Kapitel 14
I ch blicke aus den deckenhohen Fenstern hinaus auf Raphaels professionell gestaltete Dachterrasse. Selbst im Dunkeln ist der Effekt, aus kleinen Lichtern, welche die Pflanzen besprenkeln und sanft funkeln, atemberaubend. Ich kann das ständige Dröhnen und das Rattern von verschiedenen Fahrzeugen hören, die Sirene eines Polizeiautos in der Ferne und das Gelächter von den Gästen auf der Terrasse im Restaurant unter uns.
Hier auf dem Boulevard Saint German, befinden wir uns mitten im pulsierenden Herzen von Paris, nur einen Steinwurf entfernt von der Cathedrale Notre-Dame. Aber wir befinden uns auch über der Stadt, in einem riesigen Aquarium und umgeben von einer windigen grünen Oase.
Raphael bereitet irgendeinen ausgefallenen Cocktail hinter der glatten Granit-Bar seiner offenen Küche zu.
„Bist du sicher, dass du keinen Hunger hast?“, fragt er.
„Vollkommen sicher.“
Es muss schwer für ihn sein, das zu glauben, da ich normalerweise am Ende des Arbeitstages ausgehungert bin. Aber heute, am Ende meiner ersten Doppelschicht, bin ich so erschöpft, dass ich schon gar keinen Hunger mehr habe.
Ich habe die DCA um 18 Uhr verlassen, woraufhin Augenbrauen im Büro hochgezogen wurden, und machte mich auf den Weg zu Raphaels Herrenclub, wo ich es geschafft habe, meine erste Nacht als Bedienung im Außenbereich zu überleben.
„Überleben“ ist eine kleine Übertreibung, denn – objektiv gesprochen – war die Arbeit an sich nicht hart und meine Kollegen waren freundlich. So auch der Manager, dem freundlich nahegelegt wurde, mich einzustellen.
Der wahre Grund, warum ich mich so ausgelaugt fühle, ist, weil ich heute Morgen meinen dritten Brief aus Australien erhalten habe. Er war ein wenig wortreicher als die ersten beiden.
ICH WERDE DEN GANZEN JULI ÜBER IN FRANKREICH SEIN. MACH DICH BEREIT.
Wofür?
Diese Frage hat mich den ganzen Tag beschäftigt. Wird mich mein mysteriöser Brieffreund erpressen, oder wird er seinen Beweis im Internet verteilen und zusehen, wie mein Leben in Scherben zerbricht?
Ich seufze laut.
Es war ein Fehler heute Abend zu Raphael zu kommen. Anstatt in sein Auto zu klettern, hätte ich direkt nach Hause gehen sollen, um eine potentiell unangenehme Situation zu vermeiden.
Denn ich werde Raphael heute Nacht nicht nützlich sein können. Ich fühle mich das erste Mal seit Januar zu niedergeschlagen, um Sex mit ihm zu haben. Und ich bin kurz davor es ihm zu sagen.
Seine Schritte hinter mir hörend, drehe ich mich um. Raphael kommt mit einem Tablett in einer Hand, auf dem zwei große Gläser stehen, und mit einem mysteriösen Gegenstand in der anderen Hand näher.
Es ist eine handflächengroße, orangene Schachtel, auf der in Druckbuchstaben Hermès steht.
„Für dich“, sagt er. „Ich hoffe du magst es, aber wenn nicht, ist das auch völlig in Ordnung.“
„Parfum?“
Er nickt.
Die kursive Linie über Hermès verliest 24 Faubourg .
Ich habe keine Ahnung, wonach 24 Faubourg riecht, aber ich schätze es ist teuer.
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. „Ist das dein Weg mir zu sagen, dass du den Duft, den ich trage, hasst?“
Er kichert. „Ganz im Gegenteil. Ich liebe deinen Duft. Aber da du mir nicht verrätst welcher Duft es ist, habe ich versucht etwas zu finden, was dem nahekommt.“
Der Grund, warum ich Raphael – oder sonst jemandem – den Namen meines Parfums nicht verrate, ist, weil es so weit von Hermès, Baccarat und dergleichen entfernt ist, wie es eine duftende Flüssigkeit in einer hübschen Flasche nur sein kann.
Ich kaufe es im Supermarkt um die Ecke.
Verklagt mich.
Es ist günstig, frisch und blumig, und das ist gut genug für mich. Ich trage es nun seit ein paar Jahren. Und ich muss sagen, dass es mich köstlich amüsiert, dass mein Hautevolee-Lover es auch mag.
Ich gebe ihm die Schachtel zurück.
„Ach komm schon, Mia.“ Er sieht frustriert aus. „Du akzeptierst nie ein Geschenk von mir.“
„Stimmt nicht“, sage ich. „Ich habe dich für all die Drinks, Essen und Ausflüge bezahlen lassen. Ich fürchte mich davor mir vorzustellen, wie viel ich dir mittlerweile schulden müsste, wenn ich nicht akzeptiert hätte, dass du diese Rechnungen übernimmst.“
„Du solltest es als eine Art Belohnung sehen“, sagt er. „Ich mache es für die Wissenschaft.“
Ich schaue ihn ungläubig an.
„Das meine ich ernst. Die Welt braucht dein Buch, Mia. Sie muss die Wahrheit über mittelalterliche Huren erfahren.“
Meine Mundwinkel ziehen sich trotz meiner größten Anstrengungen ernst zu bleiben nach oben.
„Sie haben es zu lange vor uns geheim gehalten“, fügt Raphael von meinem Lächeln angespornt hinzu.
„Wer?“
„Du weißt schon – sie .“
„Nein, weiß ich nicht.“
„Muss ich es wirklich laut sagen?“
Ich nicke.
Er flüstert gespielt. „Die Regierung. Die CIA. Wikipedia.“
Mein Sinn für Lächerliches gewinnt die Oberhand und ich fange an zu kichern.
„Endlich“, sagt Raphael. „Es wird immer schwerer und schwerer dich zum Lachen zu bringen. Ich muss mein Talent verlieren.“
Und ich muss mich zu einem Langweiler entwickeln…
Er drückt mir das Parfum wieder in die Hand. „Würdest du es zumindest öffnen und mir sagen, ob du den Duft magst?“
„Wenn ich es öffne, wirst du es nicht umtauschen können.“
Er zieht eine Augenbraue nach oben. „Wirke ich auf dich wie jemand, der etwas umtauschen würde?“
„Naja, vielleicht nicht umtauschen, aber du könntest es jemand anderem schenken.“
Er schnalzt mit der Zunge.
„Wer ist Genevieve?“, platzt es aus mir hervor.
Raphael blinzelt, überrascht von meiner Frage.
„Dein Bruder hat sich bei dir nach ihr erkundigt, als ich mich im Schrank versteckte“, erkläre ich.
„Ich verstehe.“
„Also?“
„Ich erzähle es dir, wenn du das Parfum öffnest und mir ganz ehrlich sagst, ob du es magst.“
Ich funkele ihn an und entferne die Plastikverpackung der Schachtel. Nachdem ich die schöne Flasche geöffnet habe, sprühe ich etwas des Inhaltes auf mein Handgelenk. Und dann hebe ich es an meine Nase und rieche.
Mmm.
„Du magst es!“ In Raphaels Stimme liegt Triumph. „Versuch es gar nicht erst es abzustreiten – ich sehe es in deinem Gesicht.“
„Ich liebe es“, gebe ich zu.
Er lächelt mich auf solch bezaubernd stolze Art und Weise an, dass ich gar nicht anders kann als zurück zu lächeln.
Nach einigen Momenten des gegenseitigen Angrinsens wie Idioten, stelle ich das Parfum auf das Tischchen und verschränke die Arme vor der Brust. „Also, wer ist Genevieve?“
„Meine älteste Freundin.“
„Mit Vorzügen?“
„Nein, so ist es zwischen uns nicht. Nur Freundschaft.“
„Stehst du auf sie?“
„Nein.“
„Steht sie auf dich?“
„Wie ich eben sagte, so ist es zwischen uns nicht. Und ich denke auch nicht, dass ich ihr Typ bin.“ Er zuckt leicht mit den Schultern. „Was hier relevant ist, ist, dass sie die Erbin einer der reichsten Familien Frankreichs ist, also ist es nicht mein Geld, was ihr an mir wichtig ist.“
Ich grinse. „Weil es sonst dein Geld ist, was Frauen anzieht.“
„Das und die Blicke.“ Er macht einen auf Mr. Bean und wackelt mit den Augenbrauen, was mich aufheulen lässt vor Lachen. „Sicherlich nicht mein Potential ein guter Ehemann zu sein.“
„Oh ja, ich vergaß fast“, sage ich. „Du wirst niemals heiraten.“
„Was ist daran falsch?“ Er zählt an seinen Fingern ab. „Die Erde ist überbevölkert, Babys sind nervig und die Fortführung des d’Arcy Geschlechts ist gesichert, jetzt wo Seb seine andere Hälfte gefunden hat. Wieso um alles auf der Welt sollte ich mich vor den Wagen spannen lassen?“
Ich zucke zurückhaltend mit den Schultern.
„Oh, und außerdem“, sagt er. „Schlage ich nach Papa. Er hat sich der Suche nach dem Vergnügen gewidmet und die Ehe hat daran nichts geändert. Wenn überhaupt, dann hat sie es verschlimmert. Ein solcher Mann ist nicht qualifiziert ein Ehemann zu sein und hat es nicht verdient ein Vater zu sein.“
Ich mustere ihn von oben bis unten und plötzlich bin ich bereit das Thema der Exklusivität in den Raum zu werfen.
Warum jetzt?
Ich habe nicht den leisesten Schimmer, aber ich weiß, dass ich nicht darum betteln werde. Ich werde es als eine Bedingung unserer weiteren „Besuche“ aufführen. Ich bin das erste Mal in Monaten frei von allen Systemen in meinem Kopf, ganz gleich was die Konsequenzen sind. Wenn Raphael nein sagt, was er vermutlich tun wird, bin ich bereit zu gehen.
„Es gibt etwas worüber ich mit dir reden muss“, sage ich.
„Sandro?“ Er hält meine Wange in seiner Hand. „Ich verlängere seinen Vertrag um drei Monate. Wenn er sich zusammenreißen kann, kann er bleiben.“
Ich drücke ihm einen lauten Kuss auf die Wange. „Also befindet sich doch ein Herz in deiner breiten Brust!“
Raphael schlingt seine Arme um mich herum und grinst.
Ich nehme einen kräftigenden Atemzug. „Das worüber ich mit dir sprechen wollte…es ging nicht um Sandro.“
„Noch jemand, den ich kündigen werde? Mia, mein Herz wird sich nicht für zwei –“
„Solange wir uns besuchen , möchte ich, dass wir exklusiv sind.“
„Machst du dir Sorgen, dass du dir eine eklige Krankheit einfängst?“ Er zieht seine Augenbrauen zusammen. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich niemals jemanden ohne Schutz besuche .“
„Es geht nicht nur darum“, sage ich und suche währenddessen in meinem Gehirn nach einem Grund, der sich nicht allzu armselig anhört.
„Was dann?“
„Ich bin keine Person, die gerne teilt, weißt du.“
Seine Augen legen sich in Lachfalten.
Ich zucke mit den Schultern und versuche ihm damit zu sagen, dass es eben einfach so ist.
„Okay“, sagt er.
Mein Kiefer klappt nach unten. „Wirklich?“
„Mhm. Das wird nicht schwer sein.“
Jetzt bin ich nicht mehr nur erstaunt, ich bin verwirrt.
„So sehr ich es hasse mein Casanova-Image zu trüben“, sagt er, „aber die Wahrheit ist, dass ich mich nun seit einer Weile ausschließlich mit dir treffe. Nicht mit Absicht, wohlgemerkt. Es ist einfach… passiert.“
„Seit wann?“
Er reibt sich am Kinn. „Weihnachten.“
„Was?“
Er schaut mich mit dem verblüfften Blick eines Mannes an, der gerade realisiert hat, dass er ein Geist ist. „Ich weiß. Wow.“
„Das kann nicht wahr sein.“
„Und doch ist es das.“ Raphael weitet entschuldigend seine Arme. „Ich bin genauso schockiert, wie du es bist.“
Ich stemme die Hände in die Hüften. „Ich glaube dir nicht.“
„Ich sage nicht, dass ich keine Zeit mit anderen Frauen seit Dezember verbracht habe“, sagt er. „Aber ich habe nicht mit ihnen geschlafen.“
Ich starre ungläubig in seine schokoladenbraunen Augen.
„Ich hatte nicht das Bedürfnis nach einer zusätzlichen Liebhaberin“, sagt er und sieht mich mit diesem komischen Blick an, den ich an ihm schon ein paar Mal zuvor gesehen habe.
Ganz anders wie die anderen Gesichtsausdrücke, die ich wie meine Westentasche kenne, ist mir dieser Blick ein Rätsel.
Ich kann ihn einfach nicht lesen.