, stieß ich mit Delphine zusammen, die gerade dabei war auf die Terrasse hinauszugehen, um nach mir zu sehen.
„Da bist du ja!“, grinste sie erleichtert. „Bereit nach Hause zu gehen?“
„Was ist mit Alberto?“
Sie versuchte eine gewisse Lässigkeit vorzutäuschen. „Es hat sich herausgestellt, dass er verheiratet ist.“
„Ohh. Das tut mir sehr leid.“ Ich berührte sie mitfühlend am Arm.
„Es ist okay.“ Delphine zog ihr Telefon hervor und begann zu scrollen. „Wie lange warst du da draußen und hast dir deinen Rentierhintern abgefroren?“
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Mehr als eine Stunde. Es schien mir eher, als wären es fünfzehn Minuten gewesen.
Delphine verengte ihre Augen zu Schlitzen. „Und was genau hast du alleine mit einem Schneemann gemacht?“
Ich sah mich um, nur um festzustellen, dass Olly verschwunden war.
Zum Glück entdeckte Delphine in diesem Moment das auf ihrem Telefon, wonach sie suchte. Sie tippte, hielt es an ihr Ohr und sagte dann dem Taxiunternehmen wo wir waren.
Das verschaffte mir die Zeit, mir eine Antwort zu überlegen. „Was denkst du, was ein Rentier und ein Schneemann anstellen könnten, wenn sie alleine sind?“
„Keine Ahnung.“
Ich lächelte triumphierend. „Sie lästern natürlich über ihren Boss, Santa.“
Delphine verdrehte die Augen und hakte nicht weiter nach.
Fünf Minuten später, kletterten wir in unser Taxi. Während wir nach Hause fuhren, beide in unseren eigenen Gedanken vertieft, fiel mir auf, dass Olly mir seinen richtigen Namen nicht verraten hatte. Vielleicht war unsere Verbindung nur einseitig und er hat den Kuss nicht so sehr genossen, wie ich es tat.
Sich mit einem Kollegen einzulassen ist keine gute Idee , hatte ich als eine Art Trost zu mir selbst gesagt.
Wie sehr ich mir wünsche, dass ich ihn damals auch erkannt hätte!
Denn wenn ich es hätte, dann wäre ich vier Monate später nicht der lustium unwiderstehbulum für Raphael d’Arcy verfallen. Mein elsässischer gesunder Menschenverstand hätte mich davor warnen sollen, dass etwas mit dem frauenumschwirrten CEO des Unternehmens, in dem ich arbeite, anzufangen, nicht nur eine schlechte Idee war.
Es war die Mutter aller schlechten Ideen.