KATE

TAG FÜNF 02:38–04:02

Ein Alarm weckte mich. Ich brauchte einen Moment, mich zu erinnern, wo ich war. Wer ich war. Wie ich auf diese Weise aufgeweckt werden konnte.

Ich drehte mich um und spürte Alex neben mir.

2 :38 . Also war das gar nicht Alex. Seine Persönlichkeit befand sich im Shutdown, während der Körper Schlaf simulierte. Ich könnte ihn nicht mal wecken, wenn ich wollte.

Ich setzte mich auf.

 

Sierra Summers entdeckt. Ein Alarm: Ansehen?

 

Ich war immer noch in cc bei Bens alter Suche, die Alex modifiziert hatte. Es überraschte mich, dass sie so offen ihren alten Namen benutzte. Wie hatte sie das geschafft, während ich zu Amy Bird geworden war?

Ich öffnete den Clip.

Sierra stand an einer dunklen Kreuzung unter einer der wenigen Straßenlampen, die noch funktionierten, und sah sich um. Sie war nicht weit vom Death’s Head entfernt. Hatte sie sich während des Spiels dort aufgehalten? War sie dort gewesen, als wir Guskow besuchten? Hatte er uns belogen? Oder ging sie gerade zu der Bar?

Es kam mir wie eine Falle vor. Warum tauchte sie ausgerechnet während Alex’ Shutdown auf, von dem sie schließlich wusste? Glaubte sie vielleicht, dass sie in dem Zeitraum sicher wäre und ich sie nicht auf eigene Faust verfolgen würde? Wusste sie überhaupt, dass ich noch lebte und in Amys Körper festsaß? Gegen Ende des Spiels war alles ziemlich chaotisch abgelaufen. Vielleicht wähnte sie sich in Sicherheit, während wir schliefen.

Aber wenn wir sie wieder verloren, bekam ich meinen Körper vielleicht nie zurück.

Ich stieg aus dem Bett und versuchte, leise zu sein, um Alex nicht zu wecken – was natürlich Blödsinn war. Ich zog mich rasch an. Dabei kam ein zweiter Alarm rein, der Sierra beim Betreten des Death’s Head zeigte.

Ich konnte nicht warten, bis Alex aufwachte. Hastig ging ich hinaus.

Draußen war es dunkel und kalt. Menschenleer. Der Mond spendete etwas Licht, aber am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen, und Regen lag in der Luft. Ich lief mitten auf der Straße, hielt mich von den Schatten fern. In Amys schwachem Körper fühlte ich mich verwundbar.

Wie sollte ich es anstellen? Einfach in die Bar reinzuspazieren, kam mir wie Selbstmord vor. Ich musste einen anderen Weg hinein finden. Im Gehen rief ich eine Karte auf. Hinter der Bar standen mehrere Gebäude dicht an dicht, daran grenzte ein kleiner Park an.

Ich brauchte gut dreißig Minuten, um dorthin zu kommen. Hoffentlich war Sierra noch in der Bar. Wenige Bäume bevölkerten noch den Park, die meisten davon halb tot, aber sie boten immerhin ein wenig Deckung. Ich hastete vorsichtig von einem zum nächsten und versuchte, mich vom Mondlicht fernzuhalten.

Das erste Gebäude ragte gut sieben oder acht Stockwerke über mir auf und lag im Schatten. Es führte kein erkennbarer Weg hinein, weder Türen noch Fenster waren auszumachen. Ich musste näher ran. Rechts von mir befand sich eine Geröllhalde, Überreste einer eingestürzten Mauer, die etwas Schutz boten. Ich rannte hin und kletterte mit gesenktem Kopf hinauf.

Doch ich hätte mir keine Sorgen machen müssen, dass Sierra rausspähen könnte. Aus der Nähe sah man, dass es keine Fenster gab, nur eine kahle Wand mit einer kleinen Tür rechts unten. Sie war unverschlossen und schwang im Wind hin und her.

Eine rein zufällige Sichtung von Sierra. Eine einladende, offene Tür. Es kam mir mehr und mehr wie eine Falle vor. Aber welche andere Wahl hatte ich?

Ich glitt die Geröllhalde hinab und näherte mich vorsichtig der Tür. Lauschend stand ich davor, hörte aber nichts als den Wind. Schließlich nahm ich allen Mut zusammen und spähte hinein.

Das Gebäude wirkte riesig und war kaum beleuchtet. Fünf Oberlichter verliefen hoch droben die gesamte Länge des Dachs entlang. Mondschein durchbohrte in regelmäßigen Abständen die Dunkelheit wie trübe Scheinwerfer. Sie schälten ein Durcheinander aus Maschinen und verwinkelten Laufstegen aus der Schwärze.

Vorsichtig trat ich ein. Ich sah nicht genug, um in den Schatten an der Wand bleiben zu können. Dieser Körper besaß nicht unsere Verstärkerlinsen. Ich brauchte das Mondlicht. Seltsam, dass Amy Bird mit ihren siebenundsechzig Jahren und genügend Zeitguthaben nie Verbesserungen erworben hatte. Vielleicht waren Andis einfach so. So separiert von ihren Körpern und der realen Welt, so besessen von ihrem rationalen Verstand, dass sie keine Zeit dafür verschwendeten, sich körperlich aufzupimpen.

Ich bahnte mir vorsichtig einen Weg durch den Schutt, von einer beleuchteten Stelle zur nächsten, und versuchte zugleich, die hoch aufragenden Maschinen als Deckung zu nutzen. Schließlich lag nur noch ein Oberlicht vor mir. Vorsichtig spähte ich hinter meiner Deckung hervor.

Ich hatte Sierra gefunden.

Sie saß mit überkreuzten Beinen in der Mitte einer mondhellen Stelle und wandte sich der Tür zu, durch die ich eingetreten war. Die Augen hatte sie geschlossen. Aber zweifellos wusste sie, dass ich eingetroffen war. Auf beiden Seiten, am Rand des Lichtkreises, standen Kästen mit Glasdeckeln aufgereiht. Ich sah nicht, was sich darin befand, aber sie erinnerten mich auf grässliche Weise an Särge.

Ich trat ins Mondlicht.

Sierra schlug die Augen auf. Sie sah mich von oben bis unten an. »Kate«, sagte sie. »Du bist alt geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«

»Ich bin Amy, nicht Kate«, sagte ich. »Kannst du nachprüfen.«

Sie lachte. »Ich muss dich nicht scannen, Kate. Ich weiß, wer du bist. Ich habe dich immerhin in diesen Körper transferiert.«

»Und jetzt musst du mich zurückbringen«, sagte ich. »Wenn du den Rest deines Lebens eine Andi sein willst, die in diesem Park festsitzt, prima. Aber ich will das nicht. Ich will zurück in meinen Körper und raus aus diesem …« Ich winkte an dem Andikörper hinab. Ekel überkam mich. Mit jeder unnatürlichen Geste hasste ich diesen Körper mehr.

Sierra schüttelte den Kopf. »Du solltest dich freuen. Ich habe dir die Freiheit geschenkt. Keine Vier-Stunden-Phasen mehr. Keine Gedanken mehr daran verschwenden, was andere mit deinem Körper angestellt haben könnten. Du solltest mir dankbar sein.«

»Dankbar?« Ich ging einen Schritt auf sie zu und ballte unbewusst die Fäuste. »Du magst deine damalige Entscheidung bereuen, aber ich nicht. Ich bin gern Teil von etwas Größerem. Ich konnte Mike, Ben und Alex immer spüren, wenn ich wach war – sogar dich. Das tat gut. Hier drin«, ich sah wieder an Amys Körper hinab, »hier drin bin ich allein. Ich weiß nicht, wie du das ertragen kannst.«

Sierra blinzelte nach meinem Ausbruch überrascht. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Du gewöhnst dich daran. Sieh es positiv. Du kannst mit Alex zusammen sein. Ich hab die Game Show gesehen. Da war etwas zwischen euch. Alex kennt dich besser als du selbst.«

»Was auch immer du genau meinst, das war nicht real«, sagte ich. »Da war nichts zwischen uns. Es war nur ein Spiel, bei dem ich mitgemacht habe, um zu überleben. Natürlich kennt Alex mich. Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren zusammen. Das ist alles.«

Was wollte Sierra gesehen haben? Ich schüttelte den Kopf. Sie versuchte nur, mich zu manipulieren. »Du kapierst es scheinbar nicht, Sierra. Ich hasse das alles hier. Du hast Alex und Emily in Montreal gefickt. Buchstäblich. Und jetzt machst du dasselbe mit mir. Warum?«

»Was hatte ich für eine Wahl?«, sagte sie. »Nach Montreal habt ihr Arschlöcher mich drei Monate in Stasis versetzen lassen. Wisst ihr, wie das ist? Nur mit den eigenen Gedanken eingesperrt zu sein? Und Alex wollte es nicht bei drei Monaten belassen. Er wollte mich für immer loswerden. Früher oder später hätte ich etwas getan, das ihr scheinheiligen Schweine missbilligt hättet, und er hätte seine Ausrede gehabt, es wieder zu versuchen. Wir hätten auch in hundert Jahren nicht fröhlich und vergnügt zusammengelebt. Entweder würde ich euch los, oder ihr hättet eine Methode gefunden, mich abzuschießen. Also beschloss ich, zuerst zu handeln.«

In Sierras krankem Weltbild ergab das vermutlich sogar einen Sinn. Aber wie hatte sie das angestellt? Ben hätte ich es zugetraut. Aber Sierra? Sie hatte sich nie für etwas anderes als ein entspanntes Leben eingesetzt.

»Wer war Amy Bird?«, fragte ich. »Wie hast du das alles hingekriegt? Hat Ben dir geholfen? Ist er noch irgendwo am Leben? Und Mike?«

»Ben?« Sie sah aufrichtig erstaunt aus. »Nein. Ben ist tot. Genau wie Mike. Die haben mir nicht geholfen.«

»Wer dann? Wie hast du das alles geschafft? Doch ganz sicher nicht allein.«

Sie zögerte mit ihrer Antwort. »Das soll eine Überraschung werden. Du findest es bald genug heraus.«

Was sollte das bedeuten? »Warum bist du noch hier? Du hast, was du wolltest. Du bist wieder die siebzehn Jahre alte Sierra. Verpiss dich und lass uns in Ruhe. Was von uns übrig ist. Hoffentlich glaubst du, dass es sich dafür gelohnt hat, Mike und Ben zu töten. Ich glaube es nicht.«

Sie verzog das Gesicht. »Das ist schwierig. Ich kann mich nicht, wie du es so elegant ausdrückst, einfach verpissen . Ich musste in diesen Körper wechseln, als Ben auf Bird geschossen hat. Jetzt hab ich weder einen Status noch Zeitguthaben. Wenn ich den Park verlasse, werde ich aufgegriffen und gelöscht. Darum muss ich Mikes Körper wiederhaben. Und da kommst du ins Spiel.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

»Ich brauche Alex in einer Arena, damit wir wieder zurücktauschen können. Aber er wird nie und nimmer zustimmen, solange ich kein Druckmittel habe.« Sie zeigte auf mich. »Dich.«

»Mich?« Es war tatsächlich eine Falle gewesen. »Woher hast du gewusst, dass ich überhaupt herkommen würde?«

»Du bist nicht so helle, wie du glaubst«, sagte sie. »Ich wusste, wenn ich mich zeige, löst das Bens Alarm aus, und dann kannst du einfach nicht anders, als mich zu verfolgen.«

Ich sah mich um und lachte.

»Und wie willst du mich hier festhalten, Sierra? Ich bin schließlich zu dir gekommen, nicht umgekehrt.« Auch wenn ich immer noch nicht die vollständige Kontrolle über Birds Körper erlangt hatte, war ich mir sicher, dass ich es mit Sierra in ihrem neuen Andikörper aufnehmen konnte.

Eine Eisenstange lehnte an der Maschine neben mir. Ich schnappte sie mir und wog sie in der Hand. Falls erforderlich, würde ich die Wahrheit aus Sierra herausprügeln. Sie hatte gerade zugegeben, dass es eine Möglichkeit gab, in unseren Körper zurückzukehren. Sie musste mir sagen, wie das ging.

Ich ging einen Schritt auf sie zu und schlug die Stange in meine Handfläche.

Sierra zuckte zusammen und stand hastig auf.

»Das würde ich nicht machen«, sagte sie. Sie wich zurück und hielt die Hände hoch.

Die Deckel der gläsernen Särge hoben sich lautlos. Ein Zischen ertönte, Rauch quoll heraus in die Finsternis. Ein eiskalter Hauch strich über meine Füße. Was war das?

»Als ihr mieses Pack mich in Stasis gezwungen habt, war ich in Zwangstherapie«, sagte Sierra. »Die haben mir gesagt, dass ich eine Soziopathin wäre, die sich nie ändern könnte. Das ist okay. Ich muss mich nicht ändern. Bevor sie aufgaben, sagten sie mir, dass ich mich meinen Ängsten stellen müsste. Dass ich nicht vor ihnen davonlaufen dürfte.«

Während ich mich noch fragte, was das alles hiermit zu tun haben mochte, hörte ich Geräusche aus den Särgen kommen. Ein Malmen, Husten, keuchenden Atem. Plötzlich richtete sich in dem Sarg unmittelbar rechts von mir etwas auf.

Ich wich mit einem Sprung zurück. Es war weiß und konturlos und schien im Mondlicht zu leuchten. Eine mit Schleim überzogene Dandi, die gerade aufwachte. Offenbar bewahrte Guskow hier seinen Vorrat auf. Sierra weckte sie gleichzeitig. Aber wie?

»Was … was machst du da?«, keuchte ich.

»Was ist deine größte Angst, Kate? Für immer in einem Andikörper gefangen zu sein? Dies ist Teil deiner Therapie. Ich gebe dir eine Möglichkeit, dich der Angst zu stellen. Mein Psychologe würde sagen, das sei gut für dich. Du kannst fliehen, wenn du willst. Eigentlich möchte ich sogar, dass du fliehst, weil es mir so viel mehr Spaß macht. Aber am Ende werden sie dich kriegen.« Sie machte eine Pause und grinste mich an. »Es wird Zeit, dass du dich mit deinem Vaterkomplex auseinandersetzt.«

Woher zum Teufel wusste sie davon? Ich hatte nur mit Alex darüber gesprochen. Hatte er es Sierra verraten?

Aber ich hatte größere Probleme.

Die Dandis stiegen langsam aus ihren gläsernen Särgen. Einen Moment fragte ich mich, ob ich Sierra packen und als Schutzschild benutzen könnte. Doch was würde das nützen? Ich hatte nur die Eisenstange – sie würden mich mühelos überwältigen. Ich begriff, dass sich das Spiel verändert hatte. Es ging nicht mehr darum, Sierra zu erwischen. Es ging darum, dass ich lebend hier rauskam.

Ich wirbelte herum und floh.

Zwischen den Reihen der Särge hindurch zu der Tür, durch die ich eingetreten war. Vor mir waren zwei Dandis bereits ganz herausgestiegen. Sie waren nackt, weiß und trieften vor Schleim.

Ich duckte mich unter einem Arm hindurch und stieß den anderen mit der Eisenstange weg. Nicht fest genug. Ich verfluchte meinen dummen, schwachen Körper.

Der Dandi packte die Eisenstange, ich stolperte rückwärts und spürte, wie etwas meinen Rücken berührte und über meine Schulter glitt. Ich schrie.

Hastig tauchte ich unter der Berührung weg und schnellte zwischen zwei Dandis hindurch nach vorn. Ich kroch panisch auf Händen und Knien weiter und rutschte auf weggeworfenen Metallteilen aus. Hinter mir hörte ich keuchenden Atem. Dicht hinter mir.

Ich umklammerte einen Griff an der nächstbesten Maschine und zog mich hoch. Etwas glitt über meinen Hals, eine Hand zog an meinem Hemd. Ich sprang vorwärts, um die Kante der Maschine herum.

Da riskierte ich einen Blick über die Schulter.

Eine ganze Schar Dandis folgte mir schlurfend und stolpernd, mit unkoordiniert zuckenden Gliedmaßen. Man nannte sie nicht ohne Grund dumme Andis. Ihre KI -Fähigkeiten waren begrenzt. Sie versperrten sich gegenseitig den Weg. Selbst in Birds schwachem Körper hatte ich einen Geschwindigkeitsvorteil. Wenn ich ihnen voraus blieb, könnte ich es als Erste zur Tür schaffen.

Ich rannte weiter und versuchte, mich an den Oberlichtern zu orientieren, um mir die Route von der Tür zu Sierra zu vergegenwärtigen. Ich wandte mich nach rechts, um eine Maschine herum, die doppelt so hoch war wie ich, dann nach links, durch eine Lücke zwischen zwei kaputten Transportbändern. Ich stieß mir das Schienbein an etwas Hartem und unterdrückte einen Aufschrei. Die Dandis hörte ich immer noch hinter mir, hatte mich ihren Blicken aber vorübergehend entzogen. Wenn sie schlau waren, würden sie versuchen, mir den Weg abzuschneiden. Hatte Sierra so viel Kontrolle über sie?

Dann wurde alles schwarz.

Im ersten Moment dachte ich, Sierra hätte irgendwie die Oberlichter geschlossen. Dann wurde mir klar, dass der Mond hinter Wolken verschwunden sein musste. Der Sturm war gekommen. Hoch droben prasselte Regen auf das Blechdach und hallte durch das ganze Gebäude.

Das funktionierte immerhin auf beiden Seiten. Wenn ich die Dandis nicht sehen oder hören konnte, dann waren sie gleichermaßen taub und blind.

Aber die Zeit arbeitete gegen mich. Ich musste vor ihnen bei der Tür sein. Sie mussten nur dorthin und auf mich warten.

Ich lief vorsichtig weiter, mit ausgestreckten Armen, und versuchte, einen Weg durch das Chaos zu ertasten, bis meine Augen sich angepasst hatten.

Warum machte Sierra das mit mir? Sie wusste, dass ich Andis noch nie ausstehen konnte. Hatte sie mich darum in diesen Körper verpflanzt? Ohne die anderen fühlte ich mich furchtbar allein.

Ein Lichtstrahl durchbohrte das Dunkel links von mir. Er strahlte zwei Dandis an, die sich mir auf fast zwei Meter genähert hatten. Ich duckte mich unter einem Transportband durch und versuchte, ruhiger zu atmen. Unweit der Stelle, wo die Dandis gewesen waren, hörte ich Schritte.

»Katie, Katie, wo bist du hin?«

Das Licht glitt auf mich zu, über mich hinweg, an mir vorbei. Ich verharrte reglos.

Es kam zurück.

»Sie ist dort«, rief Sierra.

Ich hechtete aus meinem Versteck und schlitterte durch Altmetall. Sierras Scheinwerfer folgte mir, bis ich hinter einer weiteren großen Maschine verschwand. Um ein Haar wäre ich gegen eine Wand gelaufen.

Jetzt hatte ich mich völlig verirrt.

Der trommelnde Regen über mir war nicht hilfreich, ein Echo meines klopfenden Herzens. Ich glaubte, dass ich vor mir ein metallisches Kratzen hörte, kaum wahrnehmbar.

»Lauf, Katie, lauf.« Eine spöttische Stimme irgendwo hinter mir.

Ich musste wissen, wo ich mich befand. An der Seite einer Maschine links von mir entdeckte ich so etwas wie eine Leiter. Sie knirschte, als ich daran zog, als würde sie sich jeden Moment lösen. Aber mir blieb keine Wahl. Ich zog mich daran hoch und gelangte auf eine Metallplattform etwas oberhalb der Kopfhöhe. In beide Richtungen verliefen Laufstege. Der Weg rechts von mir verlief parallel zur hinteren Wand, wie ich jetzt erkennen konnte; er sollte mich in die Nähe der Tür bringen. Ich trat probehalber mit einem Fuß auf den Steg. Er schwankte beunruhigend.

Jetzt schwitzte ich trotz der kalten Nacht. Warum schwitzten Andis überhaupt? Anscheinend hatten sie die schlechtesten menschlichen Eigenschaften übernommen und nichts verbessert.

Ich betrat den Steg vorsichtig und hoffte, dass er mich tragen würde. In der Ferne sah ich den tanzenden Lichtstrahl von Sierras Scheinwerfer zwischen den Maschinen. Anscheinend ging sie in die falsche Richtung.

Plötzlich ertönte ohrenbetäubender Lärm über mir, und die Oberlichter erstrahlten schlagartig heller denn je. Das Gewitter war direkt über uns. Einen Moment erfüllte grelles weißes Licht den ganzen Raum, als Blitze um das Gebäude zuckten.

Ich erstarrte. Hatte mich jemand gesehen? Oder waren jetzt alle so blind und taub wie ich?

Es wurde wieder dunkel. Meine Nachtsicht war dahin. Aber im Augenblick des Lichts hatte ich die Tür gesehen. Ich plante im Geiste meine Route. Bis zum Ende des Stegs, eine Leiter hinunter, links um ein Transportband, rechts an einer anderen großen Maschine vorbei, und da wäre ich.

Dann hörte ich unten ein Geräusch. Zwei Dandis schlurften langsam unter dem Laufsteg entlang und kickten dabei Metallteile über den Boden. Ihre weiße, schleimige Haut schien sogar im Dunkeln zu leuchten. Schweiß sammelte sich auf meinem Gesicht und den Armen, tränkte mein Hemd. Nur ein Tropfen, und sie würden nach oben schauen. Sie konnten mich gar nicht übersehen.

Unvermittelt blendete mich wieder Licht. Aber diesmal ohne Donnergrollen. Sierras Scheinwerfer.

»Sie ist da oben!«, rief Sierra. »Schnappt sie!«

Ich rannte los. Der Metallboden des Stegs brach unter dem plötzlichen Gewicht ein. Ich stürzte nach unten und riss einen der Dandis mit zu Boden. Als ich mich aufrappeln wollte, packte mich der andere. Ich drehte mich um und schlug ihm mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, ins Gesicht.

Wäre ich in meinem Körper gewesen, hätte ihn der Schlag umgehauen. Aber Birds kümmerlicher Haken rutschte an seiner schmierigen Haut ab und stieß ihn gerade weit genug von mir, dass ich mit schmerzenden Knöcheln an ihm vorbeikam. Ich rannte Richtung Tür und achtete nicht mehr darauf, ob ich Lärm machte. Links von mir hörte ich Bewegung, Sierras Rufe, Schritte auf dem Schutt. Und das Trommeln des Regens auf dem Dach.

Ich schlitterte um einen Haufen Metall herum und sah die offene Tür direkt vor mir.

Ein Dandi stand davor und sah mich mit hohlen Augen an. Ich zögerte nicht, griff blind in den Schutthaufen und schlug ihm etwas Schweres aus Metall ins Gesicht. Ein Knirschen ertönte, gefolgt von einem gedämpften Schrei, aber selbst während er zusammenbrach, versuchte er noch, mich zu packen.

Ich sprang über seinen gestürzten Körper, zur Tür hinaus. Kurz nahm mir eine heftige Regenbö die Sicht. Ein weiterer Blitz folgte. Immer noch nah, aber der Donner ertönte erst einen Moment später. Ich sah die Baumlinie. Wenn ich es unter die Bäume schaffte, war ich in Sicherheit.

Etwas traf mich von der Seite. Ich ging zu Boden und rang nach Luft. Als ich auf Händen und Knien davonkriechen wollte, wurde mir von hinten ein Arm um den Hals gelegt. Hände ergriffen mich und zogen mich hoch. Ich zappelte und schlug und trat um mich, um zu entkommen.

Aber es waren zu viele. Meine Hände wurden fest auf den Rücken gedrückt, und sie hoben mich hoch, sodass ich den Boden nur noch mit den Zehenspitzen berührte. Der Griff um meinen Hals wurde fester, bis ich das Gefühl bekam, ohnmächtig zu werden.

Ich wurde brutal herumgewirbelt und sah Sierra vor mir stehen. Sie sah mich wütend an. Der Wind zerzauste ihr regennasses Haar, das ihr in Strähnen auf der Stirn klebte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich besser aussah.

Mühsam rang ich nach Luft. Sierra machte ein Zeichen, und der Würgegriff wurde etwas gelockert. Ich atmete gierig ein.

Sierra hielt eine Metallstrebe in der Hand. Sie kam auf mich zu und hob sie über den Kopf. War das klug, mitten in einem Gewitter? Aber es schien unwahrscheinlich, dass ein gütiger Gott sie für mich niederstrecken würde.

»Guskow dürfte gar nicht glücklich über die beschädigte Ware sein, Kate. Mindestens einer hat eine gebrochene Nase. Vielleicht mache ich dasselbe auch mit dir.« Eine Pause. »Noch besser: Wenn du diesen Andikörper so sehr hasst, warum beenden wir es nicht gleich hier?« Sie holte mit der Strebe aus. »Ich könnte dir die durch das Gehirn rammen, ohne etwas dabei zu empfinden.«

Ich wusste, sie war verrückt genug dafür. Ich wollte zurückweichen, weg von ihr, aber die Dandis schoben mich auf sie zu. »Bitte, nicht, Sierra …« Ich hasste mich dafür, dass ich sie anflehte, aber ich wollte nicht getötet werden. Plötzlich wusste ich, dass ich lieber in einem Andikörper leben als sterben wollte. »Du brauchst mich«, sagte ich. »Du brauchst mich, um Alex zu kriegen.«

Ich sah, wie sie überlegte. Dann ließ sie die Metallstrebe fallen. Ich brach vor Erleichterung fast zusammen. Und ich zitterte.

Sierra kam zu mir und schüttelte sich nasse Haare aus den Augen. Sie legte beide Hände an mein Gesicht und drehte mich zu sich um. Es fühlte sich vertraut an. Intim.

»Du siehst scheußlich aus, Kate«, sagte sie. Sie hob das Gesicht zum Himmel, machte den Mund auf und trank den Sturzregen. In ihren Augen spiegelte sich ein Blitz, als sie mich wieder ansah. »Wenigstens wäscht der Regen einen Teil des Schleims von dir ab.« Sie beugte sich noch näher zu mir und drückte mir mit den Daumen so fest gegen die Wangenknochen, dass es wehtat. Dann wich sie zurück.

»Früher hat dir das gefallen. Tu nicht so, als hätte sich etwas geändert.«

Sie irrte sich. Ich hielt ihrem Blick einen Moment stand, bevor ich mich abwandte, um auszuspucken.

Sie trat zurück und gab den Dandis ein Zeichen. »Bringt sie rein. Ich habe meinen Köder. Jetzt holen wir uns meinen Körper zurück.«