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s ist neun Uhr an einem Samstagmorgen und Lily schläft noch, gepriesen sei ihr kleines süßes Herz. Ich bin hellwach. Es war eine lange Nacht. Die wenigen kurzen Schlafphasen, die ich hatte, waren mit komischen Träumen gefüllt. In einem von ihnen küsste ich Raphael, der sich in Xavier verwandelte, der sich wiederum in einen verpixelten Space Invader verwandelte.
Uah.
Mein erstes Date mit Xavier war ein totaler Flop.
Bevor wir uns verabschiedeten, bestand er darauf Lily kennenzulernen und dass wir mit ihr am Sonntag in den Jardin du Luxembourg oder Tuileries gehen.
Ich sagte, dass es diesen Sonntag nicht geht.
Nicht, dass ich etwas vorgehabt hätte. Es fühlte sich nur zu früh an. Oder vielleicht lag es auch an dem Bild, wie Xavier, Lily und ich durch den Park spazierten, wie eine Familie. Das fühlte sich einfach… falsch an.
Wir sollten das irgendwann ausprobieren – da hat er völlig Recht – aber ich vermute, dass ich dazu noch nicht bereit bin.
Jedenfalls eilt das nicht. Ich muss mich um andere, wichtigere Dinge kümmern.
Das positive Ergebnis meiner schlaflosen Nacht war, dass ich mich entschieden habe. Nächstes Mal, wenn ich Mama und Papa anrufe, werde ich ihnen von Lilly erzählen und pfeife auf die Konsequenzen.
Eva hat Recht – ich kann es nicht länger aufschieben. Die Ausrede, dass ich zu beschäftigt bin, um nach Estheim zu fahren ist, in Anbetracht der Tatsache, dass ich seit mehr als einem Monat wieder im kontinentalen Frankreich bin, alt geworden. Das letzte Mal, als wir telefoniert haben, hat Mama angedeutet, dass sie und Papa einen kleinen Paris-Urlaub im Oktober planten. Mein Geständnis sollte ich besser vor
diesem Urlaub ablegen.
Es wird vor diesem Urlaub passieren.
Ich reibe mir die Augen und schleppe mich aus dem Bett.
Jemand klopft an der Tür.
Raphael.
Bitte, lass es ihn sein!
„Ein wenig zu früh für einen zweiten Besuch aus Höflichkeit“, sage ich als ich die Tür öffne und in sein sexy, frisch rasiertes Gesicht blicke.
Ich hoffe, mein Enthusiasmus ist nicht zu offensichtlich.
„Beziehst du dich auf die Tageszeit oder auf das Jahr betrachtet?“
„Beides.“
Er nickt und kommt herein. „In all der Aufregung deine Spülmaschine zu reparieren, habe ich das letzte Mal vergessen nach deiner Nummer zu fragen.“
„Warum solltest du meine Nummer brauchen?“
„Damit ich dich und Lily auf einen kleinen Wochenendtrip mit mir einladen kann.“
Ich blinzle.
„Dieses Wochenende“, sagt er.
Ich blinzle erneut.
„Es war nicht geplant“, fügt er hinzu.
Ich verschränke die Arme vor der Brust.
„Nein.“
„Bitte?“
„Ich habe anderweitige Pläne.“
Er benutzt seine ultimative Waffe – seinen traurigen Dackelblick. „Können deine anderen Pläne verschoben werden?“
„Warum ist es so wichtig?“
„Weil…“ Er zögert. „Weil ich meine engsten Freunde und Sebastian und seine Frau dazu gebracht habe sich Zeit zu nehmen.“
Ich schüttle ungläubig den Kopf. „Warum? Und… wohin?“
„Damit sie dich treffen können… auf einer griechischen Insel südlich von Kreta.“
„Die auf den Fotos in deiner Wohnung?“
„Ninossos“, sagt er mit einem Nicken. „Sie ist in Wirklichkeit noch schöner. Ich hoffe, dass sie dir gefallen wird.“
Ich reibe mir die Stirn, als würde ich versuchen meine Gedanken davon abzuhalten, sich in meinem Kopf zu verteilen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Sag ja.“ Er lächelt. „Ich verspreche dir, es gibt keine versteckten Absichten, keine Erwartungen, keine Bedingungen.“ Er zwinkert mir zu. „Ich bin ein gewissenhafter Gegner von Bedingungen, wie du weißt.“
Das tue ich.
Gott, das ist verführerisch.
„Alles was ich will, ist, dass du ein wenig Spaß hast“, sagt er.
„Warum kümmert dich das?“
„Ganz ehrlich? Keine Ahnung.“
„Okay“, sage ich und kann meinen eigenen Worten kaum glauben. „Warum nicht? Lily und ich kommen mit.“
Er pflanzt einen Kuss auf meine Stirn, dreht sich dann um und geht in Richtung Tür. „Ich hole euch am Samstag um 10.30 Uhr ab.“
Und dann ist er verschwunden.
Er hatte Recht – Ninossos ist in Wirklichkeit noch viel schöner, als auf den wunderschönen Drucken an den Wänden seines Penthouses.
Ich nehme einen tiefen Atemzug von der Luft, die nach Meerwasser und ein paar anderen gutriechenden Dingen duftet, die ich nicht identifizieren kann, und setze Lilly zurück in den Kinderwagen. Sie war vorhin sehr aufgeregt, also habe ich Raphael und seine Freunde beim Mittagessen auf der Veranda seiner Villa alleine gelassen und mache nun mit Lily einen beruhigenden Spaziergang. Ich musste ihm versprechen, dass wir in Sichtweite des Hauses bleiben und in fünfzehn Minuten zurück sind.
Man könnte meinen, dass es auf der Insel vor Bestien nur so wimmelt.
Die wildeste Kreatur, die wir bis jetzt getroffen haben, war eine Seemöwe.
Der Flug nach Ninossos war schnell und ruhig, trotz Lilys ununterbrochenem Schreien.
„Das sind Mia und Lily“, war die Art und Weise, wie Raphael uns den anderen vorstellte, bevor wir das Flugzeug bestiegen. Keine andere Kennzeichnung oder Erklärung – nur „Mia und Lily“. Die Antworten auf diese prägnante Vorstellung reichten von Sebastians Nicken bis hin zu Dianes herzlicher Umarmung. Als sie mich losließ, fragte sie mich, ob sie Lily halten dürfe und als sie sie behutsam aus meinen Armen nahm, sah ich, dass sie schwanger war.
Zwischen diesen beiden Extremen gab es noch den festen Handschlag von Raphaels Kumpel Cedric und die berührungsfreie französische Art der Begrüßung seiner besten Freundin, Genevieve.
Ja, diese
Genevieve.
Endlich wurde mir die Ehre zuteil, seine älteste Freundin kennenzulernen, die sich als eine edle Kreatur in ihren späten Zwanzigern entpuppte. Ganz offensichtlich seinesgleichen in Sachen Status und Geld. Und vermutlich auch die einzige Frau in seinem Leben, der er die Treue gehalten hat, wenn auch nicht körperlich, sondern geistig.
Sie kam mir irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte ich sie zuvor schon in Raphaels Bar gesehen, ohne zu wissen, dass sie es war.
Abgesehen von ihren verschiedenen Begrüßungen, hatten alle vier Gäste eine Reaktion gemeinsam. Sie starrten Lily länge und mit mehr Interesse an, als eine normale Person ein Baby anschauen würde. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war der von Personen, die versuchten ein Rätsel zu lösen. Und ich wusste genau, was das Rätsel war.
Ist das Raphaels Baby?
Während ich den Wagen schiebe, frage ich mich zu welchem Ergebnis jeder Einzelne von ihnen gekommen ist.
Als ich wieder auf der Veranda ankomme, ist Lily bereits eingeschlafen.
Ich stelle den Kinderwagen in den Schatten und kehre zu meinem Platz am Esstisch zurück. Der Catering Service, den Raphael engagiert hat, damit wir „nur entspannen“ konnten, bringt Kaffee und das Dessert hinaus.
Er entschuldigt sich bei Genevieve, mit der er sich unterhalten hat und kommt herüber, um sich neben mich zu setzen.
Sie wirft mir einen so hasserfüllten Blick zu, dass es sich anfühlt, wie ein fester Schlag ins Gesicht. Ich schnappe ungläubig nach Luft und sehe sie mir ein zweites Mal an. Genevieve hebt ihre Teetasse an ihre Lippen, ohne auch nur einen Hauch von Emotion auf ihrem ruhigen Gesicht.
Ich muss es mir eingebildet haben.
„Ich habe gestern Noah gesehen“, sagt Genevieve.
„Wo?“, fragen Sebastian und Raphael gleichzeitig.
„Bei der Tim und Struppi Ausstellung im Grand Palais. Eine Freundin von mir schleppte mich dort mit hin.“ Sie nimmt sich ein Canelé
und beißt die Hälfte des Miniaturgebäckes ab. „Mmm.“
„Noah war immer ein großer Tim und Struppi Fan“, sagt Raphael lächelnd.
Sebastians Blick ist hart, als er sich an Genevieve wendet. „Hast du mit ihm gesprochen?“
„Erst war ich nicht sicher, ob er es war“, sagt sie. „Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er ein Kind. Aber ich dachte, ich versuche mein Glück und frage ihn, ob er Noah d’Arcy ist.“
Raphaels Gesichtsausdruck ist jetzt so ernst wie Sebastians. „Und?“
„Er sagte, ‚Noah Mason, warum?‘“
„Er benutzt mittlerweile Mamans Mädchenname“, sagt Raphael.
Genevieve nickt. „Das wusste ich, also habe ich mich vorgestellt.“
Sie steckt sich die zweite Hälfte ihre Canelés
in den Mund und kaut langsam.
„Komm schon, Vivie“, drängt Raphael. „Lass uns nicht so hängen.“
„Sorry.“ Sie lächelt. „Ich sagte ihm, dass seine Brüder hofften, dass er ihre Anrufe beantworten würde. Er sagte, dass er hoffte, dass ihr die Botschaft mittlerweile verstanden hättet. Und dann verabschiedete er sich.“
Raphael und Sebastian sehen sich gegenseitig mit Blicken voller Frustration und Enttäuschung an.
„Gut“, sagt Sebastian und wischt sich seinen Mund ab. „Ich werde es aufgeben Kontakt aufzunehmen. Soll er weiterhin wie ein Penner leben, sich ein beschissenes Rattenloch in einem beschissenen Viertel mieten, während sein Treuhandfond Staub fängt und sein Schloss im Burgund zu einer Ruine verfällt. Nicht mein Problem.“
Raphael lässt ein Seufzen von sich hören.
„Meine Theorie ist, dass er aus ideologischen Gründen auf seinen Teil des d’Arcy Vermögens verzichtet“, sagt Genevieve. „Vielleicht ist er zu einem Linksradikalen wie Diane geworden – mit dem Unterschied, dass er sich an seine Prinzipien hält.“
Autsch.
Das tut mir leid für Diane, die ich mag. Ich habe auch versucht Genevieve zu mögen, trotz des schlechten Gewissens wegen ihrer ungerechtfertigten Eifersucht, aber das ist jetzt vorbei.
Diane starrt sie mit unbewegter Miene an.
„Meine Ehefrau war nie eine Radikale“, sagt Sebastian und sieht Genevieve dabei mit schwelendem Blick an. „Und vertrau mir, sie hält sich an ihre Prinzipien.“
„Ich habe eine andere Theorie“, sagt Cedric. „Noahs Verhalten hat keinen politischen Hintergrund. Er ist religiös. Er ist einer Sekte beigetreten, die glaubt, dass die Demütigen die Erde erben sollen.“
„Ich glaube, dass die Mäuse die Welt erben sollten“, sagt Raphael. „Oder lieber die Ratten.“
Alle lächeln und sehen erleichtern aus. Die Unterhaltung wurde viel zu ernst für einen Wochenend-Lunch.
Wir unterhalten uns für eine weitere halbe Stunde über dies und das, bis die Canelés
und Macarons verschwunden und die Kaffeetassen leer sind.
Genau aufs Stichwort, kommt das Servicepersonal zurück, um abzuräumen.
Eine von ihnen ist eine junge Frau, deren Rock weitaus kürzer und enger ist, als der ihrer Kolleginnen. Ihre Bluse ist weit genug aufgeknöpft, dass man den Verschluss an der Vorderseite ihres BHs erkennen kann. Sie platziert sich gegenüber von Raphael und stellt ihr Tablett auf den Tisch. Während sie es mit leeren Tassen und Tellern belädt, bückt sie sich so weit vor, dass ihre Brüste praktisch in seinem Gesicht hängen.
Ich werfe einen Blick auf ihn, in der vollen Erwartung, dass er seine Aussicht genießt.
Aber er schaut nicht einmal in die Richtung. Er ist zu seiner Linken Cedric zugewannt und unterhält sich über Investitionen und den Finanzmarkt.
Das ist komisch.
Der Raphael, den ich gekannt habe, würde nicht dringend mit jeder Frau flirten, die ihn anmacht, aber er würde sie definitiv anerkennen.
Dafür gibt es eine mögliche Erklärung. Etwas stimmt mit ihm nicht. So sehr, dass es seine Persönlichkeit verändert hat.
Vielleicht stirbt er.
Raphael rutscht näher an mich heran und ich fühle seine Hand auf meinem Knie.
Okay, er stirbt
nicht.
Ohne die Unterhaltung mit Cedric zu unterbrechen, schiebt er seine Hand unter den Saum meines Rocks und bahnt sich mit gespreizten Fingern seinen Weg entlang der Innenseite meines Oberschenkels. Während er voranschreitet, mit der Tischdecke als Blickschutz, stehen mir alle Körperhaare zu Berge und mein Puls beschleunigt sich. Als er den Rand meines Höschens erreicht und die Hand auf meinen Hügel legt, bin ich durchnässt.
Das ist mein Verderben und ich weiß, dass er es weiß.
Als ich mich dazu bereit erklärt hatte „mitzukommen“, hatte ich vermutet wie dieser Tag enden würde. Wie Raphael wollen könnte, dass er endet. Damit, dass wir beide im Bett landen.
Die beschämende Wahrheit ist, ich will es auch.
Schlimmer noch, ich brauche es.
So sehr, dass ich mich frage, wie ich den Nachmittag überstehen soll.
Okay. Gut. Lass es passieren.
Wenigstens bin ich mir einer Sache sicher – es wird auf keinen Fall passieren, dass ich rückfällig werde und eine zukunftslose Affäre mit Raphael beginne. Das werde ich nicht zulassen – für Lily, wenn schon nicht für mich.
Aber so egoistisch es auch sein mag, ich kann… ich werde mir selbst eine Nacht mit dem Mann, denn ich immer noch liebe, nicht
verbieten.
Dem Mann, den ich niemals aufgehört habe zu lieben.
Eine ganze Nacht, um ihn zu küssen und geküsst zu werden. Spüren, wie er in mich eindringt, sich in mir bewegt. Allein bei dem Gedanken daran wird mir ganz anders. Mein Körper ist so hungrig nach ihm, dass es schwer ist, still zu sitzen und nicht seine Hand an mich zu drücken.
Geduld, Mia
. Heute Nacht.
Er wird heute Nacht mit mir schlafen. Ich werde ihn küssen, ihn überall berühren, ihn beißen und ihn nach freier Lust lecken. Nachdem ich gekommen bin, fahre ich mit meiner Hand durch sein dickes, gewelltes Haar, wie ich es immer getan habe. Und dann schlafe ich an seinen nackten Körper geschmiegt ein.
Der beste Teil?
Sonntagmorgen, werde ich in seinen Armen aufwachen.
Auf dieser wunderschönen Insel.
Ohne ein Gefühl für Zeit.