W
ährend mich ein uniformierter Oberkellner zu Sandros Tisch führt, bewundere ich die kunstvolle Wanddekoration dieser legendären Brasserie, in die Joséphine Baker einmal mit einem Löwenbaby kam und Marc Chagall seinen letzten Geburtstag feierte.
Mir wird außerdem völlig bewusst, wie nervös ich wegen heute bin.
Erstens, weil die DCA Gang – besonders die scharfsinnige Delphine – mich mit Fragen überhäufen wird, die ich beantworten muss. Und zweitens, weil Xavier, den ich später an diesem Nachmittag treffe, versuchen wird, mit mir Händchen zu halten oder sich an anderen Formen des Körperkontakts versuchen wird, wozu ich noch nicht bereit bin.
Barbara wirft sich mir als erstes mit solcher Wucht um den Hals, dass ich ins Schwanken gerate. „Mia, du Miststück, wie lange hattest du vor, deine Rückkehr vor uns zu verheimlichen?“
Sie umarmt mich herzlich und geht dann aus dem Weg, um Platz für Delphine zu machen.
„Es tut mir leid, Leute, wirklich“, sage ich, während ich erst Delphine umarme und dann Sandro.
Delphine zieht eine Augenbraue nach oben. „Es könnte sein, dass wir dir verzeihen, wenn du uns alles
erzählst.“
Und das ist genau, was ich während der nächsten Stunde mache. Ich erzähle ihnen von meinem Leben in Martinique, meiner bevorstehenden Verteidigung und dem Workshop den ich mit leite. Ich erzähle ihnen auch von Lily und füttere sie mit der gleichen Geschichte, die ich auch Raphael erzählt habe. Wer weiß, wenn ich sie oft genug erzähle, fange ich vielleicht irgendwann an sie selbst zu glauben.
„Also ist ihr Papa in Martinique geblieben?“, fragt Sandro. „Ist es wirklich vorbei zwischen euch?“
Ich nicke.
„So eine Romanze hatte ich vor ein paar Jahren auch“, sagt Barb mit verträumtem Blick. „Es dauerte nur drei bis vier Wochen, bis meine rosarote Brille heruntergefallen ist. Aber während ich sie trug, war ich verrückt nach dem Kerl.“
„Hört sich eher an, als wäre deine Brille mit Geilheit gefärbt gewesen“, sagt Sandro.
Barbara zuckt gleichgültig mit den Achseln.
Ich werfe einen Blick auf Delphine, die verdächtig ruhig gewesen ist.
Sie betrachtet mich mit einem schelmischen Blick in den Augen und ich weiß genau, was sie versucht zu kommunizieren.
Du kannst diese beiden hinters Licht führen
, ma cocotte, aber nicht mich.
Glücklicherweise spricht sie das nicht laut aus.
Wir verabschieden uns um 14.30 Uhr voneinander unter dem Versprechen, dass wir das in ein paar Wochen wiederholen und ich dann Lily mitbringe, damit sie sie kennenlernen können.
Um Viertel vor drei befinde ich mich für mein Rendezvous mit Xavier, der allerdings noch nicht da ist, vor dem Haupteingang des Tour Montparnasse. Fünfzehn Minuten später steigt er von seinem Fahrrad, schließt es mit einem Schloss ab und kommt in meine Richtung. Er ist überpünktlich. Ich bin es, die zu früh hier war, da ich die kurze Distanz vom La Coupole bis hierher beinahe gerannt bin. Ich vermute, ich kann es kaum erwarten mit der Dating-Sache zu beginnen… und sie hinter mich zu bringen.
Ahhh!
Ich sollte es so nicht sehen. Worin besteht der Sinn jemanden zu daten, wenn man sich bereits am Anfang auf das Ende des Experiments freut?
Xavier scheint so ein toller Kerl zu sein.
Er liebt Kinder. Er arbeitet ehrenamtlich für humanitäre Organisationen. Wann immer er kann, nimmt er an Antikriegskundgebungen teil und hat sich neulich erst einen Indoor-Wurm-Komposter zugelegt. Das ist ein Container mit Würmern gefüllt, die organischen Abfall fressen und er ist perfekt für Wohnungen als eine Alternative zum Outdoor-Komposter. Xavier behauptet, dass die Würmer im Container bleiben. Er hat mir alles darüber in minutiöser Genauigkeit nach dem letzten Workshop von Professor Guyot am letzten Montag erzählt.
Ein Mann wie er verdient es, dass ich mein Bestes gebe.
Mich soll der Affe lausen, wenn ich es ihm nicht gebe. Raphaels spontaner Besuch vor zwei Tagen wird meine Meinung nicht ändern.
„Also was ist der Plan?“, frage ich, nachdem wir uns mit Küsschen auf die Wange begrüßt haben. „Ich habe zwei Stunden.“
Enttäuschung flackert in seinen Augen auf. „Warum so wenig?“
„Lily“, sage ich. „Die Kindertagesstätte schließt um sechs und ich brauche eine Stunde, um dorthin zu kommen, wenn ich die gewöhnlichen métro
-Verdächtigen, wie dubiose Pakete auf dem Bahnsteig, Stromausfälle und Personalstreiks miteinberechne.“
Er lächelt. „Die Gewerkschaften haben für heute keine Streiks angekündigt.“
„Haben sie auch für keine verlassenen Pakete garantiert?“, frage ich und lächle zurück.
„Leider nein.“
„Dann habe ich zwei Stunden.“
„Okay“, sagt er. „Lass mich überlegen. Ich wollte dich zu einer der Wohltätigkeitsorganisationen mitnehmen wo ich ehrenamtlich arbeite, dann zur Recycling-Kooperative und dann in ein Café.“
„Such dir eines aus.“
„Dann lass uns zur Kooperative gehen.“ Er nickt mir entschlossen zu. „Vielleicht findest du etwas Nettes in ihrem Shop zu kaufen.“
Ich wünschte, er hätte sich für das Café entschieden.
Ich sollte mich schämen.
Eine Recycling-Kooperative ist natürlich eine viel bessere Idee.
Fünfzehn Minuten später, öffnet mir Xavier die Tür eines volkstümlich aussehenden Geschäftes und wir gehen hinein. Eine Vorstellungsrunde und Händeschütteln folgt, wonach Xavier mich durch die Räumlichkeiten führt.
„Diese werden im Senegal aus recycelten Plastiktüten hergestellt.“ Er zeigt auf eine Auswahl an gotteserbärmlichen Taschenbüchern, die ein Vermögen kosten.
„Schön“, sage ich.
Er greift nach einem grell gelb-grün gemusterten Geldbeutel, der an Erbrochenes erinnert. „Willst du dir einen kaufen? Die sind Fair Trade zertifiziert, wie alles andere hier auch.“
„Ähm…“ Ich schaue ihn entschuldigend an. „Ich brauche keinen Geldbeutel.“
Er legt ihn zurück in das Regal.
Ich frage mich, warum ich mich dazu verpflichtet fühle, mich zu entschuldigen. Warum habe ich nicht einfach gesagt, dass der Geldbeutel unfassbar hässlich ist und kein Viertel von dem Geld wert ist, den die Kooperative dafür verlangt? Aus reiner Höflichkeit, ohne Zweifel. Ich kenne Xavier noch nicht gut genug, um so ehrlich zu sein. Das wird kommen.
Während wir unsere Tour fortführen, zeigt er mir weitere Objekte, die genauso scheußlich, wie nutzlos sind. Ich sage jedes Mal nur „schön“ und brenne darauf zu fragen, ob es das Geschäft schafft, etwas zu verkaufen. Aber ich beiße mir auf die Zunge. Die Kooperative muss eine dieser Einrichtungen sein, die existieren solange sie finanziert werden und sich auflösen sobald die Subventionen austrocknen. Ihre Produkte zu kaufen ist vielmehr ein Akt der Solidarität mit den Arbeitern in Entwicklungsländern, als regelmäßiges Einkaufen.
Ich sollte mich schämen.
„Dieser Schlüsselanhänger ist entzückend.“ Ich zeige auf das billigste Objekt, das genauso „entzückend“ ist, wie ein Rudel Hyänen, das auf Kadaver fastet.
Er folgt meinem Blick. „Der wurde in Somalia hergestellt.“
„Ich werde ihn kaufen.“
Xaviers Gesichtsausdruck erhellt sich.
Puh.
Ich kann nicht schnell genug aus diesem Geschäft herauskommen.
„Wir haben immer noch 45 Minuten“, sagt Xavier, nachdem wir seinen Leuten zum Abschied gewinkt haben. „Wie wäre es mit einem Kaffee?“
Ich strahle. „Gute Idee.“
Wenige Minuten später sitzen wir im hinteren Teil eines schwach beleuchteten Bistros. „Ich hoffe, dir hat der Ausflug gefallen“, sagt Xavier. „Nächstes Mal nehme ich dich zum Obdachlosenheim mit, in dem ich auch ehrenamtlich arbeite.“
„Das wäre schön.“
Lügner.
„Und ein anderes Mal“, sagt er, „könnten wir Zeit mit deinem Baby verbringen, damit du keine Eile hast nach Hause zu kommen.“
„Natürlich“, sage ich.
Und meine es auch so.
Wir bestellen zwei Espressos.
„Habe ich dir erzählt, dass ich tantrisches Yoga mache?“, fragt er.
„Hört sich beeindruckend an.“
„Du weißt nicht, was das bedeutet, oder?“
„Nein“, gebe ich zu.
„Das bedeutet, dass ich eine so gute Kontrolle über meinen Körper habe, dass ich ewig Sex haben kann.“
„Oh.“ Ich starre meine Hände auf dem Tisch an. „Das ist… schön.“
Das Wort „schön“ habe ich heute mindestens einhundert Mal verwendet.
Xavier bedeckt eine meiner Hände mit seiner und streicht mit seinem Daumen über meine Handfläche, langsam und behutsam. Ich lasse ihn und versuche herauszufinden, ob mir das gefällt. Es gibt keinen Grund, warum ich das nicht tun sollte. Xavier ist attraktiv und gut
und ich bin seit über einem Jahr von keinem Mann mehr angefasst worden.
Seine Streicheleinheiten folgen einem Muster… Es ist eine Spirale… im Uhrzeigersinn wachsend, dann eine gerade Linie und dann gegen den Uhrzeigersinn schrumpfend.
Muss etwas tantrisches sein.
Er lässt meine Hand los, springt um den Tisch herum und setzt sich auf die Bank neben mir.
Ich frage mich, was er als nächstes tun wird.
Er neigt seinen Kopf und beginnt an meinem Ohrläppchen zu lecken.
Ich verkrampfe.
Er fährt mit verdoppeltem Eifer fort.
Es erinnert mich an meine ersten Tage mit Raphael, als wir uns noch kennenlernten. Mein Verkrampfen hätte ihn auf der Stelle aufhören lassen, was er gerade tat. Nicht wie andere Männer, die ich geküsst habe, mit denen ich rumgemacht habe und mit denen ich Sex hatte, achtet Raphael auf nonverbales Feedback.
Vielleicht ist er ein Freak.
Ich lehne mich von ihm weg und gebe Xavier verbales Feedback. „Ich mag es nicht am Ohr geleckt zu werden.“
Er sieht getroffen aus, als hätte ich etwas Gemeines gesagt.
Wie schade.
Ich wünschte, er würde einfach sagen: „Notiert, werde ich nicht wieder tun“, und weitermachen, so wie es Raphael getan hätte.
Ich wünschte, Raphael hätte mich nicht für alle anderen Männer ruiniert.