Kapitel 28
R aphael ist ein Morgenmensch, also wusste ich irgendwie schon, dass der Teil meiner Fantasie, in dem ich in seinen Armen aufwache, nicht passieren wird. Auf der Grundlage vorangegangener Erfahrungen, kam es lediglich während zwanzig Prozent der Zeit vor, dass wir so aufwachten.
Das Problem ist, ich bin eine hoffnungslose Nachteule. Vor allem in letzter Zeit, wenn ich ein oder zwei Mal in der Nacht für Lily aufstehen muss.
Letzte Nacht war keine Ausnahme.
Ihr Wimmern weckte mich um ungefähr drei Uhr auf. Sie wollte ihren Schnuller und meine Gesellschaft. Ich weiß, dass der richtige Weg daraus bestünde, dass sie sich selbst zurück in den Schlaf weint. Es ist der einzige Weg, der dazu führt, dass ihre Mami nicht mehr mitten in der Nacht für sie aufstehen muss. Ich habe mehrere schlaue Artikel und ein ganzes Buch zu diesem Thema gelesen. Alle von ihnen garantieren, dass Babys nach ein paar Wochen mit dieser Behandlung aufhören, in der Nacht aufzuwachen.
Ich habe definitiv vor das zu versuchen… eines Tages.
Die Wahrheit ist, dass ich diese Kuschelzeit so sehr liebe, wie ich es hasse, mitten in der Nacht wach zu sein.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es ist zehn.
Als ich dabei bin, in Erwägung zu ziehen aufzustehen, öffnet sich die Tür des angrenzenden Badezimmers und Raphael erscheint mit einem Handtuch um seine Hüften gebunden in der Tür. Sein dunkles Haar ist zurückgekämmt und dampft vom Duschen. Das alles lasse ich auf mich wirken, während ich meinen Rücken wölbe und meine Glieder strecke. Er hält neben dem Bett an. Mit einem anerkennenden Blick verschränke ich die Hände hinter meinem Kopf und begutachte ihn.
Lecker.
Ich betrachte sein schönes Gesicht, verharre mit meinem Blick auf seinen Lippen und seinem atemberaubenden Unterkiefer. Dann wandert mein Blick zu seinen breiten Schultern und dann weiter nach unten zu seinen harten Bauchmuskeln. Ein schmaler Streifen aus schwarzem Haar verläuft von seinem Bauchnabel hinunter in das Handtuch. Meine Atmung wird flach. Ich warte darauf, dass er sein Handtuch entfernt und sich neben mich legt, aber als ich ihm in die Augen sehe, grinst er.
Er öffnet seine rechte Hand, um mir etwas zu zeigen.
Es ist klein, flauschig und pink.
Und es ist ein Paar.
Lilys Socken.
„Ich habe nebenan vorbeigeschaut, um nach Lily zu sehen und habe die hier auf dem Boden gefunden“, sagt er. „Was für eine lächerliche Größe.“
„Du hättest ihre Neugeborenen Socken vor sechs Monaten sehen sollen.“
Er wölbt eine Augenbraue. „Du meintest vier, richtig? Da sie ja erst vor vier Monaten geboren wurde.“
Mist.
„Ja“, sage ich. „Natürlich. Ich meine vier.“
Er hakt nicht weiter nach.
Ich frage mich, ob er mir glaubt. Vermutlich nicht. Aber welche Vermutungen er auch immer wegen Lily anstellen könnte, er entscheidet sich dafür meine Entscheidung zu respektieren und es für sich zu behalten.
Außer es geht hier nicht um Respekt, sondern um sein bevorzugtes kinder- und familienfreies Dasein. Eine Präferenz, die er deutlich klar gemacht und des Öfteren wiederholt hat.
Raphael zieht eine kleine Socke über sein linkes Ohr und die andere über sein Rechtes. „Sehe ich gut aus?“
„Perfekt, Dummerchen“, sage ich.
„Du bist ein ‚Sockist‘.“
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben.
„Hast du nicht von den Sockisten gehört?“, fragt er. „Ich bin konvertiert, während du in Martinique warst. Meine Religion schreibt vor, dass ich für mindestens zehn Minuten am Tag pinke Socken auf meinen Ohren tragen muss.“
Ich verdrehe die Augen.
Er setzt sich neben mir, sein Ausdruck nüchterner. „Wir werden wieder exklusiv füreinander sein, wie beim ersten Mal, richtig?“
Ich schaue weg, mein Mund weigert sich ihm zu sagen, dass es kein zweites Mal geben wird.
„Nein“, sage ich schließlich
Sein Mund klappt auf, schließt sich dann aber begreifend. „Du triffst jemanden.“
Ich nicke.
„Ist es ernst?“
„Das weiß ich noch nicht“, sage ich ehrlich. „Wir sind so etwas wie Kollegen und ich hatte nur ein Date mit ihm.“
Er lächelt mich gezwungen an. „Dann okay. Ich hoffe, dass du dich für mich entscheidest, bevor du die Schwelle des fünften Dates mit ihm erreichst. In der Annahme, dass du immer noch dieser Daumenregel folgst.“
„Das tue ich.“
Er schüttelt ungläubig seinen Kopf. „Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass Mia Stoll sich auf ein nicht exklusives Arrangement einlässt, oder alleine schon darum bittet.“
„Es wird dieses Mal kein Arrangement zwischen uns geben“, sage ich. „Was hier passiert ist, war einmalig.“
Er blickt mich lange und ernst an. „Du kannst mir nicht widerstehen, Mia. Das wissen wir beide.“
„Dann bring mich nicht in eine Situation, in der ich widerstehen muss“, sage ich mit emotionsgeladener Stimme.
„Warum bist du so sehr darauf aus, mich von dir fernzuhalten, wenn du mich so sehr willst?“
„Weil du giftig bist.“
Er zuckt bei meiner Bemerkung zusammen.
„Das kam gemeiner rüber, als ich es meinte.“ Ich setze mich hin und lege die Hand sanft auf seine Wange. „Was ich sagen wollte ist, dass ich niemals in der Lage sein werde, mich in einen anderen Mann zu vergucken, wenn ich dich um mich herum habe.“
Sein Blick bohrt sich in meinen. „Wenn du sagst, dass du nicht in der Lage sein wirst, dich in einen anderen Mann zu vergucken, bedeutet das, dass du dich in mich verguckt hast?“
Ich betrachte einen Fleck auf dem Leintuch.
„Heißt das, dass du dich in mich verliebt hast, Mia?“, fragt er.
Ich nicke, die Augen immer noch auf das Leintuch gerichtet.
„Dann lass mich dich fragen: Warum bist du so sehr darauf aus, dich in einen anderen Mann zu vergucken, wenn du in mich verliebt bist?“
„Weil…“ Ich sehe ihn flehend an. „Siehst du nicht, wie wir hinter komplett anderen Dingen her sind? Alles, was du von einer Beziehung willst, ist Spaß. Du willst es nicht mal eine Beziehung nennen, um Gottes willen. Du nennst es ein Arrangement .“
Ich hebe mein Kinn, wage zu glauben, dass er mir sagt, dass ich falsch liege.
Er tut es nicht.
„Ich will mehr als das“, sage ich. „Viel mehr. Ich will etwas Festes und Langfristiges. Und das heißt, dass ich einen Mann finden muss, der das Gleiche will.“
Ein Teil von mir will die Hoffnung nicht aufgeben, dass er sagt: „Das ist auch mein Wunsch, Mia. Ich habe mich verändert. Ich will für dich und Lily da sein.“
Als er seinen Mund öffnet, sind meine Muskeln vor Besorgnis so angespannt, dass es mich überrascht, dass sie nicht reißen.
„Ich verstehe“, sagt er.
Ich hänge mich noch ein wenig länger an einen Schimmer Hoffnung, aber er fügt seinem „ich verstehe“ nichts hinzu.
Langsam atme ich aus und verstecke meine Enttäuschung so gut ich kann.
Und in diesem Moment gibt mein Handy in meiner Handtasche auf dem Boden einen Ton von sich.
Vom Gongschlag erlöst.
Ich klettere schnell hinunter und ziehe mein Telefon hervor.
„Ich erwarte eine wichtige E-Mail“, lüge ich und klicke auf die Benachrichtigung auf dem Bildschirm, ohne sie zu lesen.
Die Nachricht, die sich öffnet, lässt mich meine Enttäuschung vergessen. Sie lässt mich vergessen zu atmen. Ich lese sie einmal, dann noch einmal, dann ein drittes Mal in der Hoffnung, dass sie vor meinen Augen verschwindet. Aber das tut sie nicht. Wenn, dann erscheinen ihre Wörter größer und ihre Kleinbuchstaben schreien lauter als die Großbuchstaben von Gaspards Nachrichten von vor einem Jahr.
Hallo Mia.
Du dachtest, du könntest einfach deine Telefonnummer und deine E-Mailadresse ändern, um dem ein Ende zu bereiten, oder? Du hättest deinen Namen ändern sollen.
Ich werde nächste Woche in Paris sein. Ich weiß, dass dir deine Verteidigung bevorsteht, also wirst du nicht wieder wegrennen.
Triff mich nächsten Samstagmittag, im gleichen Bistro. Wenn du nicht auftauchst, wandert das Video ins Internet und ich sende es am selben Tag deinen Eltern zu.
Du wirst keine dritte Chance erhalten.
Also entscheide dich dieses Mal weise.
Gaspard