Kapitel 15
D u bist ein Hamster“, sagt Jean-Pierre zu Delphine.
Ihre Gesichtszüge erschlaffen. „Warum?“
Der Berater schaut sie an, als wäre sie ein Dummerchen. „Auf der Grundlage deiner Antworten aus meinen Fragebogen.“
„Bist du sicher?“, fragt Delphine.
„Dieser Test wurde von erfahrenen Psychologen entwickelt“, sagt Jean-Pierre, undurchdringlich für ihr Leiden. „Schieb die Schuld nicht auf den Manager.“
Delphine schürzt die Lippen. „Alles klar, ich bin ein Hamster. Was bedeutet das genau?“
„Du bist zu geschäftig. Arbeite nicht härter – arbeite klüger.“ Er lächelt sie aufmunternd an und zieht zu seinem nächsten Opfer.
Ich hasse diesen Mann.
Ich hasse dieses ganze ego-zerschmetternde Seminar, das unternehmensweit jedem vom neu ernannten Personalchef aufgezwungen wurde.
Es wurde uns als eine „lustige Unterbrechung der Routine“ vorgestellt, der die Mitarbeiter der DCA glücklicher, entspannter und effizienter machen würde. Die Teilnahme war allerdings obligatorisch.
Jetzt verstehe ich warum.
Bis jetzt war unsere „Unterbrechung der Routine“ eine moderne Form des mittelalterlichen Prangers mit einigem an öffentlicher Bloßstellung und absolut keinem Spaß.
Wir befinden uns am späten Nachmittag des ersten Tages – Himmel sei Dank, müssen wir nur noch einen weiteren Tag durchhalten – und viele von uns ziehen akuten Durchfall als Fluchtmöglichkeit in Erwägung.
Sobald wir heute Morgen aus den Bussen ausgestiegen sind und unsere Taschen in den Schließfächern dieser exklusiven Einrichtung verstaut hatten, begann der Spaß. Jean-Pierre klebte ein Namensschild mit dem Namen einer berühmten Person auf jedermanns Stirn und wies uns an, uns während des Kaffees unter die Leute zu mischen und durch indirekte Fragen mehr über die Person zu erfahren, die wir darstellten. Diejenigen, die fragten, „Was steht da auf meiner Stirn?“, wurden der Folter unterzogen, auf Kekse verzichten zu müssen.
Das war der Eisbrecher.
Danach machten wir weiteres aufregendes Zeug, wie Eierlauf, Bäume umarmen, händehaltend im Kreis stehen und Fliegenfischen. Aber das ist nichts im Vergleich zum Highlight des Seminars, das morgen Nachmittag stattfinden soll. Was Jean-Pierre als den neuesten rangübergreifenden Bonding-Trend aus Japan beschrieb, besteht darin, dass Untergeordnete mit ihren Abteilungsleitern in einem Whirlpool sitzen und diskutieren.
Nackt .
Gott sei Dank, nur mit dem jeweils gleichen Geschlecht.
Und nachdem man alleine geduscht hat.
Ich habe entschieden, dass mein akuter Durchfall morgen direkt nach der Mittagspause auftritt.
Oh, und ganz nebenbei, ich bin ein Maulwurf.
Nicht im Sinne eines „Spions“, wie unser Meister-Henker Jean-Pierre klargestellt hat, nachdem er mir mein Ergebnis zurückgab, sondern im Sinne „eines kleinen grabenden Säugetiers“. Das beruht darauf, dass mein Test ergeben hat, dass ich zu introvertiert und nicht entgegenkommend bin.
Wenn es nach unserem Guru geht, dann kann man kein guter Teamplayer sein, sofern man sich nicht an das Prinzip der offenen Tür anpasst, was auch die Tür zum Privatleben beinhaltet.
„Hast du gemerkt“, flüstere ich in Delphines Ohr, „dass die Größe des Tieres mit der hierarchischen Position der Person in der DCA in direkter Verbindung steht?“
Sie denkt einen Moment über meine Beobachtung nach und dann erhellt sich ihr Ausdruck. „Oh Gott, du hast Recht!“
Sie stupft Barbara und teilt meine Erkenntnis mit ihr.
Barbara – die zufällig eine Maus ist – schaut mich erregt an. „Aber natürlich! Warum habe ich daran nicht gedacht?“
Wir drei sind Nagetiere, Susanne ist ein Zebra, Sandro eine Giraffe und jeder Manager ist irgendeine Art Raubtier.
„Dieser Test ist manipuliert.“, sagt Delphine laut.
Manche Leute drehen sich um.
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und erhebt trotzig ihr Kinn.
Ich nehme sie zur Seite, bevor jemand aus der Personalabteilung auf ihre Rebellion aufmerksam wird. „Halt durch, Delph! Nur noch eine halbe Stunde und dann können wir an der Bar Wind ablassen.“
„Ich werde mich heute Abend so betrinken“, verkündet sie.
Barbara klopft ihr auf die Schulter. „Ich auch.“
„Mit mir sind es drei“, sage ich.
Mindestens ein Dutzend Leute schreien „Amen!“ und „Oh ja!“
Hört sich an, als würde doch noch etwas Team-Building stattfinden. Vor allem, da die meisten Getränke, die an der Bar serviert werden, kostenlos sind. Großzügigkeit von Le Big Boss . Auch das Essen und Snacks sind darin enthalten. Cocktails sind das einzige, was nicht dazugehört. Abgesehen davon ist niemand in meiner Gehaltsklasse dumm genug, einen Cuba Libre zu bestellen, wenn man auch kostenlosen Rum in Verbindung mit kostenloser Cola trinken kann.
„Weiß jemand, ob der CEO heute hier ist?“, fragt Sandro und füllt Barbaras Weinglas auf.
„Ich habe ihn den ganzen Tag nicht gesehen“, sagt sie.
„Ich auch nicht.“ Delphine streckt ihm ihr leeres Glas hin. „Das Gleiche wie Barb, bitte.“
„Wie sieht es bei dir aus?“ Sandro zeigt auf mein leeres Glas.
„Ich habe mein Limit erreicht“, sage ich.
Delphine klatscht demonstrativ in die Hände. „Wie diszipliniert du doch bist.“
„Es ist im Prinzip eine Angewohnheit“, sage ich.
Und die offensichtlich katastrophale Konsequenz eines bestimmten Ereignisses.
Sandro stellt den Bordeaux auf den Tisch und schenkt uns beiden etwas Cola ein.
Das ist mein Junge.
„Ich weiß, dass Le Big Boss in der Stadt ist“, sagt Barbara. „Daher ist es komisch, dass er nicht zum Teambildungsseminar auftaucht.“
Soweit ich weiß, wollte er es von vorne herein nicht. Raphael glaubt nicht daran, seine Untergebenen dazu zu zwingen, ihre Wochenenden auf dem Land zu verbringen, indem sie dumme Spiele mit ihren Kollegen spielen, in der Hoffnung, dass der Teamgeist gestärkt wird. Er glaubt eher daran, seinen Mitarbeitern Bonusse auszuzahlen, damit sie Wochenendausflüge machen können, wohin sie wollen und mit wem sie wollen.
Oder sie bleiben zuhause und schauen fern.
Jeder von uns bekam einen dieser Bonusse letztes Weihnachten, dann noch einmal im April und wir hoffen, dass dieses Jahr noch zwei weitere kommen. Die kollektive Folter, die dieses Wochenende an uns angewendet wird, war die Idee des neuen Personalverantwortlichen. Der Mann war so sehr davon überzeugt, dass es uns erlauben würde, uns zu verbessern und ihm erlauben würde „die Gruppendynamik zu erforschen“, dass Raphael schließlich unter der Bedingung nachgab, dass er nicht teilnehmen müsse.
Er weiß nicht, was er verpasst.
Glücklicher Mistkerl.
„Vielleicht hält er sich fern, damit er nicht in die Falle einer weiteren Goldgräberin fällt“, sagt Delphine.
Barbaras Augen treten hervor. „Erzähl mehr!“
„Wusstet ihr das nicht?“ Delphine runzelt die Stirn. „Ich dachte, das wäre allgemein bekannt. Das wurde jedem neuen Angestellten – inoffiziell – während der Orientierungswoche erzählt.“
„Ich habe nichts dergleichen gehört“, sagt Barbara.
„Ich auch nicht“, stimmt Sandro ein.
Und ich auch nicht.
„Okay, hört zu, Kinder.“ Delphine wackelt auf ihrem Barhocker herum. „Damals vor ungefähr fünf Jahren, war Raphael d’Arcy als das Wunderkind bekannt, das eine kleine innovative Auditfirma aufbaute und sie innerhalb von zwei Jahren zu einem anerkannten Unternehmen entwickelte.“
„Das habe ich während meiner Orientierungswoche erfahren“, sagt Sandro.
Delphine zieht eine Augenbraue nach oben. „Geduld, junger Mann. Den Teil, den sie dir nicht erzählt haben, ist, dass unser Senkrechtstarter ein anderes Talent hatte – er brachte jede Frau dazu, mit ihm zu schlafen.“
„Das ist kein Geheimnis“, sagt Barbara.
„Was ist nur mit den jungen Leuten heutzutage los?“, fragt mich Delphine.
Rein rhetorisch, da bin ich sicher.
Barbara verdreht die Augen. „Warum hörst du nicht auf so zu tun, als wärst du ‚die alte weise Dame‘ und gehst direkt zum spannenden Teil über? Du bist nur zehn Jahre älter als wir.“
„Was zählt ist, dass ich älter im Unternehmen bin“, sagt Delphine. „Jedenfalls gebe ich euch die Kurzversion, wenn es das ist, was ihr wollt.“
Sandro nickt. „Ja bitte. Das kürzeste Kurz.“
„Vor fünf Jahren“, sagt Delphine, „hatte Raphael eine Affäre mit einer Auditorin der DCA. Einen Monat nachdem er schlussgemacht hatte, erzählte sie allen, dass sie von ihm schwanger war.“
Sie pausiert und studiert unsere Gesichter, als wäre sie auf der Suche nach dem Effekt, den diese Sensation ausgelöst hat.
Barbaras Mund bildet ein perfektes O.
Sandro winselt: „Ouch.“
Ich balle meine Faust und gebe mein Bestes, mein Pokerface zu wahren.
„Raphael sagte, er würde das bezweifeln“, fährt Delphine fort. „Er bat sie darum, einen Vaterschaftstest zu machen. Aber sie weigerte sich und gab vor, dass das für den Fötus gefährlich sein könnte.“
„Hat sie es zugelassen, nachdem das Baby geboren war?“, fragt Barbara.
Delphine schüttelt den Kopf. „Dazu kam es nie. Sie hatte im fünften Monat eine Fehlgeburt.“
Meine Nägel vergraben sich in meiner Handfläche und hinterlassen Furchen in der Haut.
„Und dann wurde es richtig eklig“, sagt Delphine. „Adele – das war der Name der Frau – begann anzudeuten, dass ihre Fehlgeburt von einem Verbrechen herrührt.“
„Wie was?“
„Sie sagte, sie vermute ein vergiftetes Getränk.“
Ich zwinge mich dazu den Mund aufzumachen. „Was hat Raphael dazu gesagt?“
„Er hat es offensichtlich abgestritten und darauf bestanden, dass sie sich Blut abnehmen lässt und jeden nur denkbaren Test macht, um ihre Anschuldigungen zu beweisen. Er sagte, er käme für die ganzen Kosten auf.“
„Hat sie es getan?“, frage ich und versuche dabei das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
„Soweit ich weiß nicht“, sagt Delphine. „Stattdessen startete sie eine neue Hetzkampagne. Sie erzählte jedem in der DCA, dass sie schwanger wurde nachdem der CEO sie vergewaltigt hatte.“
„Bullshit“, breche ich hervor, bevor ich mich selbst davon abhalten kann.
„Das ist genau, was die meisten Leute glaubten“, sagt Delphine. „Es war einfach zu viel des Guten. Jedenfalls hat sie nie Anklage erhoben und einen Monat später verließ sie die DCA.
Barbara lehnt sich vor. „Er muss ihr viel Geld dafür bezahlt haben, dass sie die Klappe hält.“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ Delphine zuckt mit den Achseln. „Aber die ganze Sache hat ihn sicher aufgerüttelt.“
„Woher weißt du das?“, fragt Sandro.
„Ihr hättet ihn damals sehen sollen.“ Delphine macht einen Schmollmund. „So sah er aus. Grün im Gesicht, eingefallene Wangen, kein Lachen. Keine Witze. Er hat kaum mit jemandem gesprochen.“
„Naja, sieht so aus, als wäre er darüber hinweg, wenn man nach seiner anhaltend guten Laune in den letzten Tagen geht“, sagt Barbara.
„Das denke ich auch.“ Delphine leert ihr Glas. „Aber die ganze Sache scheint ihm eine Lektion erteilt zu haben. Er hat seitdem mit niemandem aus dem Büro gevögelt.“
Sandro sieht sie überrascht an. „Wirklich? Nicht einmal in fünf Jahren?“
„Nicht einmal“, bestätigt Delphine. „Ich kenne mindestens ein Dutzend Frauen aus verschiedenen Abteilungen, die von ihrem Weg abwichen, um in seinem Bett zu landen. Ohne Erfolg.“ Sie gähnt.
„Also sollten wir nicht einmal daran denken, hm?“
Meine Ohren beginnen zu brennen.
„Das ist schade.“ Sandro seufzt. „Aufgrund seines ‘ich werde alles vögeln was sich bewegt‘-Rufs hatte ich gehofft, dass er mich darum bittet, ihm den schwulen Weg zu zeigen, als kleines Dankeschön dafür, dass er mir eine zweite Chance gegeben hat.“
Barbara kichert.
Delphine klettert von ihrem Hocker herunter und gähnt erneut. „Nachti Nacht, Kinder.“
Gott sei Dank, ist sie zu betrunken, um aufmerksam zu sein.
Nüchtern wäre ihr der rote Rettich, der dort gewachsen ist, wo mein Kopf einst war, nicht entgangen.