Von
: Eva Stoll
An
: Mia Stoll
Betreff
: Was gibt es Neues?
Hallo kleine Schwester,
Na, wie ist das Leben im sonnigen Martinique? Kümmern meine Freunde sich gut um dich? Hast du den Job bekommen? Hat dein Betreuer der These sich auf die Arbeit aus der Ferne eingelassen?
Letztes Wochenende bin ich ins Elsass gefahren. Mama und Papa haben deine Postkarte erhalten. Sie haben sie so oft gelesen, dass sie sie auswendig gelernt haben müssen, bevor sie sie in die Mitte des Kamins im Wohnzimmer gestellt haben. Sie sind etwas verwirrt wegen deiner verfrühten Midlife-Crisis, wie du es beschrieben hast, aber sie sagen, dass sie glücklich sind, solange du es bist.
Am aller wichtigsten ist, dass sie keine E-Mail von Gaspard erhalten haben. Ich wette, dass er das Video auch nicht online gestellt hat. Er hat geblufft, Mia. Er ist ein billiger, trauriger und erbärmlicher Loser, der versucht hat ein kluges Spiel zu führen und versagt hat. Jetzt weiß er, dass du weg bist und er hat weder deine Anschrift noch deine E-Mailadresse. Kein Druckmittel mehr. In einer Woche oder so, wird er nach Australien zurückkehren, mit dem Schwanz zwischen seinen Beinen. Ich hoffe, dass er versteht, dass die Stolls nicht mit Erpressern verhandeln!
Kuss,
Eva
Von
: Mia Stoll
An
: Eva Stoll
Betreff
: Martinique
Hi Evie,
Das Leben hier ist gut, so gut wie es den Umständen entsprechend sein kann. Es regnet viel, aber die Regengüsse sind warm und sie dauern nicht lang. Ich liebe die Sonne, das Meer, die Strände – alles was mich so fühlen lässt, als wäre ich in einem verlängerten Urlaub irgendwo in der Karibik. Oh warte, ich
bin
in der Karibik. Und doch immer noch in Frankreich. Alle sprechen Französisch, alle Schilder sind auf Französisch, das Fernsehen ist auf Französisch, ganz zu schweigen von all den vertrauten Restaurantketten und Geschäften. Ich liebe es.
Sandrine und Henrik waren so unglaublich nett zu mir. Ich weiß nicht, wie ich es jemals wiedergutmachen kann. Du hast großes Glück solche Freunde zu haben und ich habe großes Glück eine Schwester wie dich zu haben.
Und jetzt, Trommelwirbel… Ich habe den Job! Ich kann nicht glauben, wie einfach das alles war. Ab nächstem Montag wird deine geflohene Schwester eine Vertretungslehrerin für Geschichte an einer der Fort-de-France Realschulen sein. Die andere gute Neuigkeit ist, dass Professor Guyot der „Arbeit aus der Ferne“-Sache zugestimmt hat, auch wenn es ihm nicht ganz koscher war.
Wir werden die Tutorials über Skype abhalten. Das bedeutet, dass ich immer noch promoviere und immer noch auf dem Weg bin, meine These in einem Jahr zu verteidigen.
Du hast keine Ahnung wie glücklich ich bin zu hören, dass Gaspard seine Drohungen nicht hat wahr werden lassen – zumindest bis jetzt. Da fällt mir ein Stein vom Herzen.
xoxo,
Mia
Von
: Eva Stoll
An
: Mia Stoll
Betreff
: Neuigkeiten
Ich gratuliere dir zu deinem neuen Job und Professor Guyots Nachsicht! Gut gemacht, Schwesterlein.
Du wirst nicht glauben, wer mich vor ein paar Tagen angerufen hat. Sebastian d’Arcy. Er hat sich vorgestellt, sich dafür entschuldigt mich zu stören und hat dann nach dir gefragt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er von deiner Existenz weiß. Von meiner ganz zu schweigen. Jedenfalls befolgte ich unser Script und lieferte ihm das Blabla über das nicht ausschlagbare Jobangebot in Quebec. Dann habe ich unser Script verlassen und habe ihn gefragt, ob er angerufen habe, weil seinem Bruder das Herz blutet.
Es tut mir leid, ich konnte nicht anders.
Sebastian meinte, dass es nicht den Anschein mache und fügte hinzu, dass Raphael zu solch einer Hochform aufgelaufen ist, dass man meinen könnte, dass er Drogen nimmt, wenn man ihn nicht besser kennen würde.
Ich fragte ihn, warum er anrufe. Er sagte während einer langen Zeit nichts, sodass ich beinahe aufgelegt hätte, aber dann sagte er, dass ich es vergessen solle und etwas darüber, dass seine Frau Recht habe, wenn sie meint, dass er sich zu viele Sorgen macht. Danach verabschiedete er sich und legte auf.
War das nicht komisch?
Das ist übrigens eine rhetorische Frage. Was ich aber wirklich wissen möchte ist, ob es dir dabei hilft Raphael zu vergessen, indem du so weit weg bist. Vielleicht sollte ich dasselbe versuchen, um über Max hinwegzukommen…
Und nun zur allerwichtigsten aller Fragen. Bist du immer noch schwanger oder hast du deinen Plan mit der Abtreibung durchgezogen?
In Liebe,
Eva
Von
: Mia Stoll
An
: Eva Stoll
Betreff
: RE: Neuigkeiten
Hi Eva,
Ich werde deine rhetorische Frage zuerst beantworten. :-) Sebastian d’Arcys Anruf ist komisch. Aber es ist schön zu wissen, dass es Raphael gut geht. Als ich ihm geschrieben habe, dass ich nach Kanada ziehe, antwortete er „Schön für dich! Danke fürs Bescheid geben.“ Ich dachte, er meinte das sarkastisch.
Aber scheint so, als hätte er es gemeint.
Was meine Anstrengungen über ihn hinwegzukommen betrifft, liegt immer noch viel Arbeit vor mir. Um es zusammenzufassen, ich lese Selbsthilfebücher. Das nennt sich Bibliotherapie und du solltest es definitiv versuchen, um über Max hinweg zu kommen.
Ein anderer Trick, den ich gelernt habe, ist es, Klatschzeitschriften zu kaufen, in denen ich fast immer Fotos von ihm in Begleitung einer umwerfenden Kreatur finde. Ich überdecke sein Gesicht mit einem Finger und versuche mich auf die Frau zu konzentrieren und herauszufinden, mit welchen er geschlafen hat und mit welchen er es noch tun wird. Und wenn ich meinen Finger dabei erwische, wie er das Papier streichelt, dann beiße ich fest in ihn.
Es ist brutal, aber notwendig.
Und um deine wichtigste Frage zu beantworten – ja, ich bin immer noch schwanger. Ich denke, ich kann die Abtreibung nicht durchziehen. Nicht, weil ich plötzlich spüre, dass Raphael etwas mitzureden hätte oder etwas in die Richtung.
Ich brenne auch nicht sonderlich darauf eine Mutter zu sein.
Wenn ich eine Fehlgeburt habe, dann wäre es eine Erleichterung. Eine große Erleichterung. Aber ich bin jetzt fast im dritten Monat und der Zellklumpen in meinem Bauch hat bereits ein Herz. Ein winziges schlagendes Herz, Evie. Mach unsere Familienhintergründe und Erziehung oder meine Dummheit dafür verantwortlich, aber das bedeutet mir etwas. Das Kleinkind ist ein Produkt des Liebemachens, nicht von unbedeutendem betrunkenem Sex oder einer Vergewaltigung. Ich bringe es nicht über mich ins Krankenhaus zu gehen, damit Ärzte den Herzschlag lahmlegen und dann einfach so mit meinem Leben weiterzumachen, als ob alles wunderbar wäre.
Es ist eine dieser Situationen, in denen ich verliere, wenn ich es tue und auch wenn ich es nicht tue. Also tue ich es nicht.
xoxo,
Mia