Kapitel 24
I ch gefriere fest.
Atmen, Mia.
Es könnte ein Nachbar sein. Oder der Postbote. Oder die Vermieterin, die festgestellt hat, dass sie mir etwas Dringendes mitteilen muss, kurz nachdem der Akku ihres Telefons leer war.
Die Schulverwaltung hat diese Adresse auch.
Nur, dass keine Verwaltung abends um sieben bei den Leuten an der Tür klopft. Eigentlich klopfen sie zu keiner Zeit des Tages an irgendeiner Tür. Sie bestellen einen stattdessen bevorzugt um acht Uhr morgens ein, nur um einem die Freude zu bereiten, vor einer verschlossenen Tür zu stehen.
„Wer ist da?“, frage ich.
Wenn diese blöde Tür doch nur einen Spion hätte und dieses blöde Gebäude eine Gegensprechanlage!
„Ich bin es, Raphael“, dringt eine vertraute Stimme durch die Tür.
Meine Knie wackeln.
Einige psychologische Prozesse laufen in meinem Körper an und mir wird schwindlig, übel und brennend heiß, die Kälte kriecht mir bis in die Knochen, ich habe Angst und trotzdem bin ich außer mir vor Freude – und das alles passiert gleichzeitig.
„Mia?“, sagt er. „Tut mir leid, dass ich nicht erst angerufen habe. Lässt du mich rein?“
Ich kaue auf meinen Nägeln. „Du hättest anrufen sollen.“
„Oh, das hätte ich, aber du hast eine neue Nummer“, sagt er. „Und die Neue hast du mir nicht gegeben, erinnerst du dich?“
Ein vertrauter Hauch von Humor in seiner Stimme zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund treibt es mir auch die Tränen in die Augen.
„Hör zu“, sagt Raphael. „Ich habe kein Hühnchen mit dir zu rupfen. Ich bin sicher, dass du deine Gründe hattest, die Strände einer tropischen Insel dem nebligen Paris vorzuziehen. Ich würde auch lieber auf einer Insel leben, wenn ich kein Unternehmen zu führen hätte.“
Ich lächele dabei, während ich mich an die Fotos an den Wänden in seinem Loft erinnere, die eine felsige Insel zeigen.
Dann fällt mir auf, dass er weiß, dass ich nicht in Quebec war.
„Warum bist du hier?“, frage ich.
„Nur um zu reden… als ein Freund. Um der guten alten Zeiten willen.“
Das ist die perfekte Gelegenheit, um zu sagen, Tut mir leid, Raphael, aber ich bin über das alles hinweg und um ihm dann alles Gute zu wünschen.
„Wie hast du mich gefunden?“, frage ich stattdessen und öffne die Tür.
Akuter Wahnsinn ist die einzige Erklärung dafür.
Während der letzten vierzehn Monate habe ich mich so daran gewöhnt die Worte „weit weg“ und „lange her“ in Verbindung mit „Raphael“ zu benutzen, dass ich mich selbst dazu gebracht habe zu glauben, dass er in einem Paralleluniversum leben würde. Raphael d’Arcy wurde zu einer stattlichen, menschenähnlichen Lebensform, die ich in einer Lücke ohne Zeit und Raum getroffen habe. Aber dann wurde die Lücke gestopft und ich kam in die Wirklichkeit zurück, mit Lily als Beweis dafür, dass die ganze Sache nicht nur ein Traum war.
Und jetzt ist er da – die stattliche Lebensform.
Mein Ex-Boss und mein Ex-Lover.
Der Vater meines Babys.
Der Mann, vor dem ich weggerannt bin.
Der Mann, für den ich sterben würde.
Ich begutachte seine große, hagere Figur aus stahlharten Muskeln. Er sieht genauso aus, wie noch vor einem Jahr und dennoch ein wenig anders. Ich weiß nicht, was den Unterschied ausmacht. Ist er größer? Das ist unmöglich. Muskulöser? Ich glaube nicht. Ungepflegter? Nee. Muss ich mir wohl einbilden.
„Wow“, sagt er, als er hereinkommt. „Du hast dich verändert.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Deine Haare sind kürzer“, sagt er. „Viel kürzer.“
Er streckt seine Hand aus und streicht mit seinen Fingern durch meinen Bob.
„Es ist geschickter sie kurz zu tragen“, sage ich und lehne mich zurück.
Er zieht seine Hand weg und begutachtet mich weiter.
„Noch etwas?“, frage ich ihn mit so viel Sarkasmus wie nur möglich.
„Deine Augen sind grüner als ich in Erinnerung hatte.“ Er kratzt sich am Kinn und mustert mich von oben bis unten. „Es sind Kleinigkeiten… ich kann gerade aus dem Stehgreif nicht einmal genau sagen, was es genau ist.“
„Halt mich auf dem Laufenden, wenn du es weißt.“
Für ein paar Sekunden stehen wir nur an der Tür und schauen uns an.
Es dämmert mir, dass dieser Moment vermutlich die zweite – und vermutlich letzte – Chance ist zu sagen: „Hör zu, es war schön dich zu sehen, aber ich muss wirklich los, also tschüss und pass gut auf dich auf.“
Aber wem mache ich hier etwas vor?
All die Willenskraft und Entschlossenheit, die ich in diesem Moment besitze, reichen kaum dafür aus mich selbst davon abzuhalten, meine Arme um seinen Hals zu werfen, meine Augen zu schließen und meinen Kopf für einen Kuss nach oben zu strecken.
Ich drehe mich um und gehe in Richtung Küche.
Er folgt mir.
„Wie hast du mich gefunden?“, frage ich.
„Durch deine Schule.“
Ich drehe mich zu ihm um und schaue ihn fragend an.
„Ich habe deinen Fortschritt während des letzten Jahres verfolgt“, sagt er. „Aus reinem Interesse und weil es einfach so leicht mit dem Internet ist. Du hast drei Artikel veröffentlicht, die ich gelesen habe.“
Meine Augenbrauen schnellen in die Höhe.
„Frag mich ab, wenn du mir nicht glaubst“, bietet er an.
„Vielleicht später.“ Ich verenge die Augen. „Aber das Internet kennt meine aktuelle Adresse nicht.“
„Aber deine Schule kennt sie. Ich habe dich letzte Nacht gegoogelt – nur um zu sehen, ob du etwas Neues veröffentlich hast, was ich lesen könnte, weißt du – und dann sah ich, dass du einen Workshop hier in Paris leitest.“
„Nicht allein.“
„Richtig.“ Er nickt. „Mit deinem Betreuer. Jedenfalls sobald ich wusste, dass du in Paris bist, war es eine Frage von Tricks und Geld deine Adresse herauszubekommen.“
„Du hast nicht versucht mich in Ma – Canada zu finden?“, frage ich.
„Eigentlich habe ich das“, sagt er. „Und daher weiß ich, dass du in Martinique warst. Ich bin im Februar fast dorthin geflogen, aber dann fiel mir ein, dass du mit mir schlussgemacht hast.“
Schlussgemacht?!
„Du warst nicht mein Freund, mit dem ich hätte schlussmachen können.“
Er sieht überrascht aus, aber dann wird sein Gesichtsausdruck wieder weicher. „Da hast du natürlich Recht. ‚Schlussmachen‘ würde sich auf unseren Fall nicht anwenden lassen. Wie wäre es damit: Du hast mich mit einer SMS davon in Kenntnis gesetzt, dass unser exklusives Arrangement durch deinen Umzug mit sofortiger Wirkung beendet ist?“
Ich lächle. „Klingt ungefähr richtig.“
Raphael schaut sich in der Küche um. „Du warst gerade dabei zu kochen.“
„Mhm.“
Ich werde nicht fragen, ob er zum Abendessen bleiben möchte. Zudem ist ein Abendessen bestehend aus gedämpftem Gemüse und Stampfkartoffeln keines, das Raphael genießen würde.
„Verrate mir etwas.“ Er kommt näher. „Ich bin nur neugierig. In einem Moment sagst du, dass du willst, dass wir exklusiv füreinander sind und im nächsten Moment warst du verschwunden. Das macht keinen Sinn.“
Ich zucke mit den Achseln. „Das machen Trennungen für den, der verlassen wurde selten.“
„Touché.“ Er lächelt. „Macht es dir etwas aus, wenn ich diesen Satz für meine nächste Trennung klaue?“
„Lass die Sau raus“
„Kann ich dich um etwas zu trinken bitten?“
„Eine Dose Cola ist im Kühlschrank“, sage ich und werfe das gewürfelte Gemüse in den Dampfgarer. „Vielleicht versteckt sich sogar noch ein Bier irgendwo hinten drin.“
Er zieht die Cola und das Bier hervor. „Bingo!“
„Ich habe gerade kein sauberes Glas“, sage ich. „Aber ich kann dir eine Teetasse anbieten.“
Er schüttelt seinen Kopf. „Ich trinke aus der Dose. Was hättest du lieber?“
„Die Cola.“
„Gut.“ Er reicht mir die Cola. „Wenigstens sind manche Dinge beim Alten geblieben.“
Ich stelle die Dose auf den Tisch.
Er hebt sein Bier. „Cheers.“
„Warte kurz.“
Ich gehe zur Spülmaschine und fülle sie. Da die Anzahl an Geschirr in dieser Küche limitiert ist, muss ich die Spülmaschine ständig laufen lassen.
„Fertig!“ ich drücke auf den Knopf an der Vorderseite der Maschine und warte auf das Startgeräusch.
Die Spülmaschine ignoriert mich.
„Nicht schon wieder, du beerflaschebrunzer !“
„Ein weiteres deiner auserwählten elsässischen Beiworte?“, fragt Raphael. „Was bedeutet es?“
„Der, der in die Bierflasche pinkelt“, sage ich, öffne die Maschine und hole das dreckige Geschirr wieder heraus.
„Das ist sehr… passend.“ Er kneift die Augen zusammen. „Kann ich dir beim Spülen helfen?“
„Du kannst mir helfen, dieses Miststück zu reparieren“, sage ich. „Die Vermieterin hat mir gezeigt, was zu tun ist, wenn das passiert.“
„Zu Befehl, Madame“, sagt Raphael.
Ich zeige auf den Boden der Spülmaschine. „Kannst du den Plastikfilter rausdrehen und entfernen?“
Er kniet sich vor der Spülmaschine hin und löst den Filter.
„Ich fange an ihn zu säubern. „Und jetzt schau nach Speiseresten.“
„Wo?“
„Im Abfluss.“
Er sieht mich fragend an.
„Das ist etwas schwierig, da du nicht siehst wonach du suchst. Aber keine Angst, da sind keine Piranhas drin. Steck einfach einen Finger rein und wackle etwas umher.“
Sein Gesicht kräuselt sich vor Belustigung.
Ich lächele herablassend. „So etwas hast du noch nie zuvor gemacht, oder?“
Raphael räuspert sich. „Einen Finger ins Loch stecken“, kommentiert er, während er seinen Finger in das Rohr taucht. „Blind wackeln.“
Warum zucken seine Lippen?
Er neigt seinen Kopf zur Seite und sieht mich verschmitzt an, als würde er sagen: Verstehst du nicht, wie lustig das ist?
„Was?“, frage ich.
„Ich glaube, ich habe so etwas schon einmal gemacht“, sagt er. „Und ich glaube du warst auch dabei.“
„Oh“, ich atme aus.
Das.
Gerade als die Hitze mir ins Gesicht steigt, schreit Raphael „Ja!“ und zieht etwas aus dem Abfluss.
Ich erkenne, dass es der Überrest eines Apfels sein könnte, bevor er es in den Mülleimer wirft.
Ich belade die Spülmaschine erneut und drücke auf Start.
Die Maschine ist für einen Moment still und beginnt dann zu brummen.
Ich seufze erleichtert. „Ah, Musik in meinen Ohren.“
„Ich weiß, was anders an dir ist“, sagt Raphael. „Abgesehen von der verminderten Haarpracht und dem intensiveren Grün deiner Augen.“
Ich stemme die Hände in die Hüften. „Was?“
„Das.“ Er deutet auf meine Hände. „Deine Haltung. Sie ist anders. Und du bist muskulöser.“
Das kommt daher, dass ich Lily, wenn sie Bauchschmerzen hat, die halbe Nacht in meinen Armen halte.
„Kommt vom Schwimmen“, sage ich.
Das habe ich auch gemacht… ab und zu.
„Deine neue Haltung und deine Muskeln gefallen mir“, sagt Raphael.
Lily entscheidet sich exakt in diesem Moment dazu aufzuwachen und zu weinen.
Ich eile zu ihrer Wiege.
„Mama ist da, alles in Ordnung“, sage ich auf der Suche nach ihrem Schnuller.
Raphael kommt auf Zehenspitzen herein und bleibt hinter mir stehen.
Ich schaue mich nach ihm um, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Er sieht fassungslos aus.
„Du hast ein Baby?“, fragt er stirnrunzelnd, als würde irgendetwas nicht zusammenpassen.
„Könnte man meinen.“
„Wer…“ Seine Stimme bricht ab. „Wer ist der Vater?“
Lily weint immer noch, also nehme ich sie hoch. „Ich wünschte ich könnte dir sagen das er ein Klingon aus Kronos ist, aber er ist nur ein Mann.“
Raphaels Fäuste sind geballt und er atmet sichtbar schwer, während er mein kleines Mädchen betrachtet. Er muss in seinem Kopf nachrechnen und sich vor der Möglichkeit fürchten, dass das Baby von ihm sein könnte. Armer Mann! Wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde, dann würde er sich wieder ausgenutzt vorkommen, von einer skrupellosen Sexpartnerin in die Elternschaft getrickst.
Es würde bedeuten, ich wäre die skrupellose Sexpartnerin, genau wie Adele.
„Entspann dich“, sage ich. „Lilys Vater ist in Martinique.“
„Lily“, wiederholt er und starrt mein Baby an.
„Ich habe sie nach meiner Lieblingsoma benannt.“
„Also hast du den Vater sitzen gelassen?“
„Wir haben uns einvernehmlich getrennt.“
Er nickt. „Wie alt ist sie?“
„Vier Monate“, lüge ich.
„Ich weiß nicht viel über Babys, aber ich hätte sie auf sechs Monate geschätzt. Mindestens.“
„Ihr Vater ist sehr groß“, sage ich. „Sie sieht ihm zum Verwechseln ähnlich.“
Er nickt erneut, wesentlich ruhiger.
„Kann ich sie halten?“ Er versucht sich an einem Lächeln.
Ich drehe Lily um und schnuppere. „Vielleicht ein anderes Mal. Ich denke, sie hat in die Hose gemacht.“
Er betrachtet ihr von einer Windel überzogenes Hinterteil. „Bist du sicher? Vielleicht ist ihre Windel nur nach unten gerutscht und… hat sich unter ihrem Po gebündelt.“
Ich halte sie näher an sein Gesicht. „Riech mal.“
„Uhh.“ Er zieht eine Grimasse und dreht sich weg.
„Ich habe es dir gesagt.“
„Könnte auch nur ein Pups sein“, sagt er.
„Eine Daumenregel bei Babys.“ Ich setze Lily auf den Boden, um ihre Wickelunterlage zu holen. „Wenn es aussieht wie Kacka und riecht wie Kacka, dann ist es Kacka.“
„Ah“, sagt er. „Mia und ihre Daumenregeln. Anscheinend hast du dich doch nicht so sehr verändert.“
„Raphael und seine Mittelfingerregel“, sage ich. „Du hast dich gar nicht verändert.“