Am Sonntagmorgen widerstrebte es Hale, sich im Spiegel in die Augen zu sehen. Er sah übernächtigt aus, vor allem aber hatte er einen kleinen Jungen enttäuscht – und die Frau, die ihm so viel bedeutete.
Heute würde er sein Versprechen Skip gegenüber halten und sich auch mit Connie aussöhnen. Doch konnte er auf Dauer zwei Leben führen – das des großen Jungen, der mit seinen Kumpels grillte und Bier trank, und das des Mannes, der morgens gern neben der Frau seiner Träume aufwachen wollte?
„Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“, fragte Connie, als er später draußen die Abdeckung vom Pool nahm.
Hale, der froh war, keine Standpauke zu bekommen, nickte. „Was kann ich für dich tun?“
„Meine eine Verkäuferin hat sich krankgemeldet, und die andere ist noch recht neu. Wir machen um zwölf auf. Könntest du …“
„Auf Skip aufpassen? Klar, kein Problem.“
„Toll, vielen Dank.“ Connie zögerte und wirkte sehr hin- und hergerissen.
Hale ging zum Tor in der Mauer, wo sie stand. Als er die Arme nach Connie ausstreckte, schmiegte sie sich an ihn, und sie küssten sich leidenschaftlich.
„Ich möchte mich für meinen Vater entschuldigen“, sagte Hale, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. „Seine Einstellung zu Frauen ist ziemlich überholt – im schlechtesten Sinne. Ich hoffe, Skip war nicht allzu traurig?“
„Nein, wir haben meine Mutter besucht und waren am Strand. Aber er hat dich vermisst. Und er …“ Connie unterbrach sich.
Hale strich ihr mit dem Finger über die zarte Wange. „Was?“, fragte er.
„Er fand, du hättest Glück, einen richtigen Vater zu haben.“
Einen richtigen Vater. Also keinen, der immer nur vorbeikam und wieder verschwand, wenn der kleine Junge ihm lästig wurde? Hale stellte fest, dass ihn die Rolle des großen Bruders nicht mehr ganz zufriedenstellte.
„Und weißt du was?“, erzählte Connie begeistert. „Er hat mich ‚Mommy‘ genannt und mir gesagt, dass er mich lieb hat!“
Hale freute sich für sie. „Toll! Das ist wirklich ein Fortschritt, und du hast es verdient.“
Die Tür ging auf, und Skip kam heraus. Noch vor wenigen Wochen hätte Hale den mit Spielzeug beladenen kleinen Jungen in Badehose und Flip-Flops kaum von Gleichaltrigen unterscheiden können, doch jetzt hatte er einen Platz in seinem Herzen.
Connie strich Skip durchs Haar. „Hale sagt, er kann auf dich aufpassen.“
„Hurra!“, rief Skip begeistert. „Ich bin auch ganz brav, versprochen!“
„Tut mir leid, dass ich euch gestern abgesagt habe“, sagte Hale. „Dafür haben wir heute den ganzen Tag für uns.“
„Kann ich Erdnusskekse zum Mittagessen haben?“
„Kekse sind keine gesunde Mahlzeit“, schaltete Connie sich ein.
Als Skip protestierte, kam Hale ihr zu Hilfe. „Deine Mutter möchte doch nur, dass du gesund bleibst. Und ich auch. Also essen wir etwas Gesundes, und zum Nachtisch gibt es dann Kekse.“
„Okay.“ Der Junge gab Connie einen schnellen Kuss und begann, sein Spielzeug in Hales Garten zu schleppen.
„Danke, dass du mir nicht in den Rücken gefallen bist“, sagte sie leise. „Also dann, bis um sechs.“
Nachdenklich blickte Hale ihr nach. Nach der Trennung hatte er immer nur Joels Sicht der Dinge gehört und erst vor Kurzem bemerkt, wie verzerrt seine eigene Sichtweise war. Ein energischer Ruf von Skip riss ihn aus seinen Gedanken, und er ging zu dem Jungen, um mit dem Schwimmunterricht zu beginnen.
Als Skip müde war, durfte er am Rand sitzen und mit dem ferngesteuerten Boot spielen. Hale machte es sich mit einem Thriller im Liegestuhl bequem. Doch er konnte sich nicht auf die Lektüre konzentrieren, weil er einen Gedanken nicht loswurde.
Joel hatte damals nicht mit ihm und Derek ins Kino gehen wollen. Aber warum, das hatte er nicht gesagt – und er hatte auch kein Alibi gehabt, sondern lediglich behauptet, er wäre im Mesa View Park spazieren gegangen. Wegen des Ententeichs und des Spielplatzes waren dort in der Mehrzahl Familien anzutreffen.
„Ich wollte in der Nähe von Familien sein“, hatte er am Vortag beim Grillen erklärt. „Connies kleiner Adoptivsohn hat das ausgelöst. Als ich damals gefordert habe, dass wir ein Baby bekommen, hatte ich die naive Hoffnung, wir könnten damit unsere Beziehung retten. Wage es ja nicht, das meiner Ex zu erzählen“, hatte er Hale gewarnt. „Aber ich war noch gar nicht reif dafür, Vater zu werden. Allerdings habe ich immer stärker den Wunsch danach. Und neulich bei dem Spaziergang im Park hatte ich gehofft, die vielen Kinder dort würden mir das austreiben. Hat aber nicht funktioniert. Na ja, vielleicht treffe ich ja irgendwann die richtige Frau.“
„Und Connie ist das nicht mehr für dich?“, hatte Hale gefragt, der noch immer ein schlechtes Gewissen hatte.
„Machst du Witze? Auf gar keinen Fall!“, hatte Joel abgewehrt. „Ehrlich, sie gehört ganz dir. Ich kann das auch verstehen – sie sieht ja super aus, und du wohnst direkt nebenan.“
Hale wusste, dass Kirks Ermittlungen sich auf Joel als Täter konzentrierten. Doch er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sein Freund dahintersteckte. Irgendjemand war verantwortlich dafür, dass Skip ins Krankenhaus gemusst und Connie große Ängste ausgestanden hatte. Wer immer das gewesen war, durfte nicht ungestraft davonkommen. Nur war Hale leider offiziell nicht für den Fall zuständig. Andererseits konnte er nicht zulassen, dass Joel vorschnell und zu Unrecht verurteilt wurde.
Hale beschloss, aktiv zu werden, auch wenn er damit möglicherweise Connie vor den Kopf stieße. Denn er konnte sie nur beschützen, wenn er den wirklichen Übeltäter fand.
„Ich hoffe, du wirst nie als Undercover-Ermittler eingesetzt“, sagte Connie, als sie und Hale nach einer langen Gutenacht-Geschichte für Skip aneinandergeschmiegt auf dem Sofa saßen. Sie war fast über Hale hergefallen, hatte aber schnell von ihm abgelassen, da er sehr zögernd gewirkt hatte. Nun wollte sie wissen, was ihn so beschäftigte.
„Unsere Dienststelle verurteilt Joel, ohne dass es ausreichende Beweise gibt. Das kann ich nicht zulassen. Die Untersuchungen werden von politischen Aspekten und Imagepflege beeinflusst“, erwiderte Hale.
„Aber ist es besser, zu seinem Freund zu halten, egal ob er jemandem etwas antut?“
„Wenn ich glauben würde, dass Joel hinter der Sache steckt …“
„Was brauchst du denn noch für Hinweise?“ Connies Stimme bebte. „Ich hatte richtig Angst, als er gestern so wütend hier hereinmarschierte!“
„Ja, das war nicht richtig von ihm“, stimmte Hale zu, den Blick starr zur Wand gerichtet. „Dennoch glaube ich, dass er nicht der Täter ist. Und der muss unbedingt gefasst werden.“
„Ich weiß ja, dass du immer alle zufriedenstellen möchtest und dafür die Rolle des Vermittlers spielst. Das hast du vermutlich schon als Kind für deinen Vater getan. Aber diesmal wirst du dich für eine Seite entscheiden müssen!“, sagte Connie.
Endlich sah Hale sie an. „Du bedeutest mir sehr viel, Connie“, sagte er eindringlich. „Aber ich kann nicht einfach das Urteil eines anderen Menschen übernehmen, nicht einmal deins.“
Connie hatte lange Angst gehabt vor dem Moment, in dem er sich entscheiden musste, auf wessen Seite er stand. Und ganz offensichtlich entschied er sich für seine Kumpels – Joel und den Rest der Bande, einschließlich seines Vaters. Sie hatte gehofft, mit Hale vielleicht endlich einen Partner gefunden zu haben, der sie nicht nur liebte, sondern auf den sie auch uneingeschränkt zählen konnte. Doch wie es aussah, würde er ihr nur das Herz brechen – und Skip ebenso.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich dachte, wir …“ Ihre Stimme versagte.
„Ich auch“, erwiderte Hale sanft. „Ich hoffe, du siehst die Dinge anders, wenn diese Sache vorbei ist.“
Connie senkte den Blick auf ihre Hände. „Zwischen uns ist es bereits vorbei, Hale.“ Verzweifelt blickte sie ihm nach, als er leicht humpelnd hinausging.
Am Montagmorgen wartete Hale auf eine Gelegenheit, seine Bedenken zum Ausdruck zu bringen. Als Kirk Tenille und Frank Ferguson gleichzeitig zum Polizeichef gerufen wurden, schloss Hale sich einfach an. Doch weder Kirk noch Frank erhoben Einwände – vermutlich dachten sie, der jeweils andere hätte ihn dazugebeten.
Kirk berichtete, dass man im Laden eine Visitenkarte gefunden hatte, dass Joel Connie gedroht hatte und kein Alibi für Samstag hatte und dass die Geschichte mit der Kellnerin und der Visitenkarte nicht nachzuweisen war. Außerdem hatte Yolanda Rios das Alibi des einzigen weiteren Verdächtigen bestätigt, das von Vince Borrego.
„Mehr haben wir bisher nicht, Chief“, sagte Frank, als Kirk fertig war. „Sehr schlüssig ist das Ganze ja nicht.“
„Und was ist, wenn er plötzlich gewalttätig wird?“, fragte Will Lyons angespannt.
„Ich bezweifele, dass Joel wirklich hinter der Sache steckt“, mischte Hale sich nun ein. „Er würde niemandem Schokoriegel mit Nüssen unterjubeln. Seine Schwester ist nämlich einmal fast an einem allergischen Schock gestorben. Ich glaube eher, dass jemand Joel etwas anhängen will. Und dann ist da noch der Unbekannte, den Mrs Rios vor dem Brand gesehen hat. Vielleicht hat er ja einen brennenden Joint auf Bens Sofa gelegt.“ Hale sprach so eindringlich, dass alle aufmerksam zuhörten. „Beide Fälle werfen ein schlechtes Licht auf unsere Dienststelle – ein weiteres mögliches Motiv.“
Der Polizeichef nickte. „Was schlagen Sie vor?“
„Ich versuche, in Josés Taverne doch noch etwas über die Kellnerin herauszufinden.“ Es ärgerte Hale ein wenig, dass Kirk sich offenbar nicht sonderlich bemüht hatte, die Frau ausfindig zu machen.
„Der Bürgermeister hat für heute Nachmittag um zwei eine Pressekonferenz anberaumt und möchte dann von uns zumindest ein vorläufiges Ergebnis hören.“
Na toll, dachte Hale. „Ich lege gleich los.“ Er stand auf und ging hinaus.