I
ch wache von Raphael umschlungen auf.
Seine Brust ist gegen meinen Rücken gepresst, sein linker Arm ist unter meinem Kopf und sein rechter Arm ist um mich herumgeschlungen. Ich wage es nicht mich zu bewegen aus Angst, diesen genussvollen Moment zu stören. Während ich mit weit geöffneten Augen in seinen Armen liege, aber mein Körper noch immer schläfrig ist und ich seinem regelmäßigen Atem zuhöre, braut sich eine Erkenntnis in meinem Kopf zusammen.
Für eine Weile tue ich so, als wäre alles in Ordnung, aber meine Bewegungslosigkeit erlaubt es der Eingebung, Gestalt anzunehmen und zu wachsen. Als ich beginne sie zu verscheuchen, ist es bereits zu spät. Der Mistkerl hat es sich an der Front meines Bewusstseins gemütlich gemacht und öffnet seinen Mund, um etwas zu sagen.
Ich fange an in meinem Kopf zu summen, La la la la la la. Ich kann dich nicht hören, ich kann dich nicht hören –
Dumm nur, dass ich es doch hören kann. Laut und deutlich, jedes gemurmelte Word.
Ich bin verliebt.
Vorsichtig hebe ich Raphaels Arm hoch, rolle mich aus dem Bett und gehe in Richtung Badezimmer. Ich werde kalt duschen. Und lange. Als ich in einen Bademantel gewickelt in das Schlafzimmer zurückkehre, sitzt Raphael auf dem Bett mit den Füßen auf dem Boden und seinem Telefon in den Händen.
„Bruno hat mir gerade geschrieben. Er ist in Bereitschaft“, sagt er.
Bruno ist sein Fahrer.
Ich setze mich neben ihn. „Was genau bedeutet das?“
„Dass er in einem Bistro um die Ecke Kaffee trinkt und auf mein Signal wartet.“
„Ich verstehe.“
„Wann denkst du, dass du fertig bist?“, fragt er.
„Warum?“
„Damit ich Bruno eine ungefähre Zeit nennen kann.“
„Ich werde laufen“, sage ich.
„Sei nicht dumm. Die DCA ist mindestens eine Stunde Fußmarsch von hier entfernt.“
„Eigentlich sind es nur vierzig Minuten schnelles Gehen. Und das ist das Einzige an Sport, was ich in letzter Zeit schaffe, alsooo…“
„Alles klar.“ Er tippt etwas in sein Telefon, bevor er zu mir hochschaut. „Ich habe Bruno eben gesagt, dass er sich Zeit lassen und dann ohne mich ins Büro fahren soll.“
Ich runzle verwirrt die Stirn.
„Ich laufe mit dir“, sagt Raphael.
„Was, wenn uns jemand sieht?“
„Das wird niemand. Wir trennen uns dort, wo ich dich normalerweise rauslasse, wenn wir von meiner Wohnung kommen.“
Es ist tatsächlich der perfekte Ort in mitten eines Kreisverkehrs ein paar Blocks von der DCA entfernt. Es wimmelt nur so von Geschäftsleuten und Autos. Wenn man für die Arbeit angezogen ist, verschmilzt man mit der Menge sobald man sich in ihr befindet, wie eine Ameise, die einen Ameisenhaufen betritt.
Man ist nicht länger eine Person – man ist nur ein Anzug unter Anzügen.
„Ich kenne mich in diesem Viertel nicht sonderlich gut aus“, sagt Raphael, als wir aus dem Bistro an der Ecke der Straße, mit zwei dampfenden Kaffeebechern auftauchen. „Gibst du mir eine Tour?“
Ich zucke mit den Achseln. „Es ist ein super gewöhnliches Viertel im Vergleich zu deinem. Keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten oder Gebäude.“
„Die interessieren mich nicht. Ich will, dass du mir etwas über Mias Ménilmontant Viertel erzählst.“
„Okay. Klar.“ Ich lächle ihn breit an. „Willkommen in Mias Viertel! Ich werde versuchen, Ihre Tour so aufregend wie möglich zu gestalten.“
„Dankeschön.“
„Zu Ihrer Linken“ – ich deute auf die Bäckerei auf der anderen Straßenseite – „sehen Sie einen der vielen Weizen-Tempel unserer Hauptstadt.“
„Also sind wir eine Nation der Weizen-Anbeter?“
„Natürlich.“
Er zieht nicht sonderlich überzeigt seine Augenbrauen zusammen.
„Stell dir ein frisch gebackenes, warmes Baguette vor“, sage ich.
Er schließt für eine Sekunde seine Augen. „Erledigt.“
„Was möchtest du damit machen?“
„Ein Stück davon abbrechen, daran riechen und meine Zähne darin versenken.“
Ich lächle.
„Oder wenn ich es zuhause mache“, fügt Raphael hinzu, „schneide ich mein Baguette der Länge nach auf, streiche Butter auf eine Seite, belege es mit geschnittenem Ziegenkäse und getrockneten Tomaten, klappe den Deckel darauf und verschlinge es.“
Er seufzt träumerisch und schluckt,
Meine Lippen zucken. „Jetzt stell dir einen Reiscracker vor.“
Raphael starrt mich einen Moment lang an und wirft seine Hände dann kapitulierend in die Luft. „Du gewinnst. Ich bin ein Weizen-Anbeter.“
„Zu Ihrer Rechten“, sage ich und zeige auf ein farbenfrohes Gebäude, „befindet sich unsere médiathèque
.“
„Ist das eine extravagante Multimedia-Bibliothek?“
„Korrekt.“
Während der nächsten fünf Minuten laufen wir stillschweigend nebeneinander her, bis wir eine Fußgängerampel erreichen.
„Und das ist die verhängnisvolle Kreuzung“, sage ich.
„Warum ist sie verhängnisvoll?“
Ich zeige geradeaus. „Hier lang geht es schneller zum Büro. Und hier lang“ – ich zeige auf die Straße zu unsrer Linken – „gibt es den besten Chai Latte in Paris.“
Raphael grinst. „Ich verstehe dein Dilemma.“
„Du hast keine Ahnung, was ich hier jeden Morgen durchmache, solange ich auf die grüne Ampel warte.“
„Das Pflichtbewusstsein in Konkurrenz zur sofortigen Belohnung, hm?“
Ich nicke.
„Welche von beiden lässt den Tag besser losgehen?“
Ich schaue ihn entschuldigend an. „Ich bin nur ein Mensch.“
Er kichert sanft.
„Nun, sieh dir das Gebäude an“, sage ich.
Raphael blickt auf das für das neunzehnte Jahrhundert klassische Gebäude mit der Kalksteinfassade, gusseisernen Balkonen und Fensterläden aus Holz.
„Folge meinem Finger.“ Ich strecke den Finger aus.
„Sind das…“ Er starrt auf das Mosaik über der Eingangstür, blinzelt und starrt dann erneut. „Space Invaders aus dem Videospiel?“
„Oui, Monsieur d’Arcy.“
„Wie? Warum?“
„Das ist Pixel-Straßenkunst. Wir verdanken es einem Künstler unter dem Decknamen Invader und seinen Nachahmern.“
„Ich liebe es.“ Raphael macht ein Foto mit seinem Telefon.
„Invader behauptet, dass er eintausend Installationen über die ganze Stadt verteilt hat.“
„Wirklich?“
„Das habe ich online gelesen“, sage ich.
„Dann muss etwas dran sein.“
Als wir die nächste Kreuzung erreichen, erblicke ich ein hellgelbes Postauto und halte inne.
„Was ist los?“, fragt Raphael.
„Siehst du dieses Postauto?“
Er nickt.
„Es ist beinahe immer an dieser Kreuzung, wenn ich sie erreiche.“
Raphael untersucht den Van und sieht amüsiert aus.
„Was noch schlimmer ist“, sage ich, „er hält immer an, um mich über die Straße zu lassen.“
„Was ist daran so schlimm?“
„Es fühlt sich falsch an. Kennst du das, wie der höflichste Pariser hinter dem Steuer zu einem A-Loch werden kann? Nicht dieser Typ, nicht ein Mal. Und das gibt mir ein unheimliches Truman Show Gefühl.“ Ich sehe ihn mit panischem Blick an.
„Was, wenn mein Leben nicht echt ist? Was, wenn es die Mia Stoll Show
ist?“
„Es ist echt“, sagt er.
„Natürlich“, sage ich, als ich einem Hundehaufen ausweiche. „Das weiß ich. Aber das Ding ist… ich kann es nicht beweisen.“
„Ich kann es.“
„Wie?“
Er legt meine Hand auf seine Brust. „Ich bin echt.“
Ich sehe ihn in der Erwartung an, gleich ein Grinsen auf seinem Gesicht zu entdecken, aber sein Ausdruck bleibt ernst. Viel zu ernst für die Art Konversation, die wir führen.
„Und so ist es auch mein Schwanz“, fügt er hinzu und im nächsten Moment zieht das ersehnte Lächeln seine Mundwinkel nach oben. „Ich schwöre, dass er nicht vergrößert, verlängert, versteift oder anderweitig auf operative oder chemische Weise verändert wurde.“
Ich verdrehe die Augen.
„Und hier“ – er deutet auf das Briefzentrum zu unserer Rechten – „ist die Erklärung für deinen immer präsenten Van.“
„Daran habe
ich schon gedacht“, sage ich. „Was denkst du? Das Zentrum mag den Van erklären, aber es erklärt die unermüdliche Höflichkeit des Fahrers nicht.“
„Du weißt, dass du eigenartig bist, richtig?“, fragt Raphael.
Ich seufze. „Ich werde daran arbeiten meine Eigenartigkeit zu unterdrücken,“
„Bitte nicht“, sagt er. „Ich liebe sie.“
Ich schaue grinsend auf meine Füße.
Ein paar Feenflügel wachsen auf meinem Rücken und ich muss mich für den Rest des Weges sehr stark auf das Laufen konzentrieren, damit ich nicht abhebe.
Als ich das Büro betrete und meinen Computer hochfahre, befindet sich eine ungelesene E-Mail ganz oben im Posteingang. Die Betreffzeile zieht meine Aufmerksamkeit sofort auf sich. „Der Tag der Abrechnung.“ Meine Hand zittert, als ich sie öffne.
TRIFF MICH UM ZWÖLF UHR IM BISTRO VOR DEINEM BÜRO.
WENN DU NICHT AUFTAUCHST, WERDE ICH ETWAS IM INTERNET POSTEN, WAS DIR NICHT GEFALLEN WIRD.
UND ICH WERDE ES AUCH AN DEINE ELTERN SCHICKEN.
BIS UM ZWÖLF.