Lucas blieb noch eine Weile auf dem Sofa sitzen, fuhr die alte Maschinerie herunter und versetzte sein Betriebssystem allmählich in den Winterschlaf. Das Adrenalin, das ihn durchströmt hatte, weil er wieder im Außeneinsatz gewesen war, sickerte langsam aus seinen Fasern und hinterließ Schuldgefühle. Erin hatte recht – er wäre ein völliger Idiot, wenn er vergaß, was das letzte Mal passiert war, als er mit einer Marke am Gürtel da draußen in der Welt herumgelaufen war.
Als die Zahnräder in seinem Kopf endlich aufhörten, sich zu drehen, war das Feuer zu einer Matte aus Glut heruntergebrannt. Es war kühl in dem Raum, und sein gutes Bein war eingeschlafen. Er packte die Armlehne und zog sich aus dem Sofa hoch. Das einzig Positive, was er über seine Prothesen sagen konnte, jedenfalls über den Arm und das Bein, war, dass sie nie unter Erschöpfung litten. Sie verkrampften sich nie, und sie schliefen niemals ein. Er stand eine Weile da, während das Blut in die kleineren Adern und Kapillaren seines gesunden Beines zurückströmte. Es fühlte sich an, als würde eine Armee aus Ameisen unter seiner Haut entlangmarschieren und sich dabei durch Muskeln, Sehnen und Fleisch beißen.
Er verlagerte sein Gewicht von der Prothese auf das gesunde Bein, als die imaginierten neuralen Insekten ihre Arbeit beendet hatten. Als sie verschwunden waren, ging er durch den Flur in die Küche und goss sich ein Glas Milch aus der Tüte im Kühlschrank ein. Er fragte sich, wie es den Kindern da oben wohl ging, welche Träume durch ihre kleinen unbewussten Universen wehten.
Mit Alisha hatten sie jetzt fünf Kinder im Haus. Es waren alles Kinder, deren biologische Eltern sie im Stich gelassen hatten und die das System aufgegeben hatte. Einige waren aus üblen Heimen gekommen. Andere aus schrecklichen Heimen. Und einige aus gar keinem. Aber irgendwie waren sie wie durch Magie hier gelandet, bei ihm und Erin. Man brauchte kein Diplom in Freudianischer Psychotherapie, um zu begreifen, dass sie beide versuchten, die zerbrochenen Teile ihrer eigenen Kindheit zu reparieren. Nachdem jetzt auch Alisha zu der fröhlichen Rasselbande gestoßen war, schienen sie ihre kritische Masse erreicht zu haben. Sie hatten nicht vor, die Ränge noch weiter aufzufüllen. Jedenfalls hatten sie sich das versprochen.
Lucas zählte die Milchkartons im Kühlschrank, um sicherzugehen, dass noch genug für das Frühstück morgen früh da war. Es war wirklich verblüffend, wie viel Milch Kinder an einem Tag verbrauchen konnten. Es gab noch sechs volle Zwei-Liter-Kartons, also genehmigte er sich ein weiteres Glas. Dann verspeiste er ein Stück trockenen Cheddar, das er ganz hinten im Gemüsefach fand.
Nachdem er die Geschirrspülmaschine ausgeräumt hatte, schnappte er sich einen Apfel aus der großen Schale mit Früchten, die immer auf der Kücheninsel stand, und überprüfte die Hintertür. In Dingos Apartment brannte immer noch Licht, und in jeder anderen Winternacht wäre er hinübergegangen. Dingo war immer für ein Bier und ein kurzes Gespräch zu haben, wenn Lucas nicht schlafen konnte. Aber er musste dringend ins Bett. Nachdem er das Schloss noch einmal überprüft hatte, ging er durch den Flur.
Der Apfel schmeckte, als wäre er gerade aus dem Kühlschrank gekommen. Er blieb stehen und verstellte den programmierbaren Thermostat. Dann inspizierte er die Haustür und ging im Dunkeln die Treppe hinauf.
Kurz hinter dem rosafarbenen Elefanten-Nachtlicht auf dem Treppenabsatz blieb er stehen. Laurie campierte in einem Schlafsack in Alishas Zimmer. Alisha lag mit dem Hund im Bett. Das Zimmer roch nach einer Mischung aus Hundefürzen und Babyshampoo, aber sie wirkte friedlich. Sie hatte Lemmy ins Herz geschlossen, und wenn Lucas etwas wusste, dann dass einem Kind nichts so gut half wie ein großer pelziger Freund, der einem mit Wonne das Gesicht abschleckte. Und Lemmy liebte Kinder, obwohl er wie ein Kampfhund aussah. Das waren seine Gene, eine Mischung aus Deutscher Dogge und Mastiff. Besonders gern mochte er die Kinder, die die meiste Hilfe brauchten. Lucas und Erin hatten beobachtet, wie sich Lemmy Neuankömmlingen näherte, was ihrem eigenen Herangehen half. Die Technik war zwar kein Evangelium, aber Lemmy demonstrierte Instinkte, die oft ans Mystische grenzten.
Dann blieb Lucas auf der anderen Seite des Treppenabsatzes stehen, neben Maudes Schlafzimmer. Sie schlief immer hinter verschlossener Tür, und fürs Erste hatten sie es ihr erlaubt. Immerhin hatte sie zugestimmt, dass Erin einen Schlüssel zu der Tür um den Hals trug. Er hörte ihre Atmung auf der anderen Seite der Tür. Ein gleichmäßiges Rasseln, das irgendwie im Rhythmus mit dem Haus zu sein schien. Das Mädchen war jetzt dreizehn und bereits eine junge Frau. Sie hatte sieben lange Monate in einer Einrichtung im Hinterland verbracht, bevor sie hierhergekommen war. Davor hatte sie bei einer Mittelschichtfamilie auf Staten Island gelebt, ein Ort, den sie so gut wie möglich zu vergessen suchte. Männer flößten ihr immer noch Unbehagen ein, und Lucas verbrachte nie allein Zeit mit ihr. Er wollte nicht, dass sie sich auch nur im Entferntesten unbehaglich fühlte, also wartete er immer darauf, dass sie zu ihm kam. Sie war jetzt zwei Jahre bei ihnen, und er hatte hart gearbeitet, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Allmählich zahlte es sich aus. Als sie sich mit ihr zusammengesetzt hatten, um sie zu fragen, ob sie sie ganz legal adoptieren könnten, hatte sie ihn umarmt, richtig umarmt. Er konnte sich an nichts erinnern, was dieses Gefühl übertraf, nicht einmal dieser erste große Atemzug, als er im Krankenhaus aufgewacht war und ihm ein paar Körperteile gefehlt hatten. Es war einer der größten Erfolge seines Lebens.
Dann sah er nach Damien und Hector, die eingemummelt in ihren Decken schliefen, als gäbe es auf der Welt keine Männer mit Gewehren. Lucas überzeugte sich, dass sie wirklich richtig zugedeckt waren, und drückte beiden einen Kuss auf die Stirn. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Damien ein gereizter Teenager sein würde, und Lucas wollte vor diesem Termin all seine Küsse unterbringen.
In ihrem Zimmer lag Erin bereits unter der Decke, und da Lucas durchgezählt hatte, musste er sich nicht überzeugen, dass sie allein waren. Manchmal schlich eines der Kinder in der Nacht in ihr Zimmer. Für gewöhnlich, wenn sie schlecht geträumt hatten oder vor einem Gerichtstermin oder wenn ein Gewitter über der Stadt donnerte. Aber ab und zu fand er Erin im Bett mit einem kleinen Deckenhügel, der selbst atmete.
Er schloss leise die Schlafzimmertür und schlich ins Bad. Er brauchte eine Dusche, bezweifelte jedoch, dass er sich den Tag einfach so herunterwaschen konnte. Kehoe und seine Welt ließen sich nicht einfach mit irischer Frühlingsseife herunterspülen.
Während er darauf wartete, dass sich das Wasser von seiner Reise aus dem Tank im Keller bis in den zweiten Stock aufwärmte, legte er die Kleidung ab und warf sie in den Wäschekorb. Sie auszuziehen war erheblich einfacher, als sich anzukleiden, aber es kostete trotzdem einige Minuten eingeübter Verrenkungen. Wie üblich waren die Jeans am schwierigsten. Er hoffte, dass die nächste Moderevolution der Jeans mit geradem Bein den Rücken kehrte und vielleicht wieder zu Beuteljeans tendierte. Damit hätte er wenigstens ein paar Jahre Erholung. Es waren die kleinen Dinge, die einen erfreuten.
Als er schließlich nackt war, waberte Wasserdampf durch das ganze Badezimmer. Er nahm seinen Arm ab. Er war erheblich komplizierter konstruiert als sein Bein, und die Flüssigkeit sammelte sich in den Gelenken und konnte Irritationen auslösen. Aber wenn er nicht riskieren wollte, dass er einen Salto durch eine gläserne Dusche machte, brauchte er das Bein.
Er trat in die mit Travertin ausgelegte Nische. Die Wände waren mit so vielen Aluminiumgriffen versehen, dass selbst eine Freeclimbing-Schule zufrieden gewesen wäre. Am Anfang waren sie unerlässlich gewesen, aber da er jetzt sein zweites Jahrzehnt als der Mechanische Mann begann, waren sie einfach nur noch da, weil er keine Lust hatte, das Badezimmer schon wieder zu renovieren. Außerdem verschlechterte sich sein Gleichgewichtsgefühl möglicherweise mit dem Alter wieder. Und älter zu werden schien im Augenblick eine reale Möglichkeit zu sein.
Das Wasser war fast kochendheiß, und er ließ es seinen Rücken verbrennen. Das Narbengewebe brauchte etwas länger, um warm zu werden als der Rest, und als die Wärme langsam durch seinen ganzen Körper sickerte, machte er sich zu seinem mentalen Ausschalten am Ende des Tages bereit.
Nur war das kein gewöhnlicher Tag, in keinerlei Hinsicht. Er konnte einfach das Bild von Doug Hartkes Gehirn nicht abschütteln, das in gefrorenen Brocken überall auf dem Vinyl des Armaturenbretts verstreut war.
Oder Kehoes plumpe Versuche, ihn zurückzuholen.
Lucas waren die Machenschaften des Bureaus nicht fremd, und er erkannte die zutiefst fehlerhafte Geometrie in Kehoes Verhalten. Wenn er etwas über Kehoe wusste, dann, dass der Mann niemals etwas ohne einen bestimmten Grund tat. Es gab immer einen Plan.
Also, was ging hier vor?
Und was erzählte Kehoe ihm nicht?
Scheiß drauf!, dachte er. Es ist vorbei. Du bist draußen.
Als das heiße Wasser seine Muskeln lockerte und der Dampf seine Lungen reinigte, verblasste das Storyboard dieser Nacht allmählich, und er war erneut nur ein Universitätsprofessor, der duschte.
Er drohte in dem warmen Dampf einzunicken, also stellte er die Dusche ab und stand tropfnass da, bevor er aus dieser tropischen Nische trat.
Als er sich abtrocknete, warf er einen Blick in den Spiegel, und seine Augen machten diese seltsame Sache, die jedem Unbehagen bereitete. Sein gutes Auge besaß weiterhin perfekte Mobilität, eines der tausend winzigen Wunder, die in diesem großen Wunder steckten, dass er überhaupt noch am Leben war. Aber die Augenprothese bestand aus ein paar Titaniumklammern und einem wunderschönen keramischen Augapfel, der von einem Künstler in Okinawa handgemacht worden war. Das Problem war nur, dass er sich überhaupt nicht bewegte. Wann auch immer er seine Blickrichtung veränderte, musste er den Kopf drehen. Ansonsten erzeugte dieser Chamäleoneffekt den Eindruck, als würden sich die Leitungen in seinem Kopf überhitzen. Das versetzte etliche Menschen in Panik. Es war ein Partytrick, den er absichtlich nur bei ganz besonderen Gelegenheiten aufführte, aber ab und zu passierte es ihm einfach. Das Ergebnis war für gewöhnlich, dass irgendjemand hastig den Ausgang suchte. Was erklärte, dass er in der Öffentlichkeit gewöhnlich eine Sonnenbrille trug, und zwar sowohl draußen als auch innerhalb von Gebäuden. Lucas verstand sehr gut, dass einige seiner neuen und verbesserten physikalischen Fähigkeiten durchaus unheimlich wirkten, ein ganzes Stück über die allgemeinverträgliche Grenze hinaus.
Er wickelte sich gerade in ein Badetuch, als es leise an der Tür klopfte.
»Ja?« Er redete lauter, als er es um diese Zeit eigentlich tun sollte.
Erin kam herein. Sie trug ihr Flanellnachthemd und hatte ein mürrisches Gesicht aufgesetzt.
»Was?«, fragte er.
»Diese Arschlöcher sind wieder da«, sagte sie, bevor sie das Bad verließ.