A
ls ich meine Wohnung betrete, bin ich schockiert, wie sauber und aufgeräumt sie ist. Meine Hände jucken danach, nach meinem Telefon zu greifen und dieses seltene Vorkommnis für die Ewigkeit festzuhalten. Wenn Mama und Eva wieder weg sind und meine Wohnung wieder zu ihrer üblichen „kreativen Unordnung“ zurückfindet, würde ich mir diese Bilder anschauen und der Drang sauberzumachen würde mich überkommen.
Oder auch nicht.
Aber es wäre ein Versuch wert.
„Das Abendessen ist in zwanzig Minuten fertig“, schreit Eva aus der Küche.
„Was kocht sie?“, frage ich Mama, welche die Kissen auf der Couch aufbauscht.
„Lasagne.“
Ich schließe die Augen und lächele glückselig. „Lecker.“
„Sie dachte, das macht dir eine Freude.“
Mama klappt das Bügelbrett auseinander und wirft einen Haufen aus farbenfrohen Klamotten auf den Stuhl daneben. Sieht aus, als hätte sie meine Wäsche gemacht, während ich auf der Arbeit war.
Schon wieder.
Sie lässt mir keine andere Wahl, als meine Drohung wahr werden zu lassen und meine Klamotten in einen Koffer zu schließen, bevor sie mich besuchen kommt.
„Wie geht es dir, Mia?“, fragt sie mich.
„Wunderbar.“
Sie greift nach einer weißen Bluse und legt sie auf das Brett. „Kannst du etwas genauer werden?“
„Natürlich.“ Ich zähle an meinen Fingern ab. „Die Doktorarbeit ist am Laufen, der Job ist nicht allzu schlimm und der Sommer kommt. Wie ich sagte, alles ist wunderbar.“
Sie schüttelt den Kopf. „Woran liegt es, dass wenn ich Eva dieselbe Frage stelle, sie immer deutlich mehr zu erzählen hat?“
„Sie plappert eben mehr – es liegt in ihrer Natur.“
„Und in deiner Natur liegt es geheimniskrämerisch zu sein, oder wie?“
„Das ist lächerlich.“ Ich wedle ablehnend mit der Hand. „Ich bin nur… introvertiert. Das ist alles.“
Sie zieht die Bluse auf einen Kleiderbügel. „Herzele
, denkst du, du könntest den Aufwand betreiben mir etwas mehr zu erzählen?“
Herzele
. Mein kleines Herz. Ich liebe es, wenn sie mich so nennt.
„Wie zum Beispiel was?“
Sie zögert. „Triffst du dich zurzeit mit jemandem?“
Wie in herumhuren
?
Ich starre sie mit großen Augen an. „Ernsthaft Mama?“
„Du weißt, was ich meine.“ Sie neigt ihren Kopf ermahnend zur Seite. „Gibt es einen jungen Mann, den du magst und der dich auch mag?“
Ich schüttle den Kopf.
„Ich frage mich, ob das mein Fehler ist“, sagt sie.
„Wovon redest du?“
Mama atmet schwer aus und greift nach dem nächsten Teil auf dem Haufen. „Eva ist in einen Mann verschossen, der toll, aber unerreichbar ist“, sagt sie. „Du hältst dich von allen Männern fern, als wären sie gefährliche Bestien. Liegt das daran, dass Papa und ich so streng mit euch waren? Und daran, dass ich immer darauf bestanden habe, dass ihr keine intimen Beziehungen vor der Ehe habt?“
Oh Gott.
Sie seufzt erneut und legt mein Höschen auf das Bügelbrett.
„Nicht die Unterwäsche!“ Ich reiße es ihr aus der Hand. „Die sollte nicht gebügelt werden.“
Sie sieht mich nachsichtig an. „Natürlich sollten sie das.“
Ich stöhne und tue so, als würde mich das beunruhigen.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, sagt Mama und starrt mir dabei in die Augen.
„Okay, ich werde sie beantworten.“ Ich halte ihrem Blick stand. „Mach dir keine Sorgen, Ma. Eure hohen Erwartungen und deine Predigten über Keuschheit sind nicht
für mein Singledasein verantwortlich.“
„Es ist völlig in Ordnung mit einem Mann auszugehen, weißt du“, sagt sie. „Papa und ich hätten das mehr betonen müssen. Solange du dich enthalten kannst – und ich bin sicher, dass es starke Frauen, wie du und Eva können – solltest
du daten. Ich ermutige
dich dazu, mit Männern auszugehen.“
Ich zeige Mama meine Handflächen. „Ich sollte die vor dem Abendessen waschen.“
Während ich ins Badezimmer gehe…ähm, renne, kommt mir ein Gedanken. Abgesehen von der Affäre mit Raphael, bin ich seit der Uni mit niemandem mehr ausgegangen. Genauer gesagt, seit der Katastrophe
.
Nur ein Zufall, daran besteht kein Zweifel.
„Wie geht es Papa“, frage ich meine Mutter, als wir uns zum Abendessen setzen.
Ich bin fest entschlossen, die Unterhaltung weg von Evas und meinem Privatleben zu lenken, damit es auch weiterhin privat bleibt.
„Wie immer“, sagt Mama. „Engagiert sich ehrenamtlich so viel er kann, gärtnert viel und versucht sich an neuen Rezepten aus der ganzen Welt. Im Moment essen wir uns gerade durch die kambodschanische Küche.“
Eva serviert die Lasagne.
Ich sabbere beinahe, wenn ich den Teller betrachte.
„Macht er immer noch bei diesem Flüchtlingsprogramm mit?“, fragt Eva.
„Die, mit der bildenden NRO?“ Mama begutachtet die Lasagne auf ihrem Teller. „Wo sie Flüchtlingsfrauen grundlegende Französischkenntnisse beibringen und ihnen helfen Jobs zu finden?“
„Ja genau die.“ Eva setzt sich und nickt uns auffordernd zu, damit wir mit dem Essen beginnen.
Mama haut rein. „Eigentlich nehme ich auch an diesem Projekt teil. Ihr wisst, wie sehr wir darauf erpicht sind, Frauen in Not zu helfen.“
Das seid ihr sicher.
Solange diese Frauen gute Sitten pflegen.
Ich konzentriere mich auf meine Lasagne, die genauso lecker ist wie alles andere, was Eva kocht und überlasse meiner Schwester und Mutter das Reden. Ab einem bestimmten Moment höre ich sie nicht mehr und mein Geist wandert zu dem Thema, dass neuerdings zu so etwas wie meiner Obsession geworden ist. Raphaels andere
Frau.
Er hat nie jemanden erwähnt und ich habe ihn auch nie wirklich mit jemandem gesehen. Aber jedes Mal, wenn ich mir Voici
oder ein anderes Klatschblatt ansehe, gibt es darin ein Foto von ihm, wie er mit diesem Model oder jener Erbin auf irgendeinem schicken Event redet. Macht er mit ihnen mehr als nur reden, wenn die Kameras wegsehen? Der Mann hat immerhin eine reputation
und er scheint begierig darauf, sie aufrecht zu halten.
Außerdem hat er immer klargestellt, dass er kein Typ für Beziehungen ist.
Ich fragte ihn einmal, ob er sich an alle Namen und Gesichter der Frauen erinnern könne, mit denen er geschlafen hat.
Er schüttelte seinen Kopf.
Ich schaute skeptisch. „Was ist mit denen, die du öfter als einmal gesehen hast?“
Er kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Oder sehen wir alle gleich aus?“, fragte ich. „Ein verschwommenes Bild mit Brüsten und mädchenhaften Zügen.“
„Das ist gemein.“, schnalzte er.
Ich zuckte mit den Achseln.
„Um deine Frage zu beantworten, ja das tue ich.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Abgesehen davon, was du von mir denkst, liebe ich Frauen. Ich denke, sie sind Gottes großartigste Kreation und den Männern in jeder Hinsicht unermesslich überlegen.“
„Vielleicht ist das dein Problem“, sagte ich. „Du liebst Frauen zu sehr. Und… in der Mehrzahl.“
Er blickte mich komisch an, sagte aber nichts.
„Deine Mädels“, pflügte ich weiter, nicht in der Lage das Thema fallen zu lassen. „Sind sie in der Regel damit einverstanden, dass du mit mehreren Frauen schläfst?“
„Bei den wenigen Malen, bei denen ich lange genug da war, war die Antwort ja.“
„Gott sei Dank, gibt es Kondome“, sagte ich.
„Genau, was ich denke.“
„Was ist, wenn deine Liebhaberinnen einen Lover haben? Bist du
damit einverstanden?“
Er schnalzte mit der Zunge. „Gute Frage.“
„Und?“
„Naja, es gibt keinen Grund, warum sie nicht die gleiche Freiheit genießen sollten, wie ich auch. Das ist nur fair.“
Seine Art sexuelle Freizügigkeit als Freiheit zu bezeichnen, ließ mich zusammenzucken. Auf der anderen Seite, welches Recht hat ein Gang Bang-Mädchen prüde zu sein?
„Andererseits bezweifle ich, dass meine Partnerinnen ein Verlangen nach einem zusätzlichen Lover haben, während ich Zeit mit ihnen verbringe.“ Raphael lächelte mich selbstgefällig an.
Ich verdrehte die Augen.
„Das ist nur eine Beobachtung“, sagte er. „Aber wir könnten einen willkürlichen Test durchführen. Du, zum Beispiel – hast du außer mir noch einen Lover?“
„Nein.“
„Hast du das Bedürfnis nach einem weiteren?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Siehst du?“ Er grinste. „Ich bin genug.“
Ich erinnere mich nicht daran, was ich dazu sagte. Aber woran ich mich erinnere ist, dass ich zu feige war ihm die Frage zu stellen, die mich seit Januar quälte.
Hast du eine zusätzliche Liebhaberin, Raphael?
Oder bin ich genug?