„
E
s tut mir leid, Monsieur d’Arcy, aber Monsieur d’Arcy ist nicht hier“, sagt Anne-Marie hinter der Tür.
Ich sehe Raphael verwirrt an.
„Es ist Seb“, erklärt er mir.
Woah
.
Hinter der Tür steht Graf Sebastian d’Arcy höchstpersönlich. Arrogant. Antisozial. Skrupellos. Ein Mann, dessen schlechte Seite man sich nicht einmal vorstellen, geschweige denn, auf der man sich befinden möchte.
Zumindest ist es das, was ich gehört habe.
Eine tiefe Stimme grollt im Befehlston: „Oh, ich denke er ist
da drin.“
„Da irren Sie sich, Monsieur. Er ist es nicht“, Anne-Marie hält stand, aber in ihrer hohen Stimme liegt ein Zittern.
„Warum öffnen Sie dann nicht diese Tür und lassen mich selbst nachsehen?“
Sebastians Tonfall ist so eisig, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Ich beneide Anne-Marie in diesem Moment nicht.
„Das kann ich nicht tun, Monsieur.“
Sie klingt, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
„Armes Ding.“ Raphael verzerrt sein Gesicht in Mitgefühl. „Ich weiß nicht, wie lange sie die Stellung noch halten kann.“
Ich verfalle in Panik. „Du denkst, sie wird ihn hereinlassen?“
„Seb kann manchmal sehr einschüchternd sein.“ Er pausiert bevor er hinzufügt. „Gelegentlich.“ Er seufzt. „Immer.“
Ich springe auf die Füße und beginne mich so schnell ich kann herzurichten.
„Ich werde die Tür öffnen“, sagt Raphael und steht auf, „bevor Anne-Marie einen Herzinfarkt bekommt.“
„Gibt es hier eine Hintertür oder so etwas, durch die ich verschwinden kann?“
Er schüttelt den Kopf und steckt sein Hemd in seine Hose.
Ich richte ihm die Krawatte. „Ich will nicht, dass dein Bruder mich hier drin sieht.“
„Warum kümmert dich das? Er kennt dich doch nicht einmal.“
Ich grinse und entziffere die Nachricht zwischen den Zeilen: Keine Sorge – für Sebastian wirst du nur eine weitere gesichtslose Eroberung von mir sein, die er sich nicht einmal versuchen wird zu merken.
Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, warum es mich kümmert, dass Sebastian mich hier sehen könnte. Vielleicht sind es die Überreste meiner Ehre, die nach einem Kampf ihren letzten Zuckungen erliegen.
„Okay, ich habe eine Idee.“ Raphael zeigt zu dem deckenhohen Schrank, der sich über die komplette Seite einer Wand erstreckt. „Warum versteckst du dich nicht da drin und ich versuche Sebastian so schnell es geht loszuwerden?“
Ich nicke und haste hinüber zum Schrank.
Raphael öffnet die Bürotür.
„Du bist allein.“ Sebastian klingt überrascht.
„Ich war gerade in einer strategischen Denkphase“, sagt Raphael. „Und deshalb habe ich Anne-Marie angewiesen, niemanden hereinzulassen.“
„Du hast deine Bürotür abgeschlossen für deine strategische Denkphase.“ Sebastian plappert es ihm mit greifbarem Spott in seiner Stimme nach.
„Niemand ist perfekt“, sagt Raphael.
„Okay, wie auch immer.“ Sebastians Tonfall wird versöhnlicher. „Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir zu streiten.“
„Warum bist
du hergekommen?“
„Ich benötige noch einmal deine Rechtsauskunft, was meine Hochzeitsvorbereitungen angeht.“
„Also kommst du mit deinem verrückten Plan voran?“
„Ja, das tue ich“, sagt Sebastian trocken.
Es herrscht ein kurzer Moment der Stille bevor Raphael fragt: „Wie geht es eigentlich meiner zukünftigen Schwägerin? Ich habe sie seit dem Abendessen bei Genevieve nicht mehr gesehen.“
„Es geht ihr gut. Wie geht es Genevieve?“
Wer ist Genevieve?
Ist sie seit langer Zeit seine Verlobte und wartet darauf, dass Raphael endlich seinen Dampf abgelassen hat? Oder eine verrückte Ehefrau, die er auf dem Dachboden seines Hauses gefangen hält, wie Mr. Rochester in Jane Eyre
?
Ich schnappe nach Luft, als mir ein Licht aufgeht. Was ist, wenn Genevieve sein Kind ist? Wie wenig ich doch über den Mann weiß, dessen Körper ich während der letzten paar Monate vollständig erkundet habe?
„Ihr übliches unzähmbares Selbst“, sagt Raphael. „Sie hat gerade ein neues Projekt begonnen.“
„Eine weitere Dokumentation?“
„Nein, dieses Mal produziert sie eine Fiktion. Eine Neuverfilmung eines Schwarzweißfilmes aus den Vierzigern.“
„Denkst du, es wird ihr gelingen das zu verkaufen?“, fragt Sebastian.
„Wer weiß? Es heißt, aller guten Dinge sind drei.“
Eine weitere kurze Pause folgt.
„Hier sind die Papiere“, sagt Sebastian. „Ich würde mich freuen, wenn du einen Blick darauf werfen könntest.“
„Werde ich. Also… dann… bis bald?“
„Irgendein Fortschritt mit Noah?“, fragt Sebastian.
„Nein.“
„Ich auch nicht.“
„Er wird sich besinnen“, sagt Raphael. „Er braucht nur Zeit.“
„Das ist alles Mamans Schuld.“
„Könntest du unsere Mutter aus dem Spiel lassen?“
„Warum?“ Der Permafrost in Sebastians Stimme ist zurückgekehrt. „Es ist die Wahrheit.“
„Jaha, klar.“ Raphael klingt genervt. „Genau wie deine Theorie, dass sie auf irgendeine Weise dafür verantwortlich ist, was Papa passiert ist.“
Stille.
„Der Mann hat sich sein eigenes Grab geschaufelt“, sagt Raphael.
„Dafür habe ich ihr niemals die Schuld gegeben.“
„Oh doch, das hast du. Und das tust du immer noch.“
„Tue ich das? Ich weiß nicht…“ Sebastian zögert. „Vielleicht hast du Recht. Vielleicht bin ich zu hart mit ihr.“
Beide sagen während einer Weile lang nichts und dann sagt Sebastian: „Aber du kannst nicht bestreiten, dass sie dafür verantwortlich ist, Noah gegen uns aufgehetzt zu haben.“
„Da bin ich mir nicht so sicher –“
„Ach komm schon! Wir finden durch Zufall
heraus, dass unser kleiner Bruder Nepal verlassen hat und bereits seit sechs Monaten hier in Paris lebt?“
Raphael kommentiert das nicht.
„Er beantwortet und reagiert nicht auf unsere Anrufe“, sagt Sebastian.
Keine Reaktion von Raphael.
„Er trägt Mamans Mädchenname.“
„Nicht jeder ist so stolz darauf wie du, ein d’Arcy zu sein, Brüderchen. Wir sollten besser akzeptieren, dass Noah lieber ein Masson ist.“
Sebastian antwortet nicht darauf und ich gebe beinahe der Versuchung nach, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Aber ich widerstehe. Ich möchte das Risiko nicht eingehen, erwischt zu werden.
Die Brüder verabschieden sich kurz darauf voneinander.
Raphael schließt die Bürotür ab und lässt mich heraus. „Es tut mir leid, dass du dir das anhören musstest. Ich hätte Sebastian nicht reinlassen sollen.“
„Nein, das ist okay. Ich habe in diesen kurzen zehn Minuten mehr über deine Familie erfahren, als in den vergangenen fünf Monaten.“
Er lächelt mich humorlos an.
„Und außerdem“, sage ich, „war eure Unterhaltung aus wissenschaftlicher Perspektive sehr interessant.“
„Wie das?“
„Ich konnte meine Theorie beweisen, dass Blaublütige genauso viel schmutzige Wäsche produzieren, wie alle anderen auch.“
„Das tun wir mit Sicherheit.“ Sein Lächeln wird authentischer. „Ist das etwas Gutes?“
„Zumindest sind wir in Sachen dreckiger Wäsche gleichgestellt.“
„Ich habe immer noch zwanzig Minuten“, sagt er und nimmt meine Hand. „Wie wäre es, wenn wir zu Ende bringen, was wir angefangen haben?“
Ich runzle die Stirn.
„Ohne die Klapse“, fügt er schnell hinzu.
„Wie wäre es, wenn wir das beenden, wenn du zurück bist?“ Meine Augen zielen auf die Tür. „Und am besten irgendwo, wo wir nicht gestört werden.“
Er nickt.
Wir küssen uns zum Abschied und wenige Minuten später bin ich zurück in meinem Büro und beende meine täglichen Arbeiten.
Delphine wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, während sie sich, bevor sie geht, ihren Lippenstift aufträgt. „Er ist
aus dem Büro.“
„Wer? Ich war gerade –“
„Schön, sag es mir nicht“, sagt sie. „Aber wenn ich herausfinde wer er – oder sie – ist, dann wirst du etwas entgegenkommender sein müssen, ma cocotte
, so wie ich es dir gegenüber mit Alberto war.“
„Und wenn nicht?“, frage ich und versuche spielerisch zu klingen.
„Und wenn nicht, könnte es sein, dass ich die Sensation nicht für mich behalten kann, ganz egal welchen Status er – oder sie – hat.“ Sie wirft mir einen warnenden Blick zu und stolziert aus dem Büro.
Mir zu drohen ist in den letzten Tagen à la mode
.
Irgendwie gelingt es mir, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und ich bin kurz nach neun fertig.
Als ich das Gebäude verlasse, ist die Luft so angenehm, dass es kaum vorstellbar ist, in Paris zu sein. Da die Rushhour vorbei ist, wurde der Geruch nach Benzin und Diesel durch die frühlingshaften Düfte von Blumen und Knospen ersetzt. Die Temperatur könnte in diesem Land gerade nicht perfekter sein – irgendwo zwischen mild und warm – jetzt wo die Kälte des Winters ohne eine Spur verschwunden ist und die erstickende Hitze des Sommers noch in weiter Ferne liegt.
Laut Wetterbericht soll es so die ganze Woche und auch am Wochenende sein, dass ich eigentlich hoffte, mit Raphael zu verbringen.
Wie schade, dass er sich dafür entschieden hat, es mit jemand anderem zu verbringen!
Vermutlich Genevieve, wer auch immer sie sein mag.
Während ich in Richtung métro
laufe, vereinigen sich Eifersucht und Galle in meinem Kopf und ruinieren diesen wunderschönen Abend. Zum x-ten Male verspreche ich mir, stärker zu versuchen, meine Affäre mit Raphael zu beenden.
Und dass ich niemals mehr Sex in seinem Büro haben werde.
Die ersten paar Monate hielten wir uns streng daran unsere Rendezvous aus den Räumlichkeiten der DCA fernzuhalten. Raphael erschien genauso erpicht darauf, wie ich es war. Der Nachteil daran war, dass wir Tage damit verbrachten uns nicht zu sehen, selbst wenn er in Paris war. Raphael d’Arcy ist ein wichtiger Mann. Sein Kalender enthält Wochen, in denen jeder einzelne Abend von einem sozialen Event belegt ist, aus dem er nicht herauskommt. Ich vermute, dass manche dieser sozialen Events sich in die Nacht ausweiten.
Aber ich ziehe es vor nicht zu fragen.
Wir brachen unsere „Kein Sex im Büro“-Regel zum ersten Mal vor etwa einem Monat, nachdem wir uns zehn Tage lang nicht gesehen hatten. Unter Anbetracht der Tatsache, dass er nur für einen Tag in der Stadt sein würde, „besuchte“ ich ihn in seinem Büro unter dem Schutz seines loyalen Torhüters Anne-Marie.
Dann wurden wir rückfällig, nachdem er die Woche darauf von seiner Geschäftsreise zurückkam und bevor er später an diesem Tag wieder verreiste.
Und dann leisteten wir uns einen weiteren Ausrutscher heute Nachmittag.
Jeder dieser „Quickies“ sättigten meinen Körper – und meine Seele war danach immer etwas schmutziger als zuvor.
Denn trotz seines standhaften Interesses an meiner Person, bin ich nicht
Raphaels Freundin.
Ich bin seine Sex-Freundin.
Wir sind zwei Singles, die eine geheime Affäre haben. Unsere Beziehung kommt nicht voran. Ich würde es nicht einmal eine Beziehung nennen. Es ist ein One-Night-Stand in Dauerschleife. Es ist, als würden wir eine Porno-Version von Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast
nachspielen.
Sie nennt sich Ich weiß, wer dich letzten Sommer gevögelt hat
.
Raphael scheint glücklich zu sein mit der Rolle, die er spielt.
Ich bin es nicht.
Aber ich bin nicht diejenige, die im Regisseur-Stuhl sitzt.