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ass ich es geschafft habe während des heutigen Seminars nicht einzuschlafen ist ein kleines Wunder, wenn man in Betracht zieht, dass ich letzte Nacht nicht geschlafen habe. Gar nicht.
Wir sind spät am Abend, nach einem holprigen Flug in Paris gelandet, während dem Lily nonstop geweint hat.
Raphael hat uns heimgefahren.
Wir haben kaum gesprochen.
Als er den Wagen geparkt hat und Lily und mir hinaus geholfen hat, war ich um Haaresbreite davon entfernt ihm zu sagen, dass Genevieves Worte eine schamlose Lüge waren. Aber ich tat es nicht. Und ihn eingeladen, nach oben zu kommen, habe ich auch nicht.
Er fuhr davon, ohne zu fragen, wann wir uns wiedersehen würden.
Wie ironisch.
Ich stelle sicher, dass es zwischen uns wirklich vorbei ist, was genau das ist, was Genevieve will. Vorausgesetzt, ich mache es für meine eigenen egoistischen – und weniger egoistischen – Gründe.
Der Gedanke dem Mann, den ich liebe, dabei zuzusehen, wie er sich mit anderen Frauen trifft, ist unerträglich. Trotz meiner Jugendsünden verdiene ich etwas Besseres als das. Mein Baby verdient etwas Besseres als das.
Raphael verdient auch etwas Besseres.
Keiner von uns beiden wollte ein Kind, aber einmal schwanger, änderte ich meine Meinung. Ich habe mich dazu entschieden Mutter zu werden und ich habe es unterlassen, Raphael nach seiner Meinung zu fragen. Und das macht es nicht fair ihn jetzt seiner Entscheidung zu berauben, keine Familie zu wollen. Und wenn er seine Meinung darüber jemals ändert, sollte er nicht die Option haben eine Frau zu wählen, die eine Vergangenheit hat, auf die man stolz sein kann und eine Zukunft, die nicht durch öffentliche Ungnade getrübt ist?
Ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob das gute Gründe dafür sind, mir selbst die Liebe meines Lebens zu verbieten und Lily ihren leiblichen Vater vorzuenthalten.
Aber am Ende spielen Gründe keine Rolle.
Genau wie es auch keine Rolle spielt, wie sehr ich es bereue, vor Jahren an diesem Gang Bang teilgenommen zu haben. Was eine Rolle spielt ist, dass jemand es gefilmt hat und mich wieder mit seinem Video erpresst. Während ich ihm niemals das geben werde, was er will, kann ich nichts dagegen tun, um ihn davon abzuhalten, dass er mich für meinen Mangel an Kooperation bestraft.
„Du scheinst in Gedanken vertieft zu sein“, sagt Xavier und berührt mich an der Hand. „Ich plappere weiter über meinen Tagungsbeitrag, während du mit den Gedanken woanders bist. Stimmt etwas nicht?“
Er hatte mich angefleht nach dem Seminar mit Professor Guyot und dem Kaffee danach, noch etwas länger zu bleiben, um zu reden. Ich war einverstanden. Er redete. Ich nickte, ohne ein einziges Wort von dem zu registrieren, was er sagte.
Und jetzt schäme ich mich für mein Verhalten.
Xavier ist ein guter Mensch. Neben Papa ist er der ethisch korrekteste und moralisch gefestigtste Mann, den ich jemals getroffen habe. Und weil mein dummes Herz sich weigert, diese Anerkennung in Zuneigung zu verwandeln, hoffe ich, dass wir eine wahre Freundschaft genießen können. Von der Sorte, die eines Tages zu etwas mehr werden könnte.
Und um den Grundstein für diese Freundschaft zu legen, werde ich ihm von der Erpressung erzählen.
Zudem macht es mich wahnsinnig, dass ich mich niemandem anvertrauen kann, dem ich vertraue. Ich würde Eva anrufen. Aber die ist bis nächsten Montag in Florida, wo sie eine große internationale Konferenz über bemannte Flüge organisiert. Diese Art von Konferenzen ist immer ziemlich anstrengend für sie. Sie arbeitet rund um die Uhr, fängt morgens um sechs an und fällt nach Mitternacht tot ins Bett. Es gäbe keine schlechtere Zeit meine Schwester zusätzlich mit meinen Problemen zu belasten.
Die Sache ist, dass ich irgendjemand damit belasten muss. Und wen gibt es besseres als Xavier, um das Leid zu teilen?
Ich atme schwer aus und lege die Fakten auf den Tisch.
„Hast du das Video gesehen?“, fragt er als ich fertig bin.
Ich nicke.
„Also ist es echt – nicht etwas, was er erfunden hat, damit er mit dir schlafen kann?“
„Es ist echt.“
„Kann ich es sehen?“
Ich brauche einen Moment, um seine unerwartete Anfrage zu verarbeiten. „Warum?“
„Damit ich… du weißt schon…“ Xavier neigt den Kopf. „Sehen kann wie schlimm es ist.“
„Wofür?“
„Um..ähm… um den potentiellen Schaden abzumessen.“
„Es beinhaltet Nahaufnahmen meines Gesichts und von anderen Körperteilen, wenn es das ist, was du wissen willst.“
Ist das Versessenheit
, was ich in seinen Augen erkenne? Nein, das kann nicht sein.
„Jedenfalls“, sage ich. „Ich habe keine Kopie.“
„Bist du sicher?“
Ich neige den Kopf zur Seite. „Lass uns annehmen, ich hätte eine Kopie. Lass uns annehmen, du hättest es gesehen und bestätigst, dass es so schlimm ist, wie ich sagte, dass es ist. Was dann?“
„Ich weiß nicht.“ Er lehnt sich zurück. „Ich würde dich nicht sitzen lassen, wenn es das ist, was dir Sorgen macht. Aber ich wäre… etwas weniger verständnisvoll, wenn es um deinen Wunsch geht, die Dinge nicht zu überstürzen.“
Was?
„Habe ich das richtig verstanden?“, sage ich. „Sagst du, dass du jetzt vom mir erwartest mit dir Sex zu haben, jetzt wo du weißt, was für eine Art von Frau ich bin?“
Er reißt seine Augen auf. „Nein! Natürlich nicht.“
Ich stürze meine Kaffee hinunter.
„Was wirst du wegen des Videos machen?“, fragt er.
„Ich bin noch nicht sicher.“
„Das ist wirklich eine schwierige Situation.“ Er sieht mich mitfühlend an. „Wenn du ihm gibst, was er will und er das Video vor dir löscht, dann kannst du nie sicher sein, ob er weitere Kopien hat.“
Da hast du Recht – kann ich nicht.
„Wenn du…“ Er zögert. „Wenn du seiner Forderung nachkommst, wie weit würdest du ihn gehen lassen?“
Ich schürze die Lippen und fange an in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel zu kramen.
„Würdest du ihn tief in den Mund nehmen?“ Er nimmt Fahrt auf. „Was, wenn er anal von dir verlangt? Wärst du offen für Plugs?“
Ich werfe einen Fünfer auf den Tisch und stehe auf.
„Mia, warte!“ Er greift nach meinem Handgelenk. „Es tut mir leid. Ich habe mich forttreiben lassen.“
Ich reiße meine Hand aus seinem Griff.
„Versetz dich in meine Lage“, sagt er. „Noch vor einer halben Stunde warst du dieser schöne „Jungfrau Maria“ Typ Frau. Ich dachte fast schon, dein Baby war ein Ergebnis unbefleckter Empfängnis! Und dann stellt sich heraus, dass du eine… eine…“
„Eine Schlampe“, sage ich. „Ist es das Wort, nach dem du suchst?“
„Ja.“
Ich wirble herum und gehe in Richtung Ausgang.
„Nein!“, schreit er. „Scheiße! Mia, warte!“
Er schreit weiter irgendetwas, als ich bereits bei der Tür bin und selbst, als ich sie hinter mir zu ziehe.
Gut gemacht, Mia
, sage ich zu mir selbst, als ich zur métro
Station eile.
Das war eine geniale Idee, deine Last mit deinem Freund und dem guten Menschen Xavier zu teilen.
Jetzt bist du Gaspards Deadline einen Tag näher.
Und um eine Scheiße reicher.