„
D
a wir euch beide nicht oft gleichzeitig zu sehen bekommen“, sagt Papa, während er Eva und mir Teller mit einem riesigen Stück Flammkuchen darauf gibt, „dachte ich, ich mache etwas Traditionelles.“
„Juhu!“, Eva vergräbt ihre Gabel in ihrem Stück. „Ich liebe Flammkuchen.“
„Ich weiß.“ Papa beobachtet sie, während sie auf dem ersten Bissen herumkaut. „Urteil?“
Eva schluckt und hebt ihr Weinglas in die Luft. „Drei leckere Sterne.“
Papa grinst zufrieden.
„Der Riesling könnte aber besser sein“, verkündet meine Schwester mit der Nase in ihrem Glas.
„Wirklich?“ Papa nimmt einen Schluck von seinem eigenen Glas und nickt. „Nächstes Mal suchst du ihn aus, okay?“
Eva verneigt sich theatralisch. „Es wird mir eine Ehre sein, mein Herr.“
Die beiden hatten schon immer eine besondere Verbindung, verfestigt durch ihre positive Einstellung und ihre Liebe zu gutem Essen. Mama und ich haben eher weniger heitere Charakterzüge. Was nicht automatisch bedeutet, dass wir beide in den Genuss einer ähnlichen Verbindung wie Eva und Papa kommen.
Wenn ich es mir recht überlege, habe ich so eine „Verbindung“ eigentlich zu niemandem.
Einmal, während unserer Jugend, machte Eva einen Kommentar, der mir in Erinnerung geblieben ist.
„Warum bist du immer so distanziert?“, fragte sie.
Ich habe dieser Charakterisierung natürlich nicht zustimmen können, aber ich wunderte mich – warum eigentlich? Und erst vor ein paar Jahren, nach vielen Stunden der Seelen-Recherche, fand ich heraus, was mich davon abhält ein vertrauensvolleres Verhältnis zu Mama und Papa zu haben, so wie es Eva tut.
Es ist das Fehlen von Zuneigung.
Gott weiß, ich liebe die beiden. Mit Eva zusammen gehören sie zu meinen Lieblingsmenschen auf dieser Welt und mein dringendster Wunsch ist es, dass sie so gesund und so glücklich wie nur irgendwie möglich sind.
Was mich zurückhält ist Angst. Ich habe Angst davor, sie näher an mich heran zu lassen, weil sie dann sehen könnten, wer ich wirklich bin und es ihnen nicht gefallen könnte.
Ich ziehe mich aus Evas und Papas angeregter Unterhaltung zurück, während eine alte Erinnerung, so lebhaft wie noch nie, in meinem Kopf auftaucht.
Ich bin dreizehn.
Ich wache mitten in der Nacht von den ungewöhnlich lauten Stimmen meiner Eltern aus der Küche auf. Sie befinden sich in einer angeregten Unterhaltung mit einer dritten Person, einer Frau, die ich nicht identifizieren kann. Von Neugier gepackt, gehe ich auf Zehenspitzen den Flur hinunter und setze mich oben auf die erste Treppenstufe und höre zu.
„Wenn Sie mir also die fünftausend leihen könnten“, sagt die unbekannte Frau, „werde ich meine Schulden ganz abbezahlen können.“
„Und Sie sind sicher, dass Ihr Zuhälter Sie gehen lassen wird?“, fragt Papa.
Ich schlage geschockt die Hand vor den Mund. Ich habe genug verbotene Filme gesehen, um zu wissen was ein Zuhälter ist.
„Oh, das wird er“, sagt die Frau. „Ich bin nicht irgendeine hilflose Osteuropäerin, die ihre Rechte nicht kennt und sich vor Angst in die Hosen macht. Ich bin Französin und ich habe mich abgesichert.“
„Kluge Frau“, sagt Mama.
„Sein einziges Druckmittel ist das Geld, das ich ihm schulde“, sagt die Frau.
Ein Moment der Stille folgt und dann spricht die Frau wieder. „Ich habe meine Familie gefragt, meinen Bankier, aber da war nichts zu holen. Glauben Sie mir, ich wäre nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich eine andere Möglichkeit gehabt hätte.“
„Sie sind an den richtigen Ort gekommen“, sagt Mama.
„Ich habe letzten Sonntag Ihre Predigt über Neuanfänge gehört.“ Die Frau pausiert bevor sie fortfährt, „sie hat mich inspiriert.“
„Geben Sie uns ein paar Tage, um darüber nachzudenken und unsere Finanzen abzuklären, okay?“, sagt Papa.
Ich habe keine Zweifel daran, was das Ergebnis ihres Denkprozesses sein wird. Sie werden ihr helfen. Nicht genug damit, dass sie beruflich bereits Helfer sind – als Pastorin und Polizist – aber sie senden obendrein auch noch monatlich Schecks an das Rote Kreuz, Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International. Sie unterstützen außerdem vier kleine Mädchen auf verschiedenen Kontinenten, indem sie ihre Schulgebühren bezahlen. Wenn sie handgeschriebene Briefe von diesen Mädchen erhalten, nehmen sie sich die Zeit, um lange, gut durchdachte Antworten zu verfassen.
Kurz gesagt, Helfen ist das was meine Eltern eben tun, sowohl für den Lebensunterhalt als auch zum Spaß.
„Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen“, sagt die Frau mit hörbaren Emotionen in der Stimme.
Ich höre Stühle rücken und krabble von der Treppe weg.
„Wir werden Sie vor dem Wochenende anrufen“, sagt Mama als sie die Tür öffnet. „Und vergessen Sie nicht, Sie sind nicht alleine, Suzelle.“
Suzelle
.
Während der nächsten beiden Tage ist alles an was ich denken kann, Suzelle, die reumütige Sünderin. Wie sehr ich mir wünschte, einen Blick auf sie erhascht zu haben! Ich bin erfüllt von einer Mischung aus Faszination und Ehrfurcht für die gefallene Frau, die entschlossen ist, ihr ungeweihtes Leben hinter sich zu lassen. In der Hoffnung sie zu sehen, wenn sie wiederkommt – falls
sie wiederkommt – halte ich mich wach, indem ich mit einer Taschenlampe unter meiner Bettdecke lese.
Und dann, Freitagnacht, höre ich meine Eltern über das Thema in der Küche reden – nur dieses Mal ohne Suzelle.
„Ich werde es dem Commissaire
melden“, sagt Papa, ohne die übliche Wärme in seiner Stimme. „Das ist meine Pflicht.“
„Wir haben ihr versprochen, dass wir sie anrufen“, sagt Mama.
„Wir müssen uns an dieses Versprechen nicht halten, Petra. Wir sind ihr nichts schuldig.“
Es herrscht eine lange Pause und dann sagt Mama: „Du hast Recht.“
Danach löschen sie das Licht in der Küche, ich tappe leise zurück in mein Bett, schlüpfe unter die Decke und
versuche dabei Eva nicht aufzuwecken.
Unnötig zu erwähnen, dass ich in dieser Nacht nicht geschlafen habe.
Anstatt heimlich Suzelle zu helfen, würden meine Eltern die Polizei auf ihren Zuhälter ansetzen. Sie beschlossen lieber das Richtige
zu tun, anstatt das zu tun, was nett
gewesen wäre. Selbst wenn es Suzelle in Gefahr bringt.
Vielleicht hatte ihr Mitgefühl also doch Grenzen.
Und diese schlossen gefallene Frauen nicht ein.