„
E
in Mojito und einen Single Malt für Tisch zwei“, instruiere ich Karim und übergehe dabei, dass die Drinks für den Teilhaber unserer Einrichtung und dessen Verlobte sind.
Ich sage es nicht, weil ich mir nicht sicher bin.
Als der streng aussehende Mann in seinen Dreißigern die Drinks bestellt, war seine Stimme der von Sebastian d’Arcy sehr ähnlich, zumindest von dem, was ich durch die Schranktüren hören konnte. Und er sah Raphael ähnlich – dunkle Haare, dunkle Augen und gut gebaut. Nur, dass Raphael immer aussieht, als würde er gleich anfangen zu lachen und dieser Mann ernster dreinblickt, als ein Nachrichtensprecher, der ein Erdbeben verkündet.
Zu meiner Überraschung ist er nicht mehr so ernst, als ich mit den Drinks an den Tisch zurückkehre.
Seine Verlobte, Diane – angenommen das ist sie – hat gerade einen Satz beendet. Und das hat ihren Begleiter amüsiert. Sehr. Sein Lächeln wird größer und verwandelt sich zugleich zu einem vollständigen Grinsen. Und dann verwandelt es sich in grollendes, rückhaltloses Lachen.
Das ist Sebastian. Er lacht so wie es auch Raphael tut.
Er lehnt sich nach vorn und nimmt Dianes Hand. Sie blickt mit ungenierter Zuneigung in seine Augen. Auf seinem Gesicht steht in Großbuchstaben „Ich liebe dich“ geschrieben.
Ich stelle ihre Drinks auf den Tisch und haste davon.
Delphine, die alles über jeden weiß, erzählte mir, dass Sebastians Verlobte eine Kassiererin bei Fanprix war, bevor er sie sich geangelt hat. Bald wird sie die sich in Geld wälzende Gräfin d’Arcy du Grand-Thouars de Saint-Maurice sein.
Wunder geschehen doch.
Vielleicht könnte auch mir – nur einmal – ein Wunder passieren? Vielleicht könnte das Damoklesschwert, das sich so nah an meinem Hals befindet, dass ich die Klinge an meiner Haut spüren kann, sich einfach auflösen. Und niemals wiederkommen.
Ein lautes Niesen unterbricht meinen Tagtraum. Es ist Marcus, der Barkeeper für die Nachtschicht, der gerade hereinkam und auf die Bar zukommt.
„Hi, Mia“, sagt er, bevor er erneut niest.
Ich begrüße ihn und folge ihm in den Barbereich.
Er sieht nicht gut aus.
„Du hättest dich krankmelden sollen“, sage ich und stütze mich mit den Ellbogen auf den Tresen ab.
„Das habe ich“, sagt er. „Aber Karim kann heute Abend nicht für mich einspringen.“
„Sorry, mon pote
.“ Karim taucht aus dem Personalraum auf, bereits ohne Uniform. „Ich befinde mich in den ersten Tagen einer Beziehung. Ich kann das Risiko nicht eingehen, dass sie denkt, ich würde sie versetzen.“
Marcus nickt. „Ich verstehe.“
„Aber ich habe Raphael angerufen“, sagt Karim. „Er wird in einer halben Stunde oder so hier sein.“
Marcus putzt sich die Nase. „Um was zu tun?“
„Dir zur Hand zu gehen, mon pote
. Du siehst aus, als könntest du das brauchen.“
Ich bin kurz davor zu sagen, dass unsere Kunden das auch brauchen, sofern sie keine Keime in ihren Drinks haben wollen, aber ich beiße mir auf die Zunge. Der arme Marcus fühlt sich auch so schon schlecht genug.
Genau eine halbe Stunde später taucht Raphael in all seiner kecken, männlichen Pracht auf. Er lächelt, positiv aufgeregt, während er sein Jackett auszieht und seine Ärmel hochrollt. Wie jemand nach einer vierzehn Stunden Schicht so aussehen kann, ist mir ein Rätsel.
Aber ganz offensichtlich nicht für ihn.
Er begrüßt Sebastian und Diane, schüttelt ein paar anderen Gästen die Hände und stolziert dann hinter den Tresen.
„Hi, Mia“, sagte er, bevor er dem blassen Barkeeper zunickt. „Marcus.“
„Hi, Boss“, sagen Marcus und ich einstimmig.
„Warum setzt du dich nicht hier drüben hin?“, Raphael stellt einen Stuhl unter das an der Wand befestigte Weinregal und führt Marcus hinüber. „So kannst du mein Souffleur sein, ohne die Kunden zu erschrecken.“
Marcus lässt sich auf den Stuhl fallen und seufzt erleichtert.
Die nächsten Stunden bestehen aus einer scharfen Lernkurve für Raphael, der entdeckt, wie limitiert seine Cocktailkenntnisse tatsächlich sind. Aber er setzt einen tapferen Gesichtsausdruck auf und gibt sein Bestes Marcus von Hatschis unterbrochenen Instruktionen zu folgen. Was ihm an Erfahrung fehlt, macht er durch kreative Schütteltechniken und Humor wieder wett.
Was ebenso hilfreich ist, ist, dass wenn Marcus stöhnt „Neiiin, das ist zu viel Rum (Wodka, Tequila, Sirup, Zucker, Limette, Eis)“, Raphael den Cocktail einfach auf den Tresen neben eine Serviette stellt, auf der steht „Experiment/Geht aufs Haus“.
Eine Reihe begieriger Gäste, die schnell größer wird, hat sich am Tresen gebildet, während sich die Nachrichten von freien Cocktails in der Bar verbreiten.
Sebastian und Diane gehen kurz nach Mitternacht. Um zwei Uhr morgens ist die Bar endlich leer und wir können nach Hause gehen.
Raphael ruft zwei Taxis – eines für Marcus und das andere für ihn und mich. Der arme reiche Mann ist heute Nacht ohne sein Auto unterwegs. Sein Ferrari ist in der Werkstatt und seinen Chauffeur von der Firma hat er vor ein paar Stunden mit dem Geschäftsauto nach Hause geschickt.
Im Taxi lehne ich meinen Kopf an Raphaels Schulter und döse ein. Es ist Donnerstagnacht, was bedeutet, dass ich morgen um neun Uhr morgens in Büro sein muss. Ein kleines Nickerchen in der Zwischenzeit ist mir sehr willkommen.
Ein sanftes Streicheln an meiner Schulter weckt mich auf.
„Wir sind vor deinem Haus angekommen“, sagt Raphael.
Ich setze mich auf und versuche meine Augen zu öffnen.
Er bezahlt den Taxifahrer, steigt aus und schiebt seine Arme unter meine Oberschenkel und meinen Rücken.
„Nimm deine Tasche“, sagt er.
Bevor ich realisiere, was geschieht, befinde ich mich nicht mehr im Taxi, dafür aber in Raphaels Armen.
Ich kuschle mich an seine Brust, als er an der Sprechanlage anhält. „Kannst du den Code eingeben?“
Das tue ich.
„Welches Stockwerk?“, fragt er, während er mich durch das Foyer trägt.
„Zweites.“ Ich lächle. „Du kannst mich absetzen.“
Er ignoriert mich und geht auf die Treppe zu.
Ich versuche es erneut. „Ich bin wieder ganz wach.“
Auch wenn sich das hier wie ein Traum anfühlt.
„Ich weiß.“ Raphael küsst meine Nasenspitze. „Und das werde ich… sobald wir vor deiner Tür stehen.“
Als er es tut und ich beginne an meinem wackeligen Schloss herumzufummeln, verwandelt sich eine Vorahnung, die ich hatte, seit er mich hochgehoben hat, in Gewissheit. Eine übersprudelnde Gewissheit.
Zum allerersten Mal wird Raphael meine Wohnung betreten.
Und er wird die Nacht in ihr verbringen.