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ach nicht einmal fünf Minuten meines Heulkrampfes, klopft Raphael erneut an der Tür.
„Hast du etwas vergessen“ frage ich die Tür öffnend.
Er kommt herein. „Du hast Recht, ich kenne deine Eltern nicht. Vielleicht sind sie die Art Mensch, die aufhören werden dich zu lieben.“
Ich sehe ihn an, etwas benebelt von den ganzen Tränen.
„Aber ich nicht, Mia.“ Er kommt näher und wischt meine Wangen mit seinem Daumen ab. „Ich werde nicht aufhören dich zu lieben.“
Das Ausmaß seiner Worte betäubt mich.
Mein Kiefer klappt nach unten und ich starre ihn an, als hätte er mir gerade eröffnet ein Roboter zu sein, der aus der Zukunft kommt, um die Menschheit zu retten.
„Du siehst leicht überrascht aus“, sagt er mit einem sanften Kichern.
„Letztes Wochenende auf Ninossos“, sage ich, als ich meine Worte wiederfinde, „hast du über unser neues Arrangement geredet. Und jetzt… liebst du mich?“
Er nickt.
„Du hast noch nie jemanden zuvor geliebt“, sage ich. „Woher weißt du, wie es sich anfühlt?“
„Ich liebe meine Brüder“, widerspricht er. „Ich liebe meine Mutter. Ich habe sogar meinen nutzlosen Vater geliebt. Wie ist das als Maßstab?“
„Das ist anders. Sie gehören zu deiner Familie.“
Er lächelt. „Eigentlich kein großer Unterschied. Genauso wie ihnen, möchte ich dir alles
geben. Ich möchte dir mich
geben.“
Ich schnaube in Reaktion auf seinen Mangel an falscher Bescheidenheit.
„Ihh, das hat sich schwulstig angehört“, sagt er. „Lass es mich nochmal versuchen. Ich möchte ‚Mia allein gegen den Rest der Welt‘ ein Ende machen und es durch ‚Mia und Raphael gegen den Rest der Welt‘ ersetzen.
Es ist beängstigend, wie sehr ich es mag, wie sich das anhört.
„Ich habe keinen Appetit mehr“, sagt er. „Ernsthaft. Das ist mir noch nie
zuvor passiert. Ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren, ich muss die ganze Zeit an dich denken. Es ist wie Paragliding. Da ist eine verrückte Leichtigkeit und Freude in jedem Knochen meines Körpers.“
Mein Kopf fängt an sich zu drehen, während ich seine Worte aufsauge und ich werde in Sekundenschnelle schläfrig.
„Was können sie mir zu diesen Symptomen sagen, Doktor Stoll?“
„Ich bin noch kein Doktor“, sage ich unpassend spielerisch. „Selbst wenn ich bleiben würde, um meinen Doktor der Philosophie zu machen, werde ich kein medizinischer Doktor sein. Also kann ich dich leider nicht diagnostizieren.“
„Dann beurteile meine Verfassung aus einer objektiv historischen Perspektive.“
„Hmm.“ Ich wölbe die Augenbrauen. „Ich würde sagen, dass Ihre Verfassung sich seit Ihrem Liebesabenteuer im Büro verschlechtert hat. Aber… wird es dir nicht fehlen, dich mit anderen Frauen zu treffen?“
„Nein“, sagt er, ohne auch nur einen Moment zu zögern.
„Bist du sicher?“
„Genauso sicher, wie ich sicher bin, dass ich dich in meinem Leben brauche.“ Er sieht besonnener aus, als ich ihn jemals zuvor gesehen habe. „Weißt du, ich dachte immer, dass ich wie Papa bin, auch wenn Seb mir immer sagte, dass ich das nicht war. Und er hatte Recht. Ich bin es nicht.“
„Was willst du damit sagen?“
„Meine ständigen Frauengeschichten… Ich habe es herausbekommen. Ich tat es nicht, weil ich nicht anders konnte oder weil ich unsicher war. Ich tat es…“ Er zögert. „Du wirst lachen.“
„Geh das Risiko ein.“
„Ohne es mir selbst einzugestehen, war ich auf der Suche nach einem… Seelenverwandten.“
Dieses Wort ist so unpassend, wenn es aus Raphaels Mund kommt, dass ich nicht umhin komme zu lächeln.
„Irrsinnig, aber wahr.“ Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. „Als du nach Martinique geflohen bist… ähm, korrigiere – als du mit mir schlussgemacht hast und nach Martinique geflohen bist, hatte ich drei One-Night-Stands in zwei Wochen.“
Mein Lächeln lässt etwas nach. „Das ist viel.“
„Ich war erbärmlich. Es fühlte sich erbärmlich an. Also bin ich für einen Monat nach Nepal. Offiziell, um Mama zu besuchen, aber in Wahrheit hoffte ich auf eine Art wundersame Heilung.“
Ich hänge an jedem seiner Worte.
Er legt eine Hand auf seine Stirn. „Am Ende des Monats vermisste ich dich immer noch sehr, dass meine Brust wehtat.“
Das tat meine auch.
„Als ich wieder in Paris war“, sagt er. „Habe ich eine Frau kennengelernt. Sie war schön, nett und klug.“
Ich blicke ihn fragend an.
„Es hat eine Woche gehalten.“ Er starrt mich an.
Ich starre zurück.
Raphael umschließt mein Gesicht mit seinen Händen. „Du bist die einzige Frau, mit der je länger es hält, ich will, dass es noch länger hält. Bitte, sag mir, dass du bleibst.“
Ich öffne meinen Mund und schließe ihn wieder.
Gott, es ist verführerisch ja zu sagen.
„Ich werde dich nicht fragen, mich zu heiraten okay?“ Er fährt mit der Hand über mein Gesicht und durch mein kürzeres Haar. „Das werde ich nicht machen, bevor ich nicht einhundert Prozent sicher bin, dass ich ein Familienmensch hinter all den Selbstvorwürfen bin. Nur damit du das weißt, bevor du dich entscheidest.“
„Ich bleibe“, flüstere ich.
„Was?“
„Ich bleibe“, sage ich lauter.
Ich stecke bis zum Hals in Scheiße, aber dennoch grinse ich, als eine verrückte Leichtigkeit und Freude jeden Knochen in meinem Körper füllt.