KATE

TAG FÜNF 08:35–13:30

»Er ist unterwegs«, sagte Sierra. »Pünktlich wie immer. Bald sind wir fertig, und ich kann hier raus.«

Wir befanden uns in einem kleinen, nichtssagenden Zimmer mit grauen Wänden und ohne Fenster. Sierra saß im Schneidersitz mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden. Ich lag zusammengesunken in einer Ecke. Ich wusste nicht, wo ich war, da Sierra mich mit verbundenen Augen hergebracht hatte und meinen Scanner blockte. Wenn das eine legitime Arena war, hatte ich keine Ahnung, wie sie mich reingebracht hatte, ohne dass Fragen gestellt wurden. Andererseits war dies ein Todespark. Mit Zeit konnte man mehr oder weniger alles kaufen.

Ich war müde und wund, meine Kleidung zerrissen, und immer noch tropfte eine Mischung aus Schleim und Regenwasser von mir herunter. Ich stank, ein grässlicher, süßer Geruch, den ich vermutlich nie wieder loswurde. Weiß Gott, wie ich aussah.

»Du musst das nicht machen, Sierra«, sagte ich. »Wir finden eine Möglichkeit, dich aus dem Todespark zu bringen. Dann können Alex und ich das Schlamassel bereinigen.«

»Ich sagte doch, das nützt nichts«, sagte sie. »Ich muss in unserem Körper hier weg, mit all der Zeit, die wir verdient haben, und vier weiteren Leben. Außerdem habe ich Versprechen gegeben. Uns bleibt nichts anderes übrig, als dieses Spiel zu spielen.«

Ich hörte Schritte Richtung Tür kommen, dann trat Alex ein. Gefolgt von Guskow.

Alex lief zu mir, kniete sich hin und strich mit einer Hand über mein schleimiges Haar. »Kate, alles in Ordnung?«

»Ging mir schon besser. Und ich stinke. Komm mir nicht zu nahe. Was macht er hier?«, fragte ich und nickte zu Guskow, der an der Tür stand und uns beobachtete.

Er kam näher. »Wie Ms. Summers weiß, habe ich ein gesondertes Interesse an dem Spiel, das Sie gleich spielen werden. Dank mir haben Sie beide Ihre neuen Körper. Es wird Zeit, dass Sie Ihrem Wohltäter etwas zurückzahlen.«

Ich kam nicht mit. Warum sollte ich für einen Körper bezahlen, den ich nicht wollte?

Alex wandte sich an Sierra. »Wie hast du das alles geschafft? Mike, Ben. Und jetzt Kate.« Er schüttelte den Kopf.

Sierra zuckte mit den Schultern. »Wenn ich über meine Motivation reden wollte, hätte ich meinen Psychologen angerufen. Letztes Mal hat er so gute Arbeit geleistet. Ziehen wir es einfach durch.«

»Was ist das für ein Spiel?«, fragte Alex. »Spielst du diesmal wirklich fair? Ich glaube, du hast Ben ausgetrickst, damit er Selbstmord begeht.«

»Ich habe Ben nicht getötet«, sagte sie. »Das war Kate. Außerdem ist das hier ein Spiel, das ich nicht manipulieren kann. Ich bin ebenso in Gefahr wie ihr zwei.« Sie sah zu Guskow. »Das ist Teil unserer Abmachung. Der einzige Unterschied ist, dass wir nicht um Zeit spielen. Wenn ich gewinne, bekomme ich meinen Körper zurück, und ihr zwei seid endgültig hinüber. Wenn ihr gewinnt, bleibt ihr am Leben und müsst entscheiden, was mit ihr passiert.« Sie zeigte auf mich.

»Was meinst du damit?«, wandte ich ein. »Wenn wir gewinnen, will ich meinen Körper zurück.«

»Sieh dich doch an, Kate«, sagte Sierra. »Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Du kannst von Glück sagen, dass du noch lebst.« Sie wandte sich an Guskow. »Bringen wir es hinter uns.«

Er nickte. »Kommen Sie mit.«

Wir folgten ihm aus dem Zimmer und einen Flur entlang, der zu meiner Überraschung zu der Bar führte, wo ich Godfried getroffen hatte. Diesmal waren trotz der frühen Stunde etwa zwanzig Sessel besetzt. Man sah uns nach, als Guskow uns zur Bar führte. Er hüstelte, sah sich um, blieb kurz stehen und begrüßte mehrere Gäste mit einem Nicken. Eine Kameradrohne kam unmittelbar vor uns zum Stillstand.

»Guten Morgen zusammen, und willkommen. Es ist schön, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Ein besonderer Willkommensgruß an diejenigen, die von außerhalb des Parks angereist sind. Und auch alle, die aus der Ferne zusehen, begrüße ich herzlich.« Er wandte sich an uns. »Mr. White hatte sich gewundert, warum Ihre Clips von über hundert Leuten angesehen wurden, während Sie im Park waren. Darum. Sie waren in der vergangenen Woche Stars einer höchst exklusiven Pay-per-view-Show. Seit Sie den Park betreten haben, wurde Ihr Leben, innerhalb wie außerhalb der Spielkabinen, für ein sorgfältig ausgewähltes Publikum übertragen, das wegen seiner Diskretion und einem Interesse an exotischem Entertainment ausgewählt wurde. Das war der Deal, den ich mit Ms. Summers gemacht habe, als sie mich vor einigen Monaten angerufen und mir ihre missliche Lage erklärt hat.« Er wandte sich wieder an sein Publikum.

»Heute kommen wir zum Höhepunkt unserer einwöchigen Show. Ich hoffe, sie sagt Ihnen zu. Niemand ist sicher. Alle können sterben. Den wahren Tod. Fangen wir damit an, dass ich rekapituliere, wer so weit gekommen ist. Bis vor Kurzem waren sie Teil eines Multiplenkörpers und mussten seit Betreten des Parks einige … Schwierigkeiten meistern.« Er gab einen Stoßseufzer von sich. »Leute haben sie ausgenutzt.«

Ja – hauptsächlich er selbst. Anscheinend hatte er uns um zwanzig Jahre beschissen und die ganze Zeit so getan, als wüsste er nicht, was los war, während er uns Informationen in homöopathischer Dosierung gab.

»Anfangs waren sie in einem einzigen Körper, doch nun sind die verbliebenen Protagonisten in dreien. Dieses stattliche Muskelpaket ist Alex Du Bois. Leider keine meiner Schöpfungen. Es handelt sich um den ursprünglichen Wirtskörper. Die beiden anderen sind von mir. Zuerst Kate Weston, die momentan auf den Namen Amy Bird hört. Und zweitens Sierra Summers.

Wie ich schon sagte, kam Ms. Summers vor einigen Monaten mit einem Vorschlag auf mich zu. Sie hatte einen Plan, wie sie die anderen vier loswerden wollte, benötigte dazu jedoch Andikörper. Da ich Spezialist auf diesem Gebiet bin, stellte ein gemeinsamer Freund den Kontakt her.

Als wir das komplexe Vorhaben besprachen, stellte sich heraus, dass sie viel mehr als ein paar schlichte Dandis brauchte. Glücklicherweise konnte unser guter Freund Dr. Bernard diesbezüglich helfen. Sein Interesse und seine Expertise im Hinblick auf die Funktion des menschlichen Körpers sind beispiellos. Seine Spezialität ist der Transfer von Persönlichkeiten. Soweit ich weiß, haben ihm die Herausforderungen der Persönlichkeitstransfers, die für Ms. Summers Plan erforderlich waren, viel Vergnügen bereitet.«

Ich hatte den Arzt gar nicht gesehen, der etwas abseits von der Gruppe saß. Sein dreiteiliger Anzug war ihm mindestens eine Nummer zu groß, das Jackett hing wie ein Sack an ihm. Auf dem Schoß hatte er eine mitgenommene schwarze Ledertasche, die er im Klammergriff festhielt. Er zuckte zusammen, als sein Name fiel, sah sich um und hob nervös eine Hand.

»Viele Jahre sind vergangen, seit der gute Doktor in den Park gekommen ist. Er wird mir wohl zustimmen, wenn ich sage, dass er nicht für die Kämpfe in den Arenen geschaffen war. Darum wollte er einen neuen Körper von mir. Er war einer meiner allerersten Kunden. Als Androide interessiert er sich stets besonders für die physiologischen Unterschiede zwischen Menschen und Androiden. Er versicherte mir, die bei Weitem effizienteste Methode, seine Studien durchzuführen, wäre Dissektion.«

Guskow wandte sich an uns.

»Was uns zum heutigen Spiel bringt. Als Gegenleistung für meine Unterstützung und Dr. Bernards Expertise war Ms. Summers bereit, Sie alle zu Stars in dieser heimlichen Show zu machen. Leider weilen Mr. Ganzorig und Mr. White nicht mehr unter uns. Wenn Sie auf die beiden gewettet haben, drücke ich Ihnen mein Bedauern aus. Sollte sich jemand beschweren, dass beide in Spielen gestorben sind, die Ms. Summers oder ihre Andi manipuliert hat, der sei gewarnt, dass dieser Wettkampf sowohl innerhalb als auch außerhalb der Arenen ausgetragen wird. Niemand sollte überrascht sein, dass alle sich um jedweden Vorteil in den Spielen bemüht haben.« Sein Lächeln verschwand einen Moment. »Ich will klarstellen, dass es keine Rückerstattung gibt.« Er sah sich in dem Raum um und blickte dann wieder in die Kamera.

»Aber natürlich haben Sie heute die Chance, Ihre Verluste wettzumachen. Ich habe mich mit Ms. Summers dahingehend verständigt, dass das letzte Spiel hier gespielt wird. Wer gewinnt, kann ohne Schulden, mit unversehrtem Körper und der kompletten Zeit gehen. Es steht Ihnen frei, den Park zu verlassen. Der oder die Verlierer werden dem guten Doktor für seine medizinischen Forschungen übergeben. Das wird durchaus nicht angenehm.« Er seufzte theatralisch. »Aber leider kommt nun die Zeit, da man seine Schulden begleichen muss.«

Guskow wandte sich wieder an Bernard. »Kommen Sie herauf, Doktor. Nur nicht so schüchtern. Vielleicht erhöht es die Wachsamkeit unserer Spieler, wenn Sie ihnen zeigen, was Sie geplant haben.«

Der Doktor war sogar größer als Mike. Er schien sich aus seinem Sessel emporzuwinden, als er aufstand, und kam mit eckigen Bewegungen näher. Vor jedem Einzelnen blieb er stehen und betrachtete uns mit seinen stechenden blauen Augen und einem dünnen Lächeln von oben bis unten. Trotz seines schlampigen Äußeren hatte er etwas Schreckliches an sich. Er sah aus wie ein Raubtier, das zum ersten Mal seine Beute fixiert. Und ihm gefiel, was er sah. Sogar Sierra wirkte ängstlich. Sie wich zurück.

Er ging zur Bar und stellte behutsam seine schwarze Ledertasche ab. Dann öffnete er eine Schnalle und klappte sie auf. Licht spiegelte sich auf Metall. Ich konnte nicht anders, beugte mich vor und warf einen Blick hinein. Und wünschte mir, ich hätte es nicht getan. Ich sah Messer, Skalpelle, Zangen, Hämmer und andere Instrumente, die ich nicht identifizieren konnte, fein säuberlich aufgereiht und mit Lederschlaufen gesichert.

Der Doktor wandte sich an uns. »Besonders gern hätte ich sie«, sagte er und zeigte mit einem langen, dünnen Finger auf mich, »und ihn«, wobei er auf Alex zeigte. »Es ist immer gut, wenn man vergleichen kann, wie menschliche und künstliche Körper auf dieselben Schmerzstimuli reagieren. Dem äußeren Anschein zum Trotz funktionieren die Nervensysteme grundlegend anders.«

Ich erschauderte. Er war abstoßend. In was hatte Sierra uns da reingeritten? Ein Wahnsinn. War sie so sicher, zu gewinnen, dass sie dieses Gemetzel riskierte? Sie hatte gesagt, dass sie dieses eine Spiel nicht manipulieren könnte. War das auch eine Lüge gewesen?

Ich betrachtete die Messer des Doktors und überlegte, wie hoch die Chance stand, dass ich mir eines schnappen und mir den Weg freikämpfen konnte. Nicht hoch. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass Vincent und Stas vor dem Flur standen, der zur Treppe runter auf die Straße führte. Dann fiel mir Godfried auf, der nicht weit von ihnen entfernt im Schatten saß. Er sah mich an, verzog das Gesicht und nickte mir zu, als wollte er sich für seine Anwesenheit hier entschuldigen.

Guskow trat vor. »Danke, Doktor. Und nun zum Spiel. Sie können die Fortschritte unserer Spieler hier beobachten.« Er zeigte zu einem großen Bildschirm über der Bar. »Wenn es vorbei ist, können alle, die Interesse haben, bleiben und dem Doktor bei der Arbeit zusehen, ohne Extrakosten. Nichts für ungut, Doktor, aber ich werde nicht bleiben.« Er schnitt eine Grimasse. »Ich muss gestehen, ich habe nicht die nötige Konstitution für so etwas.«

Dr. Bernard lächelte dünn und kehrte zu seinem Platz zurück, ließ die medizinischen Instrumente aber auf der Bar stehen. Wo sie auf uns warteten.

Guskow fuhr fort. »Unsere Spieler bilden zwei Teams. Mr. Du Bois und Ms. Weston das eine, Ms. Summers das andere. Das heutige Spiel besteht aus zwei Leveln. Im ersten müssen die Teams – jedes für sich – von einem brennenden Schiff auf dem East River des historischen New York entkommen. Wer als Erstes einen Fuß auf den Boden von North Brother Island setzt, hat das Level gewonnen und bekommt eine Minute Vorsprung. Das zweite Spiel findet auf der Insel statt, wo die Teams direkt gegeneinander antreten. Es ist ein normaler Wettkampf. Wer gewinnt, ist frei und kann gehen. Wer verliert …« Er zeigte zu dem Doktor.

Bernard sah lächelnd zu uns. Ich bekam eine Gänsehaut.

»Aufgrund der Beschaffenheit der Spiele haben die Spieler keinen Zugriff auf Informationen von außerhalb. Sonst wäre es zu einfach.« Guskow machte eine Pause, als müsste er überlegen, ob er alles gesagt hatte.

»Etwas Abschließendes. Ich weiß, die meisten von Ihnen haben Zeit auf den Ausgang der Ereignisse dieser Woche gesetzt. Es ist nicht zu spät, die Einsätze zu erhöhen oder auszusteigen. Oder für all jene, die Zeit bei Mr. Ganzorig und Mr. White verloren haben, ihre Einsätze zurückzugewinnen. Ich habe meinen Geschäftspartner Mr. Godfried dabei, der Buch über die Endergebnisse führt. Sie können bis zum Ende des ersten Spiels Wetten platzieren. Danach wird das Buch geschlossen.« Ich war enttäuscht. Bedeutete das, dass Godfried die ganze Zeit dazugehört hatte? War ich naiv gewesen, ihm zu vertrauen?

»Ich habe es schon gesagt, wiederhole es aber nochmals. Es gibt kein festgelegtes Ende für eines der Spiele. Dass Ms. Summers dies alles ausgeheckt hat, beschert ihr keinen Vorteil. Eine Bedingung, auf die ich von Anfang an bestanden habe, um die Integrität des Wettkampfs zu wahren, lautet, dass beide Teams denselben Risiken ausgesetzt sind.«

Ich war nicht sicher, ob ich das glaubte. Wie verzweifelt hatte Sierra uns loswerden wollen, dass sie sich darauf eingelassen hatte? Oder war sie so felsenfest überzeugt, uns besiegen zu können?

»Genug geredet. Fangen wir an«, sagte Guskow. Er beorderte Vincent und Stas mit einer Handbewegung zu sich, dann wandte er sich an uns. »Sie werden jetzt zu den Spielkabinen geführt. Ich wünsche Ihnen allen viel Glück.«

Ich stehe in der Mitte eines holzgetäfelten Raums. Er ist karg möbliert. Ein Holzbett mit zerwühltem Laken, eine kleine Kommode und ein Schreibpult mit heruntergeklapptem Deckel.

Alex steht neben mir. An der Wand hängt ein Spiegel. Ich werfe einen Blick darauf und sehe eine ältere Version der ursprünglichen Kate darin. Mir wird bewusst, dass sich der Raum bewegt, sich sanft von einer Seite zur anderen wiegt. Ich suche ein Fenster, aber es gibt keines – nur Gemälde an den Wänden.

 

Sie befinden sich an Bord der General Slocum, eines Dampfschiffs, das auf dem East River in New York verkehrt. Es ist Mittwoch, der 15 . Juni 1904 . Eine lutherische Kirchengemeinde hat das Schiff gechartert, um Mitglieder zu einem Picknick auf Long Island zu bringen. Vor zwölf Minuten hat eine weggeworfene Zigarettenkippe ein Feuer im Lampenraum im vorderen Teil des Schiffs ausgelöst. Die Feuerwehrschläuche sind marode, die Rettungswesten mit Eisen und minderwertigem Kork gefüllt. Die meisten Passagiere können nicht schwimmen und werden sterben. Sie können die Ereignisse weder ändern noch jemanden retten. Ihnen bleiben fünfzehn Minuten, um aus diesem Raum zu entkommen und sich selbst zu retten, indem sie Land erreichen.

 

Ich schnuppere, kann aber keinen Rauch riechen, demnach kann das Feuer nicht sehr nah sein.

»Verschwinden wir«, sage ich.

»Ich überprüfe die Tür«, sagt Alex. Er geht hin und zerrt verbissen an der Klinke. »Abgeschlossen.«

»Vergeude keine Zeit damit, sie einzuschlagen. Das wäre zu einfach. Wir müssen den Schlüssel finden. Ich durchsuche Bett und Kommode. Du das Schreibpult.«

Ich ziehe Laken und Decken von dem Bett, sehe aber nichts Nützliches. Alex durchwühlt das Pult hinter mir.

»Ich weiß, wo der Schlüssel ist«, sagt er.

Er hält ein kleines Metallkästchen hoch, das klirrt, wenn er es schüttelt.

»Wie öffnen wir es?«, frage ich.

»Es hat ein vierstelliges Zahlenschloss. Wir müssen die Kombination herausfinden. Oder ich versuche einfach, es aufzubrechen.« Er hält es über den Kopf, damit er es auf die Kante des Pults schlagen kann.

»Nein, mach das nicht«, sage ich. »Es geht nicht auf, und du machst vermutlich den Mechanismus kaputt. Wir müssen die Zahlen finden. Und zwar schnell.«

»Es könnte das Jahr sein«, sagt Alex. »1904

Er macht sich an dem Schloss zu schaffen. »Nein, das ist es nicht. 15 . Juni, also 1506 ? Oder 0615 , da wir in New York sind.«

»Zu offensichtlich, aber versuch es.«

Ich wende mich der Kommode zu. Die oberste Schublade ist leer. Die zweite enthält ein Männerhemd und eine Jacke. Die dritte eine Kladde. Ich ziehe sie heraus, als Alex sagt: »Nein, beides funktioniert nicht.«

Ich gehe mit der Kladde zum Pult und schlage sie auf. Sie ist eng mit Notizen in schwarzer Tinte beschrieben.

»Eine Art Tagebuch«, sage ich. »Von 1903 . Das war letztes Jahr. Aber wir haben keine Zeit, es ganz zu lesen. Wir müssen wissen, um welchen Tag es geht. Sofern nichts Loses drin liegt.« Ich halte es am Rücken hoch und schüttle es, aber es fällt nichts heraus.

»Versuch es mit dem 15 . Juni. Das ist das einzige Datum, das wir haben.«

Ich blättere, bis ich den entsprechenden Eintrag finde. Er ist kurz. Ich lese ihn vor.

 

15. Juni

 

Habe den Tag zu Hause verbracht, da sich Gertrude immer noch nicht von dem Hexenschuss erholt hat. Doktor Mortimer hat während der Visite gesagt, dass eine Besserung eingetreten sei, sie aber dennoch eine weitere Woche Bettruhe brauche. Er hat noch eine Phiole Opiumtinktur zubereitet. Ich habe den ganzen Nachmittag an meinem Artikel über die heimische Apfelschnecke Pomacea geschrieben.

 

Das hilft uns nicht weiter.

»Wie lange haben wir noch?«, frage ich.

»Elf Minuten. Aber wir müssen nicht nur hier raus. Wir müssen vor Sierra auf der Insel sein.«

Ich blättere wahllos durch das Tagebuch, aber da ich nicht weiß, wo ich suchen muss, ist es sinnlos. Dann kommt mir ein Gedanke.

»Nimm dir das Hemd und die Jacke vor«, sage ich und zeige auf den Boden, wo ich sie hingeworfen habe.

Alex hebt sie auf. Er wirft mir das Hemd zu. Die Brusttasche ist leer. Ich taste Kragen und Manschetten ab, doch darin scheint nichts versteckt zu sein. Ich finde ein Etikett: Salvini Brothers, Brooklyn. Auch das hilft nicht weiter.

»Ich hab was«, sagt Alex. Er hält ein zerknülltes Stück Papier in der Hand. »Das war in einer der Taschen.« Er glättet es. »Es ist eine Quittung für ein Paar Stiefel von einem Geschäft in Queens.«

»Steht ein Datum darauf?«

»Sieht wie 9 . November 1903 aus. Sonst sehe ich nichts Interessantes.«

Ich lese den Eintrag dieses Tages.

 

9. November

 

Der Winter kommt früh. Heute morgen war der See zugefroren. Dr. Mortimer glaubt, dass die Nacht Gertrudes Hysterie verschlimmert. Er hat ihr Bettruhe verordnet und gesagt, dass die Fenster auf keinen Fall in der Nacht offen bleiben dürfen. Ich habe Charlotte angewiesen, um ein Uhr und um vier Uhr aufzustehen und das Feuer zu schüren. Mit der Nachmittagspost kam die Mitteilung, dass das Harvard Journal of Molluscan Studies meinen Artikel nicht veröffentlicht. Habe einen anregenden Spaziergang durch den Park gemacht und beim Professor auf einen Brandy reingeschaut, um meinen Kummer zu ertränken.

 

»Das muss ein Hinweis sein«, sage ich. »Wir haben zwei Ziffern hier – eins und vier. Wir brauchen noch zwei. War sonst noch etwas in der Jacke?«

»Nein«, sagt Alex. »Uns bleiben noch sieben Minuten. Wo können wir noch nachsehen?«

»Wirf einen Blick hinter die Kommode und das Pult«, sage ich. »Zieh die Schubladen raus und schau dir die Unterseiten an. Ich krieche unters Bett.«

Da ist nichts. Zusammen ziehen wir die Matratze vom Bett und drehen sie um. Auch da ist nichts, nicht einmal ein Etikett.

Der Raum kippt zur Seite, als hätten wir etwas gerammt. Ich werde durch den Raum zu Alex geschleudert, der mich auffängt. Er hält mich einen Moment fest, bis der Boden wieder eben ist.

Zum ersten Mal höre ich Lärm von draußen – Schreie. Ich rieche Rauch. Das Feuer muss jetzt nah sein. Ich schaue mich um. Gibt es irgendwo im Boden oder den Wänden eine Geheimtür?

Dann geht mir ein Licht auf. »Die Bilder«, sage ich. »Sie müssen es sein. Sieh nach.«

Es sind drei. Beim ersten handelt es sich um ein Stillleben mit Obst in einer Schale. Das zweite ist das Porträt eines jungen Matrosen mit dem Titel General Slocum. Das dritte zeigt eine Frau im Bett, die von einem Arzt im langen schwarzen Mantel behandelt wird.

»Nimm dir die anderen vor, aber ich glaube, es ist das hier«, sage ich. »Es hat mit dem Tagebuch zu tun.«

Ich nehme das Bild der bettlägerigen Dame von der Wand und drehe es um. Und werde enttäuscht. Es befinden sich einige Kohlemarkierungen auf der Rückseite des Rahmens, aber nichts Verständliches. Keine Zahlen.

»Hier ist nichts«, sagt Alex.

»Es muss das hier sein.« Ich drehe es wieder um und suche nach versteckten Zahlen in dem Gemälde.

Die kranke Frau, meines Erachtens Gertrude, sieht mit erschöpfter Miene zu dem Arzt auf. Sie hält ein kleines Buch in der rechten Hand, aber ich kann den Titel nicht lesen, und es stehen keine Zahlen darauf. Der Arzt hält ihre rechte Hand und fühlt offenbar ihren Puls. Er schaut auf die Taschenuhr in der anderen Hand. Eine ungewöhnlich große Taschenuhr. Ich kann die Zeit erkennen: drei Minuten nach fünf.

»Ich hab’s«, rufe ich. »Es ist die Uhr. 5 :03 . Wir haben die vier Zahlen. 1453 . Schnell.«

Alex nimmt das Metallkästchen und fummelt am Zahlenschloss herum. Er ist zu langsam. Ich sehe ungeduldig zu, wie er sich damit abmüht. Er zieht an dem Kästchen, und einen Moment denke ich, ich habe mich geirrt. Dann geht es auf, und er lässt einen Schlüssel in seine Hand fallen.

»Gehen wir«, sagt er. »Wir haben vier Minuten, um das Schiff zu verlassen.«

Er steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn herum und zieht die Tür auf.

Wir betreten ein Chaos.

Rechts von uns wütet ein Feuer im vorderen Teil des Schiffs. Männer schütten Wasser aus Eimern darauf, aber es sieht hoffnungslos aus. Schwarzer Rauch quillt in unsere Richtung. Alle fliehen nach links, zum Heck des Schiffs. Schreie und Gebrüll ertönen, überwiegend auf Deutsch.

Vor uns dreht sich immer noch ein gigantisches Schaufelrad. Durch den Rauch erkenne ich wenige Hundert Meter entfernt eine Insel. Anscheinend steuern wir darauf zu. Das muss unser Ziel sein.

Ein Mann rennt schreiend durch Rauch und Feuer, seine Kleidung brennt. Er läuft zur Reling neben dem Rad und springt darüber. Einen Moment stockt das Rad; ich befürchte, dass er hineingeraten ist. Ich habe recht. Das Rad setzt sich wieder in Bewegung, kurz darauf kommt sein zerquetschter Leichnam hoch und wird auf der anderen Seite wieder im Wasser versenkt.

Mir ist schlecht.

»Komm«, sagt Alex. »Gehen wir von Bord. Wir müssen zu der Insel.«

»Kannst du Sierra sehen?«, rufe ich.

Keine Spur von ihr.

Wir laufen zum Heck des Schiffs, so weit weg von Feuer und Schaufelrad, wie wir können. Wir rempeln uns mit Ellbogen durch die Menge der Passagiere – überwiegend Frauen und Kinder, einige mit Babys. Aber ich weiß, dass das nicht echt ist. Wir sind nicht hier, um sie zu retten. Diese Menschen sind vor langer Zeit gestorben.

Als wir an der Reling stehen, bietet sich uns ein Bild des Schreckens. Im Wasser wimmelt es von Menschen. Einige treiben bereits reglos, Gesicht nach unten. Andere schlagen wie wild um sich und versuchen, nicht unterzugehen. Ein kleines Rettungsboot treibt im Wasser; es ist hoffnungslos überfüllt, Menschen klammern sich auf einer Seite daran fest und drohen, es zum Kentern zu bringen. Ein Seemann steht in dem Boot und versucht, Schwimmende mit einem Ruder wegzuschlagen.

Vor unseren Augen springt eine junge Frau von der Reling und verschwindet unter Wasser. Sie taucht nicht wieder auf.

Ich sehe an mir hinab und betrachte meine Kleidung. Ein schweres, knöchellanges Kleid, das mich unter Wasser ziehen würde, wenn ich ihr folge.

»Darin kann ich nicht schwimmen«, sage ich zu Alex. »Hilf mir, es auszuziehen.«

»Gleich. Wir können hier nicht springen. Die würden uns packen und ertränken. Wir müssen so nahe am Bug springen, wie es geht.« Er nimmt meine Hand und zieht mich gegen den Strom der Passagiere zum vorderen Teil des Schiffs.

Jetzt spüre ich die Hitze des Feuers. Rauch hüllt uns ein, ich muss husten. Meine Augen tränen. Das Schaufelrad dreht sich noch immer, aber jetzt knirscht Holz auf Metall. Alex bleibt stehen. »Weiter können wir nicht. Hier springen wir. Wenn wir auf dieser Seite springen, sollte uns das Rad wegstoßen und nicht anziehen. Schwimm so schnell du kannst drum herum und zu der Insel. Ich glaube, die wollen das Schiff dort an Land steuern, aber wir können nicht abwarten, ob sie es schaffen.«

Ich drehe ihm den Rücken zu. »Hilf mir, das auszuziehen.« Alex fummelt an den Knöpfen am Rücken des Kleides, ich streife es ab. Vermutlich schockiere ich die edwardianische Gesellschaft, aber was ich darunter trage, ist immer noch mehr, als ich für gewöhnlich in der Sporthalle anhabe – Pumphosen, Schlüpfer, Petticoat. Alex sieht mich einen Moment an, wendet sich aber hastig ab, als er merkt, dass es mir aufgefallen ist.

Er streift den dicken Mantel ab, den er trägt, und lässt ihn aufs Deck fallen. »Komm. Gehen wir.« Er nimmt meine Hand, wir steigen auf die Reling. Rechts von uns quietscht das Schaufelrad.

Wir springen gemeinsam.

Das Wasser ist eiskalt und schwarz. Im Sturz verliere ich Alex. Ich kämpfe mich an die Oberfläche zurück und schnappe nach Luft; das Schaufelrad ragt über mir auf. Ich schwimme so schnell ich kann weg von dem Schiff, damit ich nicht angesaugt und zerquetscht werde.

Links von mir ertönt ein Ruf.

»Kate.« Ich schwimme zu Alex und huste eiskaltes Wasser aus; meine Arme und Beine werden müde.

»Alex?«, rufe ich. Dann sehe ich seinen Kopf in den Wellen. Ich ergreife erleichtert seinen Arm, bis mir klar wird, dass ich ihn runterziehe.

»Wohin?«, frage ich.

Einen Moment treten wir Wasser und sehen uns um. Niemand sonst ist in der Nähe, allerdings hören wir Schreie und Rufe von Ertrinkenden. Das Schiff entfernt sich jetzt von uns. Die Insel ist näher. Ich sehe Bäume und ein großes Gebäude.

Wo steckt Sierra?

Alex zeigt zur Insel. Wir schwimmen hin. Sie scheint so nahe zu sein, aber ich weiß nicht, ob meine Kraftreserven ausreichen. Dann zieht etwas an meinem Bein. Einen Augenblick denke ich, es ist einer der ertrunkenen Passagiere, der emporsteigt und mich in die Tiefe ziehen will. Dann verfängt sich auch mein anderes Bein, und mir wird klar, dass ich in Seegras geraten bin. Als ich versuche, mich zu befreien, höre ich einen Aufschrei von Alex. Ich blicke hoch. Wir sind jetzt kaum zwanzig Meter vom Ufer entfernt, aber ich sehe Sierra vor uns durch die Untiefen kriechen und Wasser aushusten. Ich rufe Alex zu, dass er umkehren und mich befreien soll.

Dann bricht Sierra am Ufer zusammen. Als sie sich triumphierend zu uns umdreht, verblasst die Szenerie.

Level eins abgeschlossen. Herzlichen Glückwunsch. Sie sind auf North Brother Island in Sicherheit. Level zwei spielt auf derselben Insel im Jahr 1953 . Es beginnt in zwei Minuten. Als Siegerin von Level eins erhält Ms. Summers einen Vorsprung von einer Minute.

Alex und ich stehen in einem kleinen Zimmer mit grauen Wänden, das kaum Platz genug für uns beide bietet. Wir sind trocken und tragen modernere Kleidung als vorher. Es gibt einen Ausgang, eine Tür mit einem Countdown, der bei »00 :58 « steht.

»Mist«, sagt Alex.

»Wir können sie immer noch besiegen. Wir sind zu zweit, sie allein. Wir müssen sie schlagen.« Ich denke an den Doktor und seine Instrumententasche.

»Du hast recht«, sagt Alex. »Im ersten Spiel, das ich im Park gespielt habe, wurde ich eingefroren und verlor eine Minute. Aber ich habe trotzdem gewonnen.«

Es gibt nichts mehr zu sagen. Alex nimmt meine Hand und hält sie fest. Wir starren gebannt auf die Zahlen des Countdowns. Mir kommt es wie die längste Minute aller Zeiten vor. Alex’ Griff wird fester und fester.

Null.

Wir greifen beide gleichzeitig nach der Klinke und stoßen die Tür auf.

Wir stehen mitten in einer spärlich beleuchteten Krankenstation mit Betten auf beiden Seiten. Die Tür, durch die wir gekommen sind, ist verschwunden. Von Sierra keine Spur.

 

Sie befinden sich im Riverside Hospital, North Brother Island, East River, New York. Sie haben zwanzig Minuten.

 

Zwanzig Minuten wofür? Wir wissen nicht mal, worum es in dem Spiel geht.

Ich sehe mich um. Die Station ist gut hundert Meter lang, mit etwa dreißig Betten, von denen die Hälfte belegt ist. Die meisten Patienten schlafen offenbar. An einem Ende befindet sich eine Tür ohne Markierung, am anderen eine mit der Aufschrift AUSGANG . Vor dem Ausgang steht ein Schreibtisch, an dem eine Schwester sitzt. Über ihr hängt eine altmodische Uhr mit nur einem Zeiger. Er zeigt auf die Zahl zwanzig. Auf einer Seite der Station bieten schmutzige Fenster Ausblick über den Fluss. An der Wand gegenüber befindet sich zwischen zwei Betten eine weitere Tür mit der Aufschrift PROBEN .

Seltsamerweise wimmelt es in der Station von Katzen. Katzen schlafen auf den Betten der Patienten, Katzen haben sich auf Fenstersimsen im Sonnenlicht zusammengerollt, mehrere Katzen laufen auf dem Boden herum. Eine kommt auf uns zu, faucht und läuft weg. Sie sind dünn und ausgemergelt.

»Überprüf die Tür da drüben«, sage ich zu Alex und gehe zu der Krankenschwester. Sie scheint mir die logische Wahl für Nachfragen. Eine Katze schläft auf ihren Unterlagen.

Die Schwester blickt auf, als ich näher komme.

Ich lächle. »Können Sie uns helfen?«

Sie schaut mich an und blinzelt zweimal. »Bringen Sie mir Typhus-Mary«, sagt sie.

»Gut«, sage ich und wende mich den Patienten zu. »Welche von denen ist sie?«

Die Schwester blinzelt wieder. »Bringen Sie mir Typhus-Mary«, wiederholt sie.

Da ist wohl keine Hilfe zu erwarten.

Ich gehe zu Alex zurück.

»Ist etwas hinter der anderen Tür?«, frage ich.

»Nichts Brauchbares«, sagt er. »Ein Innenhof mit Mauer und ein Friedhof.« Er lässt den Blick über die Patienten schweifen. »Nicht gerade der taktvollste Ort dafür, gleich neben der Station. Und da draußen sind noch mehr Katzen.«

»Die Schwester wiederholt immer nur, dass wir ihr Typhus-Mary bringen sollen. Wer das auch sein mag.«

Alex reibt sich das Gesicht. »Ich bin sicher, von der habe ich schon gehört. Du nicht?« Ich schüttle den Kopf. »Warte, ich starte eine Suche.«

»Können wir nicht«, sage ich. »Guskow hat gesagt, dass es keine Verbindung nach draußen gibt.«

»Ich habe definitiv von ihr gehört«, sagt Alex drängend. Er sieht mich an, als könnte er mich irgendwie zwingen, mich auch zu erinnern. »Sie hat eine Seuche übertragen, so etwas in der Art. Vor langer Zeit. Vielleicht wird sie hier behandelt. Das Spiel findet in der Vergangenheit statt.«

»Am Fußende der Betten sind Krankenblätter«, sage ich. »Wir können die Namen überprüfen. Sollte nicht allzu schwer sein. Um die Männer müssen wir uns nicht kümmern.«

»Gut. Du nimmst diese Seite, ich die andere.«

Ich brauche nicht lang, bis ich herausgefunden habe, dass von den fünf Frauen auf meiner Seite keine Mary heißt. Alex ergeht es nicht besser.

Wir treffen uns in der Mitte der Station und überbringen einander die schlechte Nachricht.

»War klar, dass es nicht so einfach sein würde«, sagt Alex. »Wir müssen nachdenken. Jemand, der Typhus-Mary genannt wird, hört sich nicht gesund an. Vielleicht ist sie tot, und wir sollen auf dem Friedhof nachsehen.«

»Was, und der Schwester einen verwesten Leichnam bringen?« Ich erschaudere.

»Wenn du keine bessere Idee hast.«

»Da wäre noch die dritte Tür«, sage ich. »Sehen wir zuerst da nach. Und wo ist Sierra?«

Als wir uns dem Probenraum nähern, geht die Tür auf, und Sierra kommt heraus. Sie sieht sich in der Station um und wendet sich an uns. »Es dürfte euch da drin gefallen. Einer sieht genau aus wie Alex früher. Vielleicht hat Emily ihn so gesehen, wie er wirklich war.«

»Beachte sie gar nicht«, sage ich zu Alex. Ich gehe um sie herum und betrete den Raum.

Er ist dunkel und ohne Fenster. Der Gestank von Formaldehyd dringt mir in die Nase. Regale vom Boden bis zur Decke säumen die Wände. Ein flackerndes Deckenlicht spiegelt sich im Glas. Ich gehe weiter hinein und muss würgen.

Es ist ein Anatomiemuseum. Gläser und Flaschen stehen auf den Regalen, manche sind nur wenige Zentimeter groß, andere halb so hoch wie ich. Körperteile, Föten und aufgedunsene Babys schwimmen darin. Das größte Glas gegenüber der Tür enthält den geschwollenen Leichnam eines Liliputaners oder kleinen Kindes. Ich nehme an, den hat Sierra Alex getauft.

Dr. Bernard würde es hier vermutlich gefallen. Aber sonst wohl kaum jemandem. Als ich an den Doktor denke, fällt mir wieder ein, was auf dem Spiel steht.

»Das ist ekelhaft«, sagt Alex hinter mir. »Aber vielleicht habe ich recht, und Typhus-Mary ist tot und schwimmt in einem dieser Gläser. Wir müssen sie uns ansehen.«

Heftig schluckend gehe ich zum Regal rechter Hand. Ich versuche, so flach wie möglich zu atmen, spüre aber dennoch die ätzende Luft im Hals. Das flackernde Licht fällt auf einen dünnen Glaszylinder mit einem Arm darin, der sich langsam dreht, als würde er mir winken.

Ich muss methodisch vorgehen – und schnell. Ich fange in der rechten unteren Ecke an und arbeite mich an dem Regal entlang. Die meisten Gläser tragen Etiketten, aber manche sind zusammengerollt, verblasst und lösen sich. Überraschenderweise haben mehrere Katzen diesen abstoßenden Raum zu ihrem Heim erkoren. Um an die Gläser zu kommen, muss ich sie aus dem Weg schubsen. Ich streiche die Etiketten glatt und versuche, in dem flackernden Licht die verblasste Schrift zu entziffern. Meist sind es Namen von Körperteilen: Linker Hallux, drei Monate  – darin ein schwimmender Zeh; Lunge, Raucher, dreiundfünfzig Jahre  – darin verschrumpelte schwarze Säcke. Andere enthalten ganze Körper: Fötus, vier Monate  – die gut erhaltenen Details des winzigen Leichnams treiben mir die Tränen in die Augen.

Keine Namen. Einen Moment werde ich ganz aufgeregt, als ich einen ganzen Kopf sehe, der mich von einem höheren Regal anblickt und den Buchstaben »M« trägt. Doch als ich das Etikett glatt streiche, steht da: Männerkopf, zwölf Jahre. Als ich das Glas bewege, löst sich Haut von den Wangenknochen.

Das führt zu nichts. Ich überfliege die restlichen Exponate und treffe Alex beim mittleren Regal, neben dem aufgedunsenen Kind.

Er sieht es kopfschüttelnd an. »Sierra. Sie wird mich Emily nie vergessen lassen.«

»Lass einfach gut sein«, sage ich. »Es ist hoffnungslos. Selbst wenn Typhus-Mary hier drin ist, werden wir sie nicht finden. Versuchen wir es stattdessen auf dem Friedhof.«

Wir kehren auf die Station zurück. Ich bin erleichtert, dass wir den gruseligen Raum hinter uns haben. Sierra geht an den Betten entlang und liest die Patientennamen. Sie sieht uns argwöhnisch nach, als wir zu der dritten Tür gehen. Ich öffne sie, und wir betreten den kleinen Friedhof, der auf drei Seiten von hohen Mauern und auf der vierten von dem Hospital begrenzt wird. Er ist verwildert, die Grabsteine sind mit Flechten überzogen und schief. Manche sind umgestürzt. Grob geschätzt um die fünfzig insgesamt. Sie dürften nicht leicht zu lesen sein. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit.

»Ich nehme die linke, du die rechte Seite«, sage ich. »Wenn wir sie finden, sehe ich aber immer noch keine Möglichkeit, sie zu der Schwester zu bringen. Sollen wir ihren Sarg mit bloßen Händen ausgraben?«

»Finden wir sie zuerst«, sagt Alex und streicht verklebten Schmutz vom ersten Grabstein. »Wir haben nur noch zwölf Minuten.«

Es ist tatsächlich nicht leicht. Viele Inschriften sind völlig unleserlich. Andere Grabsteine sind zerbrochen oder auf die Vorderseite gefallen; ich muss sie umdrehen, um zu lesen, was darauf steht. Selbst wenn ich einen finde, auf dem Marys Name steht, gibt es keine Garantie, dass es der Richtige ist. Die Sache ist hoffnungslos.

Es ist schmutzig und heiß auf dem Friedhof. Etwa auf halbem Weg halte ich inne, wische mir den Schweiß aus den Augen und ziehe mich in den schmalen Streifen Schatten an einer Mauer zurück. Alex kniet im Dreck und hält den Kopf schief, um eine Inschrift zu lesen, als eine wilde Katze sein Bein streift.

Die Tür zum Friedhof geht auf. Sierra blickt heraus. Sie sieht uns ein paar Sekunden zu, dann geht sie wieder hinein und schließt die Tür. Sie denkt eindeutig, dass wir an der falschen Stelle suchen.

Ich lege die Hand an die mit Efeu bedeckte Wand, und etwas darunter fühlt sich lose an. Ich streiche das Efeu beiseite und finde eine Metalltafel, die mit nur einer rostigen Schraube an der Wand befestigt ist. Unter meinen Händen löst sie sich. Ich will sie gerade wegwerfen, als mir der Name »Typhus-Mary« ins Auge fällt. Ich säubere die Tafel.

 

TYPHUS-MARY

 

DIESE TAFEL ERINNERT AN DIE BERÜCHTIGTSTE INSASSIN DES RIVERSIDE HOSPITAL, MARY MALLON (23. SEPTEMBER 1869–11. NOVEMBER 1938). EINE ASYMPTOMATISCHE ÜBERTRÄGERIN DES TYPHUSFIEBERPATHOGENS, DIE IM VOLKSMUND ALS »TYPHUS-MARY« BEZEICHNET WIRD. SIE WAR KÖCHIN, UND MAN GEHT DAVON AUS, DASS SIE FÜR DEN TOD VON MINDESTENS DREI MENSCHEN DURCH EINE TYPHUSINFEKTION VERANTWORTLICH IST. NACH DEM TOD DER ERSTEN PERSON HIELT MAN SIE VON 1907 BIS 1911 IM RIVERSIDE HOSPITAL IN QUARANTÄNE FEST. NACH IHRER ENTLASSUNG ARBEITETE SIE ERNEUT ALS KÖCHIN UND IST FÜR DEN TOD VON MINDESTENS ZWEI WEITEREN MENSCHEN VERANTWORTLICH. 1915 BRACHTE MAN SIE NACH NORTH BROTHER ISLAND ZURÜCK, WO SIE BLIEB, BIS SIE 1938 AN LUNGENENTZÜNDUNG STARB. IHR LEICHNAM WURDE VERBRANNT, DIE ASCHE AUF DEM FRIEDHOF SAINT RAYMOND’S IN DER BRONX BEIGESETZT.

 

Der letzte Satz ist wie ein Schlag in die Magengrube für mich. Wir wissen jetzt, wo sie ist, aber sie wurde nicht hier begraben. Wir vergeuden unsere Zeit. Wir können Typhus-Mary nicht zu der Krankenschwester bringen. Vielleicht sind Körperteile von ihr im Probenraum. Aber mir ist nicht klar, wie wir sie je identifizieren könnten.

»Alex.« Ich rufe ihn und gebe ihm wortlos die Tafel. Er überfliegt sie und sieht mich an.

»Ich hatte also recht. Aber was machen wir jetzt?«, sagt er. »Es ist unmöglich. Uns bleiben nur noch acht Minuten.«

»Es muss die Tafel sein«, sage ich. »An ihrer Stelle. Wir müssen sie wohl zu der Schwester bringen. Etwas anderes können wir nicht tun.«

Die Tür geht auf, Sierra kommt heraus und blinzelt im Sonnenlicht. Ich verstecke die Tafel hinter dem Rücken.

»Was macht ihr da?«, fragt sie. »Seid ihr zu Grabräubern geworden? Habt ihr sie gefunden?«

»Such sie doch selbst, Bitch«, murmle ich, zwänge mich an ihr vorbei und betrete die Station, ohne sie die Tafel sehen zu lassen. Sierra zögert, dann folgt sie uns. Jetzt spielt es keine Rolle mehr, ob sie die Gedenktafel sieht. Wenn ich recht habe, gewinnt die erste Person, die der Schwester die Tafel bringt.

Ich gehe rasch die Station entlang, zwischen den Betten durch und zu der Krankenschwester. Katzen wuseln davon, wenn ich sie passiere, fauchen und machen einen Buckel. Ich höre, dass Alex und Sierra mir folgen. Die Schwester blickt zu mir auf. Ich lasse die Tafel auf ihren Schreibtisch fallen.

»Da ist sie«, sage ich. »Da ist Typhus-Mary.«

Die Schwester betrachtet die rostige Tafel, dann sieht sie mich an und schüttelt den Kopf. »Bringen Sie mir Typhus-Mary.«

»Mehr konnten wir nicht finden!«, brülle ich. »Es ist keine Typhus-Mary hier.«

Sie sieht mich leeren Blickes an. »Bringen Sie mir Typhus-Mary.«

»Was hast du da überhaupt?«, fragt Sierra. Sie greift nach der Tafel. Überfliegt sie. »Schlau. Aber falsch.« Sie dreht sich um und läuft hastig zur Tür des Probenraums. Dort hat sie angefangen. Was ist ihr beim ersten Mal aufgefallen, das wir übersehen haben? Gibt es womöglich irgendwo eine Liste der Proben? Oder ist das nur ein Bluff?

Uns läuft die Zeit davon.

Ich nehme die Tafel und suche fieberhaft nach einer Eingebung. Die Katze, die zusammengerollt auf dem Schreibtisch der Schwester lag, ist durch den Lärm aufgeschreckt worden. Sie steht auf, streckt sich und niest. Haarbüschel bleiben auf den Dokumenten liegen.

Ich wende mich an Alex. Er schaut zur Uhr. »Fünf Minuten«, sagt er mit hängenden Schultern.

»Alex«, sage ich. »Was ist eine asymptomatische Überträgerin?«

Er nimmt mir die Tafel ab und liest selbst. »Das ist jemand, der eine Krankheit in sich trägt, aber selbst keine Symptome hat. Siehst du, hier steht, dass sie an Lungenentzündung gestorben ist, nicht an Typhus.«

»Das dachte ich mir.« Ich hebe die Katze vom Schreibtisch der Schwester und halte sie ihm hin. Sie windet sich und befreit sich aus meinen Händen, an denen Fell kleben bleibt. »Sieh dir diese Katzen an. Die sind alle krank. Echt krank. Etwas hat sie angesteckt. Typhus-Mary ist keine Person, es ist eine Katze. Wir suchen die eine Katze, die gesund ist. Die alle anderen krank macht.«

Alex sieht mich blinzelnd an und scheint nicht überzeugt. »Vielleicht.«

»Wir haben keine andere Idee«, sage ich hektisch. »Entweder das oder nichts. Du siehst hier nach, ich auf dem Friedhof. Mach schnell.«

Als ich mich Richtung Friedhof umdrehe, sehe ich Sierra an der Tür zum Probenraum stehen. Sie hat zugehört. Und sie lächelt mir zu. »Schlau, Kate. Ich danke dir.« Sie geht in den Raum zurück, ich höre Glas splittern. Warum? Weiß sie etwas, das wir nicht wissen? Wenn Typhus-Mary da drin ist, haben wir verloren.

Noch drei Minuten.

Alex läuft durch die Station, zerrt an kreischenden Katzen und achtet nicht darauf, dass er damit Patienten weckt.

Ich laufe die ganze Station entlang, zurück zum Friedhof.

Ich renne von Grabstein zu Grabstein. Mir war nicht klar gewesen, wie viele Katzen hier wirklich sind. Manche haben sich im Efeu an den Wänden zusammengerollt. Ich zerre die kreischenden, um sich schlagenden Tiere heraus und hole mir lauter Kratzer. Aber sie sind alle gleich, ausgezehrt und dem Tode nahe, und sie verlieren Fell.

Ich bin fast am Ende des Friedhofs und reiße Efeu von der Wand. Eine Katze verliert den Halt, fällt herunter, krallt sich an meiner Schulter fest und zerkratzt mir den ganzen Rücken. Ich werfe sie von mir und setze die Suche fort.

Dann drehe ich mich um.

Diese Katze ist nicht weggelaufen. Sie ist auf einen Grabstein gesprungen, sieht mich an und leckt mein Blut von ihren Krallen. Anders als die anderen macht sie einen gesunden, wohlgenährten Eindruck und hat glänzendes schwarzes Fell.

Ich habe Typhus-Mary gefunden.

Jetzt muss ich sie nur noch einfangen.

Ich nähere mich ihr vorsichtig, aber anders als die anderen ergreift sie nicht die Flucht. Als ich sie aufhebe, schmiegt sie sich leise schnurrend in meinen Arm.

Ich halte die Katze fest und laufe durch die Tür. Alex kniet gerade auf dem Boden und sieht unter ein Bett. Er fährt erschrocken herum.

Die Uhr über der Schwester zeigt, dass die letzte Minute angebrochen ist.

Ich sprinte durch die ganze Länge des Raums und drücke der Schwester die Katze in die Arme.

»Da. Hier ist Typhus-Mary.«

Die Schwester nimmt mir die Katze ab, die sich schnurrend auf ihren Schoß legt. Sie nickt. Wortlos zeigt sie zu der Tür hinter ihr.

Ich atme aus – das erste Mal seit Jahrhunderten, so kommt es mir vor. Dann drehe ich mich um.

Sierra steht wieder an der Tür des Probenraums. Schockiert. Angst in den Augen. Sie weiß, was das bedeutet.

Ich gehe an der Krankenschwester vorbei und öffne die Tür. Alex nimmt meine Hand, und wir gehen gemeinsam hinaus.

Level zwei abgeschlossen

Gewinner: Mr. Du Bois und Ms. Bird

Verliererin: Ms. Summers

Godfried ließ mich aus der Spielkabine.

»Gut gemacht«, sagte er. »Das mit der Katze habe ich noch nie gesehen. Es muss neu sein. Ich hab’s nicht geschnallt.«

»Aber ich bin sicher, Sie haben ein hübsches Sümmchen mit meinem Leid verdient«, sagte ich.

»Keineswegs. Der Klub natürlich schon. Ich habe keine Wahl. Hier zählt nur Zeit.« Pause. »Mehr habe ich nicht, wofür ich lebe.«

Ich war nicht sicher, was er damit meinte, aber es war mir auch egal. Er stand auf ihrer Seite. Warum, spielte keine Rolle. »Und was passiert jetzt?«, fragte ich.

»Ich denke, Sie können gehen. Guskow hält immer Wort.« Er verzog das Gesicht. »Ihre Freundin Sierra – nicht so gut. Es werden sicher Leute bleiben und zusehen, aber ich gehöre nicht dazu. Wenn es das ist, was der Doktor immer macht, dann dürfte es Tage dauern und nicht angenehm sein. Ehrlich, ich weiß nicht, warum wir ihn diese Sachen hier machen lassen. Aber unser Boss sagt nie Nein, wenn es Zeit zu verdienen gibt.«

»Der Boss …«, sagte ich. »Also haben Sie mich gestern verarscht, als Sie behaupteten, Sie würden ihm nichts von mir erzählen.«

Godfried zuckte mit den Schultern. »Ich erledige manchmal Jobs für ihn. Gebe Informationen weiter, wenn sie wertvoll sind. Wie schon gesagt, Zeit ist hier alles. Ich wollte Guskow nichts von unserer Begegnung erzählen. Aber Doktor Bernard sagte, er hätte uns gesehen, also blieb mir nichts anderes übrig. Sorry. Kommen Sie – wir gehen besser zurück zur Bar.«

Alex und Sierra waren schon da. Alex kam zu mir und nahm meine Hände. »Kate«, sagte er. »Gott sei Dank. Wir haben gewonnen. Es ist endlich vorbei.«

Sierra stand neben Guskow. Vincent war hinter ihr und hielt sie an den Handgelenken fest. Sie wehrte sich, musste aber auf Zehenspitzen stehen. Angst und Wut flackerten in ihren Augen.

»Verdammte Kate«, sagte sie und spie die Worte förmlich aus. »Bleibst du, um mich sterben zu sehen?«

Ich wollte sie nicht sterben sehen. Trotz ihrer Lügen, trotz Mike und Ben, trotz ihrer Versuche, uns zu töten, war mein vorherrschendes Gefühl Mitleid. Wie konnte es so weit kommen? Auch nach Montreal hatten wir ihr helfen wollen. Wir hatten versucht, ihr zu helfen. Aber sie wollte sich nicht ändern. Eigentlich hätte mir da schon klar sein müssen, dass sie es nicht wollte. Sie kannte nichts außer ihrem eigenen, paranoiden Weltbild. Sie hatte uns immer als ihre Marionetten betrachtet, und in dem Moment, da wir uns nicht mehr ihrem Willen fügten, musste sie uns loswerden.

Dennoch hatte sie nicht verdient, unter den Händen des Doktors zu sterben. Das hatte niemand.

Guskow trat vor und wandte sich an das Publikum.

»War das nicht ein Spaß?«, sagte er. »Leben und Tod und Katzen. Das Ende einer, wie ich hoffe, für Sie alle unterhaltsamen Woche. Herzlichen Glückwunsch an die Sieger Kate und Alex. Sie dürfen gehen. Der unterlegenen Sierra drücken wir unser Bedauern aus. Ich hoffe, es ist ein Trost, dass die Zeit, die der Doktor mit Ihnen verbringt, der medizinischen Forschung dient. Wer von Ihnen bleiben mag, dem steht es frei. Wer eine Wette gewonnen hat, dem wird Godfried seinen Gewinn gutschreiben. Wir melden uns in ein paar Wochen wieder, wenn unsere nächste Unterhaltungsshow bereit ist.«

»Moment«, sagte ich. »Habe ich Ihr Ehrenwort? Alex und ich dürfen gehen?«

Er nickte. »Natürlich. Sie haben gewonnen.«

»Darf ich einen Moment mit Sierra reden?«

Guskow sah mich überrascht an. »Ja. Verabschieden Sie sich, wenn Sie müssen.«

Ich ging zu ihr.

»Verpiss dich einfach«, sagte sie. »Ich brauche dein Mitleid nicht.«

Aber hinter der trotzigen Fassade sah ich, dass sie Todesangst hatte.

»Das ist nicht richtig«, sagte ich. »Es tut mir leid.«

Neben ihr stand die Instrumententasche des Doktors noch offen auf der Bar. Ich griff hinüber und nahm ein Skalpell aus der Tasche. Bevor mich jemand aufhalten konnte, rammte ich es ihr in die Brust, wo ich ihr Herz vermutete. Es stieß auf einen Knochen, meine Hand schmerzte. Ich drückte fester. Es sank tiefer ein. Ich zog es hoch. Sierra keuchte.

Ihre Augen wurden groß. Der Andi ließ sie los. Sie umklammerte meine Arme. Dann betrachtete sie das Skalpell, das aus ihrer Brust ragte. Blut quoll hervor. Plötzlich lächelte sie kläglich.

»Danke«, flüsterte sie.

Sie fiel in meine Arme, ihre Kraft ließ nach. Nasses, klebriges Blut spritzte auf mein Hemd.

Ihre Augen brachen.

Ich sank mit ihr in den Armen nieder.

Jemand packte mich an den Schultern und zerrte mich weg. Sierra fiel mit dem Gesicht voraus auf den Boden. Blut lief unter ihr hervor.

Ich drehte mich wütend um, aber es war Stas, der mich festhielt. Ich konnte mich nicht aus seinem Griff befreien.

Dr. Bernard war aufgesprungen und schrie mich an.

»Das ist falsch! Es ging zu schnell!«, zischte er. »Ich hatte tagelange Experimente für sie vorbereitet.« Er zeigte auf mich. »Ich will sie stattdessen.«

Guskow sah mich an. Dann den Doktor.

»Nein«, sagte er. »Ich habe mein Ehrenwort gegeben. Sie ist frei.«

»Aber sie hat meine … meine Patientin getötet!«

»Ich habe Ihnen die Verliererin versprochen«, sagte Guskow. »Es ist nicht meine Schuld, dass sie nicht lang genug gelebt hat für Ihre kranken Experimente. Sie sind für Ihre Rolle in diesem Spiel bereits reich entlohnt worden.«

Der Doktor ging zur Bar und nahm seine Instrumente. »Na gut«, jammerte er. »Aber erwarten Sie nicht, dass ich jemals wiederkomme.«

Guskow lachte. »Machen Sie sich nicht lächerlich, Doktor. Wir wissen beide, dass Sie nirgendwo anders hinkönnen.«

Er wandte sich an mich.

»Ms. Weston, Mr. Du Bois. Ich schlage vor, Sie gehen, bevor ich es mir anders überlege. Es mag nicht so abgelaufen sein wie geplant, aber es war auf jeden Fall unterhaltsam für meine Gäste. Meine Abmachung mit Ms. Summers ist hiermit zu Ende. Und damit auch unsere Geschäftsbeziehung.«

Er verstummte und betrachtete Sierras reglosen Leichnam. Dann sah er zu Dr. Bernard, der wütend seine Instrumententasche zuklappte und dabei vor sich hin brabbelte.

»Doktor«, rief Guskow ihm zu. »Einen Moment.«

Bernard drehte sich zu ihm um und drückte die Tasche an sich. In seinen Augen leuchtete Hoffnung.

Ich erschrak. Lieferte Guskow uns doch aus?

»Doktor«, sagte er leise, mit amüsierter Stimme. »Gehen Sie nicht so überhastet. Sie haben anscheinend eines Ihrer Messer vergessen.«