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enn ich gewusst hätte, wie sehr es mein vermeintlich geheiltes Herz aufwühlen würde, wieder in Paris zu sein, dann hätte ich mich besser vorbereitet. Ich hätte mir ein homöopathisches Rezept besorgt und sichergestellt, dass ich während meines Aufenthalts die höchst zulässige Dosis intus habe. Vielleicht würde ich dann Raphael nicht an jeder Ecke sehen und ich würde nicht an ihn denken, während mir ein Kollege der Wissenschaft von seiner Arbeit erzählt.
Ich zwinge mich dazu ihm zuzuhören.
„Es brauchte tatsächlich sechs Monate, bis der Aufstand sich in Wohlgefallen aufgelöst hat“, sagt Xavier.
„Wirklich?“ Ich gebe mein Bestes herauszufinden, von welchem Aufstand er redet und warum.
Xavier nickt. „Ich konnte nicht vor Oktober letzten Jahres nach Mali zurückkehren, um meine Feldstudie zu beenden.“
„So ein Mist!“
Er streckt die Arme aus. „Das passiert eben, wenn der Gegenstand deiner Studie in instabilen Ländern heimisch ist.“
Ich lächle. „Meine Forschungsgegenstände sind seit Jahrhunderten tot. Was sehr hilfreich dabei ist, den Zeitplan für meine Arbeiten einzuhalten.“
Xavier kichert.
Er hat eine schrille, beinahe mädchenhafte Lache, die man nicht von einem großen Mann erwarten würde, der klobige Stiefel und eine Holzfällerjacke trägt.
„Also, welche Klasse unterrichtest du, maître
?“ Ich betone das letzte Wort und spiele damit auf seinen offiziellen Titel an, maître de conférences
– Privatdozent.
Meine Stichelei ist allerdings ein wenig scheinheilig, denn ich wäre außer mir vor Freude, wenn ich einen maître de conférences
– Vertrag an Land ziehen könnte, sobald ich meine Promotion in der Tasche habe.
„Ich hoffe, dass ich bald meine eigene Klasse unterrichten werde“, sagt er. „Aber bis jetzt leite ich Seminare für Professor Boscs Einführung in die Soziologie.“
„Das ist ein toller Kurs. Ich habe ihn in meinem dritten Jahr belegt.“
Ich werfe einen kurzen Blick auf meine Brust, um nachzusehen, ob sich nasse Flecken um meine Nippel gebildet haben.
Soweit alles in Ordnung.
„Also hast du dein Vordiplom hier in Paris gemacht?“, fragt Xavier.
Ich nicke. „Die ersten beiden Jahre in Straßburg und dann habe ich nach Paris gewechselt.“
„Wie lange warst du in Martinique?“
„Ein Jahr. Ich plane dorthin zurückzukehren, wenn ich meine Verteidigung hinter mir habe.“ Ich werfe einen erneuten Blick auf meine Brust.
Immer noch trocken, aber ich fürchte nicht mehr allzu lange.
„Hör zu, ich muss schnell auf die Toilette.“ Ich schaue Xavier entschuldigend an. „Könntest du Professor Guyot aufhalten, wenn er während meiner Abwesenheit vorbeikommt?“
„Da kannst du drauf wetten.“
„Danke! Ich bin gleich zurück.“
Ich flitze und schimpfe den ganzen Weg zur Toilette mit mir selbst, wegen meines abwesenden Denkvermögens. In meiner Eile heute Morgen zur école
zu gelangen, habe ich vergessen Stilleinlagen in meinen BH zu legen. Was bedeutet, dass die Milch, die aus meinen Brüsten strömt, jeden Moment durch meine Unterwäsche dringen und einen Fleck auf meiner Bluse hinterlassen könnte.
Diesen Teil hasse ich am Stillen.
Was ich nicht hasse ist das Stillen selbst. Meinem herzele
dabei zuzusehen, wie sie an meiner Brust nuckelt, ihre Augen vor Genuss geschlossen, und sie ihre Nahrung von mir erhält, ist pures Glück. Vor kurzem haben wir mit den Breien angefangen – Lily ist nun sechs Monate alt und der Arzt sagt, dass es an der Zeit wäre – aber ich plane sie für ein paar Monate weiterhin zwei Mal am Tag zu stillen. Das tut ihrem Wohlbefinden gut.
Und meinem auch.
Ich wische meine Nippel ab und lege die Innenseite meines BHs mit Toilettenpapier aus. Das sollte die Zeit überbrücken. Professor Guyots Unterricht sollte nun jeden Moment zu Ende sein und wenn er zu Ende ist, dann werden wir uns unterhalten. Und dann werde ich meine Lily von der Tagesmutter abholen können.
Ich hoffe, dass er gute Nachrichten für mich hat.
Ich bin jetzt seit drei Wochen in Paris und habe immer noch kein Datum für meine Verteidigung. Eigentlich hätte sie letzten Mittwoch stattfinden sollen. Aber dann starb der Vater einer meiner Berichterstatter und die ganze Sache musste verschoben werden.
„Er ist immer noch drin“, sagt Xavier, als ich zurückkomme oder viel mehr zurückgerannt komme und mich neben ihn auf die Bank setze.
„Puh. Gut.“
„Du musst enttäuscht sein, wie das letzte Woche mit deiner Verteidigung gelaufen ist“, sagt er.
„Das bin ich.“
„Meine musste Anfang dieses Jahres vertagt werden. Mein Betreuer hatte sich ein Bein gebrochen.“
„Wie lange hast du warten müssen?“
„Zwei Monate.“
Ich lasse meinen Kopf in meine Hände fallen. „Oh nein.“
„Vielleicht hast du mehr Glück“, sagt er, bevor er hinzufügt, „auch wenn ich hoffe, dass du das nicht hast. Ganz eigennützig hoffe ich, dass du solange wie möglich in Paris bleibst.“
Ich schaue überrascht zu ihm hoch.
Er hält meinem Blick stand, als würde er sagen, ja es ist wie du denkst
.
Was, wie, wo?
Wir haben uns vor zwei Wochen durch Profesor Guyot getroffen. Xavier ist Soziologe. Ich bin Historikerin. Unser Mentor ist beides und er band uns in sein neues Seminar „Recherchemethoden in der soziologischen Geschichte“ ein. Das Seminar ist nur für Doktoranden und die, die ihren Doktor bereits haben, also ist die Teilnahme eine gute Gelegenheit, um etwas zu lernen. Und es macht Spaß. Unsere Gruppe ist klein genug, dass sie am runden Tisch im Café auf der anderen Straßenseite Platz findet, wo wir jede Sitzung mit einem Drink ausklingen lassen.
Ich hatte keine Ahnung, dass Xavier anderweitiges Interesse an mir entwickelte, als rein akademisches.
„Ich habe ein Baby“, platze ich mit meinem neuen und liebsten anti-flirt Satz hervor.
Er schaut auf meine ringlose Hand. „Bist du noch mit dem Vater zusammen?“
Ich schüttle den Kopf.
„Dann gibt es kein Problem. Babys stören mich überhaupt nicht.“ Er lächelt. „Tatsächlich liebe ich sie.“
Ookay.
Gott sei Dank, öffnet sich in diesem Moment die Tür des Hörsaals und Professor Guyot kommt heraus.
„Hallo, Mia, tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.“ Er nickt Xavier zu, bevor er sich wieder mir zuwendet. „Jeder einzelne Student hatte nach der heutigen Vorlesung eine wichtige Frage.“
Xavier und ich verabschieden uns und ich folge Professor Guyot entlang des Flurs.
„Können Sie mich zum Raspail-Anbau begleiten?“, fragt er. „Ich möchte nicht zu spät zum Fakultätstreffen kommen.“
„Kein Problem.“
Bitte lass es gute Nachrichten sein!
Meine aktuelle Situation ist so prekär, dass ich sie nicht mehr lange aufrechterhalten kann. Ich miete ein Airbnb im Zwölften. Es ist billiger als ein Hotelzimmer, aber trotzdem das Doppelte meiner Rente in Martinique. Ich hatte Glück einen Platz für Lilly in der Kindertagestätte zu bekommen, die nur zwei Blocks entfernt ist. So kann ich mich um all die administrativen Dinge kümmern und an Seminaren teilnehmen. Aber die Kosten für die Wohnung und die Kindertagesstätte brennen sich durch meine Ersparnisse, wie ein Schwarm Grashüpfer durch ein Maisfeld.
Länger als bis Ende Oktober in Paris zu bleiben, steht nicht zur Debatte.
„Ich habe zwei gute und eine schlechte Nachricht für Sie“, sagt Professor Guyot, als wir das Gebäude verlassen. „Welche wollen Sie zuerst hören?“
„Warum stecken Sie die schlechte Nachricht nicht zwischen die beiden guten?“, schlage ich vor.
Er nickt. „Okay, die erste gute Nachricht. Ich habe in die Wege geleitet, dass Sie einen meiner Master-Workshops co-moderieren. Sie werden einen kleinen Vertrag für den Rest des Septembers und den ganzen Oktober erhalten.“
Meine Augen weiten sich. „Wirklich?“
„Es ist nicht viel“, sagt er grinsend, „aber so werde ich Sie und Ihr Baby bis zu Ihrer Verteidigung sehen können.“
„Gibt es dafür ein Datum?“, frage ich.
„Ja – und das sind die schlechten Nachrichten.“
Er hält an einer Ampel an, dreht sich um und sieht mich entschuldigend an. „Die einzige Zeit, zu der Mathilde, ich und der Rest ihres Komitees verfügbar sind, ist in der dritten November Woche.“
„Das ist in zwei Monaten.“
Die Ampel wird grün und wir setzen uns wieder in Bewegung.
„Ich weiß“, sagt er. „Und das führt mich zu der zweiten guten Nachricht. In der Geschichtsfakultät wird sich nächsten Monat die Stelle für einen maître de conférences
öffnen.“
„Aber…“, murmele ich, während wir auf den Boulevard Raspail einbiegen, „ich werde meinen Doktortitel nicht vor November haben. Sofern alles gut geht.“
„Das wird es, da bin ich sicher.“
Wir erreichen den Anbau und steigen die Treppen zum Eingang hinauf.
„Sie haben hervorragende Arbeit mit Ihrer Dissertation geleistet“, sagt er, als wir vor der Drehtür anhalten. „Jeder im Komitee liebt Sie. Sogar Mathilde liebt Sie – und Sie wissen, wie schwer es ist, sie zu beeindrucken.“
Es grenzt an das Unmögliche Mathilde zu beeindrucken.
Ich war gezwungen sie zu fragen meinem Komitee beizutreten, denn sie ist eine absolute Expertin auf meinem Gebiet. Aber ich war vollkommen darauf vorbereitet, dass sie die Kopie meiner Thesis während meiner Verteidigung zerreißt und verkündet, dass dies das einzige Schicksal sei, dass diese Art von Bullshit verdiente.
Das hat sie bei anderen Kandidaten vor mir gemacht.
Professor Guyot lächelt. „Ich habe mit der Administration geredet und sie sind dazu bereit, die Stelle bis Mitte November offen zu halten.“
„Das ist…“ Ich suche nach Wörtern. „Das ist zu schön, um wahr zu sein.“
Er schüttelt den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Sie müssen sich immer noch bewerben und ein gutes Interview führen, worüber ich keine Zweifel habe, dass Sie das werden.“
„Vielen Dank, Professor –“
„Bitte. Verschwinden Sie jetzt.“ Er wirft einen Blick auf seine Uhr. „Ich bin schon fünf Minuten zu spät.“
„Ich… Ich bin wirklich dankbar für alles, was Sie für mich tun!“
„Das ist absolut kein Aufwand.“ Er seufzt. „Nach dem Fakultätstreffen werde ich einen meiner anderen Doktorranden treffen und dieses Gespräch wird nicht so erfreulich wie dieses hier sein.“
Er streckt seine Karte dem Sicherheitsmann hin und geht hinein.
Ich renne die Treppen hinunter, begierig Lily abzuholen, es mir mit ihr Zuhause gemütlich zu machen und dann Eva anzurufen, um ihr die guten Nachrichten mitzuteilen.
Könnte mein Leben endlich wieder auf die richtige Bahn geraten?