I
ch strecke meine Beine im luftigen Foyer des Centre Pompidou aus und versuche gegen die Versuchung anzukämpfen, mir die Dadaismus Ausstellung anzusehen. Aber der Grund, warum ich hier bin ist ein anderer. Es geht um die Arbeit.
Meine „Hauptarbeit“, wenn man es genau nimmt.
Ich bin heute Abend im Centre Pompidou – genau wie bereits gestern Abend und wie ich es auch morgen sein werde – weil seine gut ausgestattete Bibliothek bis 22 Uhr geöffnet ist. Das heißt, dass ich direkt von der Arbeit hierherkommen und ganze drei Stunden an meiner These schuften kann.
Heute Abend war ich besonders inspiriert. Nicht nur habe ich es geschafft, eine Quelle aus dem dreizehnten Jahrhundert zu finden, sondern ich habe es tatsächlich auch hinbekommen, etwas zu schreiben. Ach, zur Hölle mit falscher Bescheidenheit. Ich habe heute wirklich viel geschrieben und – das Beste – ich habe Teil zwei meiner These fertiggestellt.
Gut gemacht, Mia!
Seit heute ist exakt die Hälfte meiner Dissertation beendet, bereit meinem Betreuer vorgelegt zu werden und für Tagungsbeiträge und Zeitschriftenartikel verwendet zu werden. Und dazu kommt, dass ich einen Monat vor der Deadline liege, die Professor Guyot und ich vereinbart haben.
Was soll ich sagen?
Mia Stoll rockt.
Eines Tages wird sie eine anerkannte Fachfrau sein, wenn es um die Huren des mittelalterlichen Paris geht. Nein, denk größer! Sie wird die weltweit größte Expertin für Frauen im mittelalterlichen Frankreich sein.
Ich drehe mich um, um zurück in die Bibliothek zu gehen und stoße mit jemandes breiter Brust zusammen.
Einer wohl vertrauten Brust.
„Hey Rudy“, sagt Raphael, schlingt seinen Arm um mich und drückt mir einen Kuss auf den Mund.
Meine Augen schließen sich, als ich seinen Duft wahrnehme und seine Lippen auf meinen fühle.
Warte… was tut er hier?
Ich entziehe mich seinem Griff. „Solltest du nicht in Rio sein?“
„Ich bin zwei Tage früher zurückgekommen.“ Er zuckt mit den Achseln. „Die Arbeit war erledigt und es war unsinnig dort herumzubummeln.“
„Unsinnig in Rio
herumzubummeln?“ Mann, ist der übersättigt. „Sagtest du nicht, dass du die Stadt erkunden wolltest?“
„Das habe ich. Und ich wollte… aber dann…“ Er lächelt mich schief an. „Habe ich festgestellt, dass ich meinen Ferrari vermisse.“
Ich schaue ihn ungläubig an. „Lass mich das richtig darlegen. Du hast Rio zwei Tage früher verlassen, weil du dein Auto vermisst hast.“
Er nickt.
„Armer liebeskranker Mann.“ Ich berühre ihn mitfühlend am Oberarm. „Fühlt dein Ferrari auch so wie du?“
„Sie hat nichts gesagt – da sie ja nicht sprechen kann – aber sie leuchtete auf, als sie mich vorhin sah.“ Er strahlt.
Ich strahle zurück. „Das ist ein gutes Zeichen.“
„Na, wie läuft es mit der Studie?“
„Ich habe eben Teil zwei beendet.“
„Madame Stoll.“ Er tut so als würde er den Hut vor mir ziehen. „Das verdient ein feierliches Abendessen.“
Ich grinse nur und bin auf eine lächerliche Art und Weise stolz auf mich selbst.
„Da wir es gerade vom Abendessen haben, hast du schon gegessen?“, fragt Raphael. „Ich verhungere – bin direkt vom Flughafen hierhergekommen.“
„Ich hab‘ auf dem Weg vom Büro hierher ein Sandwich geholt.“
Einen Moment mal…
Hat er gerade gesagt, dass er direkt vom Flughafen hierhergekommen ist? Ich dachte, er wäre erst nach Hause gegangen, um nach seinem Ferrari zu schauen, der für ihn „aufgeleuchtet“ hat?
Raphael zieht eine Fratze. „Ein Sandwich zählt nicht als Abendessen. Wie wäre es mit dem Restaurant auf der Rue Rambuteau, wo wir letzte Woche waren?“
Das Restaurant, das Kobe Rind Steaks zum Preis meiner Monatsmiete verkauft und wo es vor Stars nur so wimmelt, von denen manche Raphael mit „Hi, Baby, wir sollten uns mal wieder treffen“ begrüßen?
Nein, danke.
„Geh du dort hin“, sage ich. „Ich habe heute Abend einen unheimlich produktiven Lauf. Ich möchte noch etwas schreiben.“
„Nicht einmal Georges oben auf dem Dach hier?“
Ich schüttle meinen Kopf.
Er schaut sich um und geht einen Schritt auf den Fahrstuhl zu. „Folge mir.“
Neugierig, tue ich wie geheißen.
Wie sich herausstellt, führt er mich zum Mezzaninen Café.
„Sofern du keine ernsthaften und gut gerechtfertigte Einwände hast“, sagt er und führt mich zu einem Tisch an der Balustrade, „bestelle ich dir deinen Lieblingsbrownie und einen Chai Latte und etwas Nahrhafteres für mich.“
Er macht auf dem Absatz kehrt und geht auf die Theke zu, bevor ich auch nur meine Einwände äußern kann.
Ganz ehrlich. Männer.
Als er mit einem überladenen Tablett zurückkommt und ich meine Zähne im Brownie vergrabe, bin ich weitaus weniger über seine Ungezwungene Art verärgert.
„Hast du deinen Laptop bei dir?“, fragt er.
„Natürlich.“ Ich zeige auf meinen Rucksack auf dem Boden. „Ich bin nicht verrückt genug, um ihn unbeaufsichtigt in einer öffentlichen Bibliothek zu lassen.“
„Zeigst du mir eine interessante Passage aus einem neuen Kapitel?“
Jedes Mal, wenn er mich das bittet, bin ich unbeschreiblich aufgeregt.
Also tue ich so als wäre ich beleidigt. „Willst du mir damit sagen, dass es in meiner These Passagen gibt, die langweilig
sind?“
„Ja“, sagt er unbeeindruckt. „Wenn es keine davon hätte, dann wäre es ein Stephen King Roman.“
Da hat er nicht ganz Unrecht.
Ich öffne meinen Laptop und scrolle durch meine neuen Kapitel.
Hmm... für mich sieht alles interessant aus… Okay, wie wäre es damit?
Ich drehe den Bildschirm zu ihm und zeige darauf. „Ließ das hier.“
„Während des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, hatte die Sex-Arbeiterin keinen Rechtsstatus und es war ihr nicht einmal erlaubt, vor Gericht für sich selbst zu sprechen. Aber ihr Recht auf Bezahlung ihrer Dienste war fest in den normannischen Gesetzen verankert und geschützt. Der einflussreiche englische Kanonist Thomas of Chobham, der in Paris in den Jahren um 1180 studierte, schrieb: „Für eine Frau gehört es sich nicht eine Prosituierte zu sein, aber wenn sie eine ist, gehört es sich sehr wohl, dass sie ihren Lohn erhält. Aber wenn sie sich für ihr eigenes Vergnügen prostituiert und ihren Körper dafür zur Verfügung stellt, ist der Lohn so teuflisch, wie die Tat selbst.“
„Ha!“, sagt er und schaut zu mir auf. „Was dieser Thomas also im Grunde sagt ist, dass es eine milde Sünde ist, wenn eine Frau Sex für Geld hat, aber dass es eine schwere Sünde ist, wenn sie es zum Vergnügen tut. Richtig?“
„Das ist nicht genau das, was er sagt, aber du bist nicht weit davon entfernt.“
„Also ich bin froh, dass mittelalterliche Kanonisten bereits tot und vergraben sind, zumindest in diesem Teil der Erde.“
„Da bin ich nicht so sicher.“ Ich verenge meine Augen. „Was bezahlst du einem durchschnittlichen männlichen Auditor im Gegensatz zu einer durchschnittlichen weiblichen Auditorin?“
„Bei der DCA“, sagt er mit unverkennbarem Stolz, „werden männliche und weibliche Auditoren für die gleiche Arbeit auch gleich bezahlt.“
„Okay, wie sieht es dann mit männlichen und weiblichen Anteilen bei den Mitarbeitern aus, wenn man alle hierarchischen Stufen betrachtet?“
Er fährt mit der Hand durch sein Haar. „Das wäre kein fairer Vergleich.“
„Nicht? Warum?“
„Weil…“ Er zögert eine Sekunde. „Okay, ich sage es geradeheraus. Wir haben keine Frauen im Top Management. Und wir haben nicht viele männliche Assistenten.“
Ich nicke. „Immer noch ein weiter Weg, selbst für diesen Teil der Erde, hm?“
Er kaut schweigend auf seinem Sandwich.
Ich untersuche sein ernstes Gesicht. „Du bist verdächtig nachdenklich.“
„Ich versuche mir mich vorzustellen, wie ich im mittelalterlichen Frankreich lebe, wo alle jungen, hübschen Mädchen, die ihre Körper nicht verkaufen, keusch sind.“
„Und?“
„Es ist erschreckend.“ Er reißt seine Augen in spöttischer Verzweiflung auf. „Als ein Mann, der nicht am Heiraten interessiert ist, müsste ich entweder in den sauren Apfel beißen oder für Sex bezahlen.“
„Irgendetwas sagt mir, dass du dich für die zweite Möglichkeit entscheiden würdest.“
Er grinst. „Ich hätte vermutlich Treuekarten von Bordellen im ganzen Land.“
„Was, wenn du eine mittelalterliche Frau wärst, die nicht am Heiraten interessiert ist?“
„Ich würde eine Hure werden“, sagt er, ohne zu zögern.
Natürlich
.
„Und du?“, fragt er.
Auch ich zögere nicht. „Ich würde Nonne werden.“
„Wirklich? Mir war nicht bewusst, dass du die Liebe deiner Mutter zu Jesus teilst.“
„Das tue ich nicht, auch wenn ich denke, dass er ein bewundernswertes Individuum war.“
„Warum dann also eine Nonne?“
„Naja, zunächst war es für eine Frau, die einen Mann, den ihr ihre Eltern ausgesucht hatten – oder auch jeden anderen Mann – nicht heiraten wollte, der beste Fluchtweg.“
Er nickt. „Ich verstehe.“
„Aber es ist nicht nur das. Karrieremöglichkeiten, die sie einer eher „nerdigen“ Frau öffneten – selbst wenn es sich um die wohlhabenden Ladies der Herrensitze handelte – waren extrem limitiert.“
Er schlägt die Hand auf die Stirn. „Natürlich. Warum habe ich daran nicht gedacht? Eine Frau sollte eigentlich nicht klug sein, richtig?“
„Richtig, außer sie wurde zu einer religieuse
.“
Ich sammle die letzten Krümel meines Brownies zusammen und lecke dann meine Finger ab.
Er öffnet seine Wasserflasche.
„Eine religieuse
“, fahre ich fort, „konnte philosophische Aufsätze lesen, so viel sie wollte. Sie konnte Meinungen haben, schreiben und an intellektuellen Debatten teilnehmen.“
„Das verstehe ich wirklich“, sagt Raphael. „Was ich nicht verstehe ist, dass du für intellektuelle Debatten auf Sex verzichten würdest.“
„Ohne Fleiß kein Preis“, sage ich.
„Dein Lebensmotto?“
„Kein Motto, eher eine Daumenregel.“
„Mein Leben wird auch von einem Finger bestimmt“, sagt er. „Aber es ist nicht der Daumen.“
Ich verzerre das Gesicht und erwarte das Schlimmste.
Formgetreu hebt er seinen Mittelfinger hoch. „Der hier ist es.“
„Depp“, sage ich.
„Und stolz darauf“, sagt er mit einem Grinsen.