Als das Telefon klingelte, zuckte Connie zusammen und sah zu Jo Anne hinüber. „Diesmal bist du dran“, sagte diese und schnitt ein Gesicht.
„Du kannst mir glauben: Es wäre mir lieber, wenn sich meine Mitarbeiterinnen nicht mit diesem Idioten abgeben müssten.“ Connie atmete tief ein und nahm das Gespräch entgegen.
„Hallo, meine Liebe, hier ist Yolanda. Wie geht es Skip?“
Mrs Rios’ vertraute Stimme war Balsam für Connies angespannte Nerven. Mit nach oben gestrecktem Daumen gab sie ihrer Verkäuferin Entwarnung. Jo Anne fuhr fort, das Schaufenster neu zu dekorieren.
Vormittags und am Vortag hatte es eine ganze Reihe unangenehmer Anrufe gegeben: Erst wurde immer aufgelegt, dann war schweres Atmen zu hören gewesen. Sollte das so weitergehen, würde Connie die Polizei informieren.
„Gut“, beantwortete sie jetzt Yolandas Frage. „Sein neues Zimmer scheint ihm zu gefallen, und in Keris Kinderhort hat er bereits ein paar Freunde gefunden. Und wie geht es bei euch voran?“
Eine neue Kundin sah sich das Regal mit den Sonderangeboten an und legte einige Artikel in ihren Einkaufskorb. Connie schätzte Schnäppchenjäger, weil sie ihr dabei halfen, die weniger beliebten Produkte loszuwerden.
„Hier stinkt alles noch nach Qualm“, erzählte Yolanda. „Und wir können nicht mit dem Renovieren anfangen, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind.“ Sie berichtete, dass noch nicht entschieden war, wie mit den Hinweisen auf Drogenkonsum bei Ben umzugehen war.
„Hast du noch mal was von Paula Layton gehört?“
„Die kam gestern kurz hier vorbei“, erwiderte Yolanda missbilligend. „Ihr Anwalt meint, sie könne die Strafe in Form gemeinnütziger Arbeit ableisten, wenn sie sich schuldig bekennt. Na ja, das würde der Gesellschaft sicher mehr nutzen, als wenn sie im Gefängnis sitzt.“
„Ich hoffe, sie hat ihre Lektion gelernt.“ Als sich die Kundin der Kasse näherte, verabschiedete Connie sich von Yolanda. Sie kassierte und nahm gleichzeitig die E-Mail-Adresse der Frau in ihren Verteiler auf, um sie über Sonderangebote zu informieren.
„Adonis-Alarm!“, rief Jo Anne, nachdem die Kundin den Laden verlassen hatte.
Connie lachte. „Du bist doch verheiratet!“
„Aber nicht blind“, entgegnete ihre Mitarbeiterin. „Und du solltest wegen einer einzigen schlechten Erfahrung nicht der gesamten Männerwelt abschwören und es ignorieren, wenn männliche Kunden dich mit den Augen verschlingen. Außerdem ist der hier nicht nur hübsch, sondern geht auf Krücken. Also hab etwas Mitgefühl.“
„Ach, der. Das ist doch bloß mein Nachbar und außerdem der beste Freund von meinem Ex.“
Trotzdem blickte Connie durchs Schaufenster nach draußen und stellte fest, dass Hale sich sogar auf Krücken äußerst gut machte. Sie hielt ihm die Tür auf.
„Das ist ja ein toller Service!“
„Hallo, Adon… ähm, Hale. Das ist meine Mitarbeiterin Jo Anne“, sagte Connie und errötete verlegen.
Hale pfiff leise. „Ich werte das mal als Kompliment.“ Vorsichtig, als könne er allein mit Blicken etwas umwerfen, kam er weiter in den Laden herein. „Hast du irgendetwas zum Entspannen, das beim Einschlafen hilft? Tee oder Duftkerzen?“
„Tee?“, wiederholte Connie ungläubig. „Du trinkst doch nur Bier! Was willst du wirklich?“
„Das ist ja niedlich“, wechselte Hale schnell das Thema und hob ein winziges Stoffzebra hoch.
Connie merkte, dass er ihr auswich, doch es war ein rührender Anblick, wie er das kleine Spielzeug in seinen großen Händen hielt.
„Also, ich … ich wollte, zugegeben, auf etwas ungeschickte Weise, das Gespräch auf etwas Bestimmtes bringen.“ Er blickte zu Jo Anne hinüber, die sich wieder dem Schaufenster widmete. „Ich war heute bei Dr. Wrigley“, fuhr er leise fort. „Offenbar ist bei mir alles in Ordnung, normale Stressreaktionen und so.“
„Dann geht es dir also gut?“
„Absolut. Aber was ist mit Skip? Er hatte doch einen Albtraum, als ich neulich auf ihn aufgepasst habe.“
„Das erzählst du mir erst jetzt? Vielleicht macht er deshalb immer so einen Aufstand, wenn er ins Bett soll!“, überlegte Connie.
Hale zog eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihr lächelnd. „Dr. Wrigley hat mir diesen Kinderpsychologen empfohlen.“
Connie las den Namen: Mike Federov. „Den hat Russ McKenzie mir auch schon ans Herz gelegt.“
„Ach so.“ Hales Lächeln verschwand.
„Hast du gedacht, ich hätte etwas dagegen?“
„Ja“, gab er zu. „Normalerweise würdest du mir ja am liebsten den Kopf abreißen, wenn ich einen Vorschlag mache.“
„Das stimmt wohl“, musste Connie eingestehen. „Tut mir leid. Ich freue mich sehr über deine Freundschaft zu meinem Sohn, aber ich mache mir auch Gedanken. Er bettelt nämlich ständig darum, dass ich dich einlade. Und nun habe ich Angst, dass er sich zu sehr an dich bindet und dich als Vaterfigur wahrnimmt. Dabei sollte er sich an mich binden.“ Es fiel ihr nicht leicht, das zuzugeben.
Hale lehnte sich an die Ladentheke. „Was am Dienstag passiert ist, war wirklich komisch. Ich habe wenig Erfahrung mit Kindern, aber zu Skip habe ich einen echt guten Zugang gefunden. Er ist wirklich ein toller kleiner Kerl, und ich fände es schön, wenn ich eine Art großer Bruder für ihn sein könnte.“
Das war so gar nicht die ironische Antwort, auf die Connie sich innerlich vorbereitet hatte. Und der Ausdruck „großer Bruder“ brach ihren Widerstand vollends. „Vielleicht lassen die Albträume nach, wenn du ihm eine Gutenacht-Geschichte vorliest.“
„Das mache ich sehr gern“, erwiderte Hale.
Als das Telefon klingelte und Connie zusammenzuckte, stellte er fest: „Du bist aber schreckhaft!“
„Bei uns macht gerade ständig jemand Telefonstreiche.“ Sie nahm den Anruf entgegen und hörte wieder nichts bis auf Atmen. Dann ertönte das bekannte Lied der Carpenters: „We’ve only just begun“ – „Wir haben gerade erst angefangen.“ Fluchend legte Connie auf.
„War das wieder derselbe Anrufer?“, fragte Hale. „Du hättest an mich übergeben sollen. Diese Kerle hören meist schnell auf, wenn ein Polizeibeamter am anderen Ende der Leitung ist. Vielleicht sollte ich ein bisschen hierbleiben.“
Connie erzählte ihm von dem Lied.
„Hm, das könnte man ja fast als Drohung verstehen. Vielleicht ist es ein Kunde oder ein Lieferant – einfach ein Mann, der auf etwas ungesunde Art für dich schwärmt.“
Connie fiel niemand ein, der infrage käme. Dann sagte sie: „Das Lied war damals der Hit auf meiner Hochzeit.“
„Stimmt“, erinnerte sich Hale.
Ein sehr unschöner Verdacht regte sich in Connie. „Joel“, sagte sie.
„Was? Nein, das ist nun wirklich nicht seine Art!“
Sie schluckte. „Vielleicht kennst du ihn nicht so gut, wie du glaubst. Joel kann mit seiner Wut nicht immer gut umgehen. Er ist oft sehr wütend geworden. Einmal hat er mit der Faust ein Loch in die Wand geschlagen, ein anderes Mal eine Vase zertrümmert. Das hat mir ganz schön Angst gemacht.“
„So ein Verhalten ist natürlich nicht richtig“, gab Hale zu. „Aber das ist doch alles lange her!“
„Weißt du nicht mehr, wie er mir neulich in deiner Gegenwart gedroht hat?“, entgegnete Connie. „Am nächsten Tag fingen die Anrufe an. Und dann das Lied …“
„Moment, Moment.“ Hale hob die Hand. „Betrachten wir das Ganze mal objektiv: Hast du die Stimme des Anrufers gehört?“
„Nein“, gab Connie zu.
„Wurdest du schon mal zu Hause mit Anrufen belästigt?“
„Nein.“
Joel kannte ihre Nummer, die nicht im Telefonbuch stand. Aber sicher wäre er nicht so dumm, sich auf diese Art verdächtig zu machen.
„Hast du Joel mal in der Umgebung gesehen?“, fragte Hale weiter.
Connie schüttelte den Kopf.
„Dann könnte es wirklich ein X-Beliebiger sein.“
„Der damit anfängt, nachdem Joel mich gedrängt hat, auf die Unterhaltszahlungen zu verzichten? Wohl kaum! Außerdem war er wütend, weil ich Skip adoptieren möchte. Dabei hat er mich wegen eines Babys erst unter Druck gesetzt, als unsere Ehe schon auseinanderbrach. Er dachte wohl, ein Baby würde die Beziehung retten.“
„Also gut“, gab Hale nach. „Ich werde Joel direkt auf diese Sache ansprechen. Er hat zwar ein ungezügeltes Temperament, aber hinterhältig ist er nicht. Wenn er auf Rache aus ist, wird er es zugeben.“
„Einen Versuch ist es wert“, stimmte Connie zu.
„Du solltest auf jeden Fall schon einmal genau notieren, wann die Anrufe erfolgen und wie lange sie dauern, was derjenige sagt und ob Hintergrundgeräusche zu hören sind“, riet Hale. „In Kalifornien müssen bei Läden nämlich zehn belästigende Anrufe innerhalb von vierundzwanzig Stunden erfolgen, sonst ist es keine Gesetzesübertretung. Bei Privatleuten genügt dagegen schon ein einziger Anruf.“
„Und das weiß Joel natürlich“, versetzte Connie aufgebracht.
Hale legte die Hand auf ihre. „Die Sache scheint dich ja ganz schön mitzunehmen!“
„Ja, ich bin total sauer!“ Und erschüttert, wie sie sich widerstrebend eingestand, denn bisher hatte sie Joel nie als gefährlich eingeschätzt. „Ich mache mir Sorgen. Immerhin ist er bewaffnet.“
„Das ist bei Polizisten doch ganz normal.“ Hales Gesicht wurde angespannt. „Ich glaube wirklich nicht, dass … Ich werde einfach heute Nachmittag mit ihm reden, und dann komme ich rübergehumpelt und lese Skip eine Geschichte vor. Wann geht er denn normalerweise ins Bett?“
Hinter seinem Rücken reckte Jo Anne triumphierend eine Faust in die Luft, als sei es ein Sieg, dass Connie den „Adonis“ in ihr Haus gelockt hatte.
Connie ignorierte es. „Um acht. Danke für deine Hilfe!“
Sie hoffte sehr, mit Hales Unterstützung diese schwierige Phase in ihrer Beziehung zu Skip schnell zu überwinden. Vermutlich sah der kleine Junge sie momentan lediglich als eine weitere unzuverlässige Erwachsene. Zwar machte sie sich auch wegen Joel Gedanken, doch ihre größte Sorge galt ihrem Sohn: Sie befürchtete, dass er aufgrund seiner vielen Enttäuschungen so misstrauisch geworden war, dass er sich nicht mehr an einen anderen Menschen binden konnte.
Nachdem Hale den Laden verlassen hatte, wollte Jo Anne etwas Anerkennendes sagen, doch Connies warnender Blick ließ sie verstummen.
Offenbar war der Unterricht an der Highschool beendet, denn nun näherte sich eine ganze Horde junger Mädchen, die gern Modeschmuck kauften. Connie atmete tief ein und versuchte, nicht mehr an ihre Sorgen zu denken.
Zu Hause überlegte Hale, wie er Joel am besten auf die Anrufe ansprechen sollte. Dabei ging er immer wieder das Gespräch mit Connie durch, bei dem er sich erstmals richtig in sie hineinversetzen hatte können. Ein ungewohntes, aber sehr schönes Gefühl.
Hale selbst hätte die Anrufe lediglich als nervig bewertet, verstand aber nun, wie bedrohlich sie auf Connie wirkten. Er musste daran denken, wie ausgeliefert sie war, wenn sie sich allein im Laden befand – wie neulich, als sie Geräusche aus dem Lagerraum gehört hatten.
Was Joel anging, mit dem er seit zehn Jahren befreundet war: Hale hatte erlebt, wie Joel mit seinen Nichten und Neffen herumgetobt, zu Weihnachten Spielzeug für bedürftige Familien gesammelt und sich junger Kollegen angenommen hatte, die ihr Leben durch übertriebenes Selbstbewusstsein aufs Spiel gesetzt hatten. Dass er seine Exfrau angreifen würde, hatte Hale sich nicht vorstellen können – bis diese ihm von den Wutausbrüchen erzählt hatte.
Auch die besten Menschen verloren manchmal die Beherrschung, und dann waren Freunde und Verwandte fassungslos. Das wusste Hale nur zu gut. Doch bevor er sich mit Joel befassen würde, machte er es sich im Sessel bequem, um sich ein wenig auszuruhen.
Nach zwanzig Minuten riss ihn lautes Telefonklingeln aus dem Schlaf. Es war Derek, der berichtete, die Presse habe Wind von dem in Ben Lyons’ Apartment gefundenen Joints bekommen.
„Wir haben für drei Uhr eine Pressekonferenz anberaumt, damit wir nicht immer wieder dieselben Fragen beantworten müssen.“
„Und deshalb weckst du mich?“, fragte Hale missmutig.
„Du weißt doch, wie Reporter ausrasten, wenn sie einen Skandal wittern. Da würden wir ihnen zur Ablenkung natürlich gern den Helden präsentieren, der ohne Zögern in das brennende Haus gerannt ist und den Jungen gerettet hat. Also komm bitte vorbei, am besten in Uniform, das macht sich immer gut auf Fotos. Ach ja, und vergiss deine Krücken nicht!“ Mit diesem kleinen Scherz legte Derek auf.