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ein Telefon klingelt als ich mir die Nase zwischen zwei unterdrückten Schluchzern putze und Lily auf dem Bett wimmert.
Auf dem Display steht „Raphael“.
In meinem Herz wächst Freude heran, bevor ich mich erinnere, dass ich besser nicht rangehen sollte. Ich habe dem, was ich in meinem Brief geschrieben habe, nichts hinzuzufügen. Den er erhalten haben muss. Weshalb er anruft.
Das Problem ist, dass Raphael Recht hat – ich kann ihm nicht widerstehen.
„Ich bin in der Lobby deines Hotels“, sagt er, als ich schließlich ans Telefon gehe.
„Was? Wie hast du mich gefunden?“
„Ich bin zu Delphine gegangen, nachdem ich heute Morgen deinen Brief erhalten habe, in der Hoffnung, dass du dich ihr anvertraut hast. Und das hattest du.“
Verdammt
. „Was genau hat sie dir erzählt?“
„Nur, wo ich dich finden könne. Sie sagte, der Rest sei nicht an ihr zu erzählen.“
Ich atme erleichtert aus.
„Kann ich hochkommen?“, fragt er.
„Wirst du zurück nach Paris gehen, wenn ich Nein sage?“
„Drei Mal darfst du raten.“
„Zimmer 210“, sage ich und gehe zur Tür.
Dreißig Sekunden später ist er im Zimmer.
„Wie konntest du glauben, dass ich Genevieves absurden Anschuldigungen glauben konnte?“, fragt er mit gerunzelter Stirn. „Ich bin nicht so oberflächlich, wie ich scheine.“
Ich schenke ihm ein kleines Lächeln. „Das weiß ich. Ich hoffte, du würdest ihr nicht glauben.“
Er zieht besorgt seine Augenbrauen zusammen. „Du hast geweint. Was ist los?“
„Nichts.“ Ich deute auf den Holzstuhl. „Bitte setz dich.“
Er kommt stattdessen näher und nimmt meine Hand.
„Irgendwas stimmt offensichtlich überhaupt nicht, Mia. Bitte sag mir was los ist.“
„Es geht mir gut.“ Ich schaue nach unten auf seine Hand, die meine umschließt. „Und es wird mir noch besser in Martinique gehen.“
Er tippt mit dem Finger an mein Kinn und zwingt mich so ihn anzusehen. „Was ist mit deiner Verteidigung? Dem Seminar? Dem Jobangebot, das du bekommen hast?“
„Ich… ich kann nicht bleiben.“
Er lässt meine Hand los und setzt sich hin. „Also, so sieht es aus. Ich werde mich nicht von diesem Stuhl wegbewegen bis du mir sagst, was los it.“
Mit trotzigem Ausdruck verschränkt er seine Arme vor der Brust und überkreuzt seine Beine.
Ich schaue ihm dabei bewegungslos zu.
Ein paar Augenblicke später dreht er sich, stellt die Beine nebeneinander, überkreuzt sie erneut und verzieht sein schönes Gesicht zu einer komischen Grimasse.
Meine Lippen zucken, trotz meiner Misere.
„Gibt es in diesem Raum einen bequemeren Stuhl?“, fragt er.
Ich schüttle den Kopf und habe Schwierigkeiten ernst zu bleiben.
„Dann verlagere ich meinen Sitzstreik auf das Bett“, sagt er.
„Memme.“
„Keine Memme – eine ergebnisorientierte Person.“ Er steht auf und wirft mir ein sexy Lächeln zu. „Im Bett halte ich länger durch.“
Ich ergreife seine Hand und halte ihn davon ab sich auf das Bett zu sitzen. „Lily ist etwas krank. Sie braucht Ruhe, um einzuschlafen.“
Er umfasst meine Wange mit einer Hand, sein Blick bohrt sich in meinen. „Wovor rennst du weg, Mia?“
„Vor einem Video“, sage ich von mir selbst überrascht.
Seine Augenbrauen schnellen nach oben.
„Jemand hat ein kompromittierendes Video von mir aus Uni-Zeiten…“, beginne ich.
Ach, was zur Hölle.
Ich werde es sagen, wie es ist. Unverpackt. Die verfluchte nackte Wahrheit.
„Jemand hat ein Video von mir, betrunken, in dem ich bei einem Gang Bang mitmache“, platzt es aus mir hervor, bevor ich die Nerven verliere. „Wenn ich ihn morgen nicht treffe und mache, was er von mir will, dann wird er es veröffentlichen.“
Raphael starrt mich einen langen Moment lang an. „Bist du deshalb vor einem Jahr abgehauen?“
Ich nicke.
„Warum hast du mir nichts gesagt?“ Eine tiefe Falte bildet sich zwischen seinen Brauen. „Warum hast du nicht um Hilfe gebeten?“
„Diese… Situation ist das Resultat meines Fehlers. Also ist es ein Problem, um das ich mich kümmern muss.“
„Da liegst du falsch. Es ist auch meines.“
„Das sollte es nicht sein“, sage ich. „Das ist nicht fair.“
„Das Leben ist nicht fair.“ Er zieht mich an seine Brust. „Du bist – wieder – dabei abzuhauen, weil irgendein Idiot dich erpresst. Baby, das ist
mein Problem.“
Ich blicke in seine Augen.
„Lass mich das in die Hand nehmen“, sagt er. „Wo und zu welcher Zeit hättest du ihn treffen sollen?“
„Was hast du vor?“
„Was immer nötig ist.“
„Er will kein Geld – ich habe es ihm schon angeboten.“ Ich wringe mir die Hände. „Er will… sexuelle Dienste, wann immer er in Frankreich ist.“
Raphaels Körper verkrampft sich.
„Ich hätte ihn nicht bezahlt“, sagt er. „Das wäre eine kurzfristige Lösung.“
„Dann was? Ihn verprügeln?“
Er grinst. „Für den Anfang.“
„Und danach?“
„Ihm klar und deutlich machen, dass ich, wenn er seine Drohung wahr macht, ein Rudel der besten Anwälte auf ihn loslasse, die ihn bei lebendigem Leibe fressen werden. Es ist illegal Nacktaufnahmen einer Person zu veröffentlichen, ohne deren Zustimmung.“
„Das weiß ich, aber was, wenn er es trotzdem postet?“ Ich seufze. „Er ist kein vernünftiger
Mensch.“
Raphael zuckt mit den Schultern. „Okay, gehen wir davon aus, er ist ein lebensmüder Spinner. Na und?“
„Was soll das heißen, na und
?“
„Dein kleines Sexvideo wird sich zu Millionen von anderen Sexvideos gesellen. Wenn interessiert das?“
Ich kaue auf meiner Lippe. „Dich nicht?“
Er schüttelt den Kopf.
„Wirst du es dir ansehen, wenn er es postet?“
„Sicher nicht.“ Er sieht mich mit ernstem Blick an. „Was für ein Arschloch denkst du bin ich?“
Ganz sicher nicht eines der Sorte, als derer sich Xavier entpuppt hat.
„Es könnte meine akademische Karriere ruinieren“, sage ich.
Er zuckt mit einer Augenbraue. „Wirklich? Du machst dir um deine akademische Karriere Sorgen? Ist das der Grund, warum du sie hinschmeißt?“
Ich schaue nach unten und werde rot.
„Er wird das Video meinen Eltern schicken.“
„Er kann sie nicht dazu zwingen, es sich anzusehen.“
„Er kann sie reinlegen, damit sie es sich ansehen.“
Raphael umschließt mein Gesicht mit seinen Händen. „Du musst es ihnen sagen, bevor sie es erhalten.“
„Das habe ich eben getan.“
„Und?“
„Es war ihnen zu viel – der Gang Bang, das Video, Lily…“
„Sie wussten nichts von ihr?“
Ich schüttle den Kopf. „Ich bin sicher, dass sie mich nicht mehr sehen wollen.“
„Natürlich werden sie das. Sie sind religiöse Menschen – sie werde es in sich finden, dir vergeben zu können.“
Ich schüttle den Kopf und lasse einen Schluchzer hören.
Er entfernt sich ein Stück und schaut mir in die Augen. „Mia?“
„Ich hasse mich selbst dafür, dass ich sie verletzt und enttäuscht habe“, sage ich. „Und es bricht mir das Herz, dass sie aufhören werden mich zu lieben.“
„Das werden sie nicht“, sagt er.
„Du kennst sie nicht! Du hast keine Ahnung wie hoch ihre moralischen Standards sind. Dinge, wie Werte und Aufrichtigkeit bedeuten ihnen alles.“
Er zieht die Augenbrauen zusammen. „Ach komm schon.“
Ich reiße mich von ihm los, gehe zur Tür und öffne sie weit. „Bitte geh. Du machst das alles noch viel härter, als es eh schon ist.“
Ganz zu schweigen davon, dass ich kurz davor bin die Fassung zu verlieren und ich will sie nicht vor ihm verlieren.
„Mia, bitte.“
„Geh einfach.“
Er geht hinaus.
Ich schnappe mir ein Kissen vom Bett, presse es auf mein Gesicht und weine in es hinein.