Whitaker pflügte sich auf der Grand nach Osten und steuerte den schweren Lincoln mit derselben Kombination aus Leichtigkeit und Aggression durch den immer noch fallenden Schnee, die sie schon auf ihrer Fahrt nach Downtown gezeigt hatte. Graves saß im Wagen vor ihnen. Das Alphamännchen hatte seinen rechtmäßigen Platz eingenommen, aber es war klar, dass Whitaker ihn hätte abhängen können. Das Kommandofahrzeug, Krankenwagen und ein SWAT-Team waren von ihren jeweiligen Zentralen aus unterwegs zum Franklin D. Roosevelt Drive, wo sie nach Norden zum Tram-Terminal an der Sechzigsten Straße Ecke Second Avenue abbiegen würden.
»Was läuft da zwischen Ihnen und Graves?«, wollte Whitaker wissen, als sie den Lincoln schleudernd die Auffahrt hinauflenkte. Sie fing den Wagen geschickt mit Gegensteuern und Beschleunigen ab. »Haben Sie mit seiner Frau geschlafen oder so etwas?«
Draußen in der Welt reflektierte der Schnee das bisschen Licht, das die Skyline überwinden konnte. Es sah später aus, als es war. Morgen war der Einundzwanzigste, und von da an würde jeder Tag im Kalender ein paar Joule Vitamin D mehr bringen.
Lucas beobachtete einen Moment die Begleitfahrzeuge im Rückspiegel, bevor er antwortete. »Graves ist das klassische Beispiel des Dunning-Kruger-Effekts. Wenn er etwas nicht weiß, hält er es auch nicht für wichtig. Wenigstens ist er in seiner Dummheit pflichtbewusst.«
»Na, ein Glück. Und ich dachte, es wäre vielleicht etwas Persönliches.« Sie schüttelte den Kopf. »Und was ist mit Ihnen und Kehoe? Was läuft da?«
»Ich habe den Tod seines Bruders verschuldet.«
Um das zu verdauen, brauchte sie einige Herzschläge. »Sie können es wohl einfach nicht lassen, sich Freunde zu machen, stimmt’s?«
»Ich bin nicht wegen meiner einnehmenden Persönlichkeit hier.«
»Echt jetzt?«
Er widmete sich wieder dem Sturm draußen und hielt es für klüger, einfach den Mund zu halten. Oder vielleicht sollte er ihnen auch einfach nur sagen, dass sie sich verpissen sollten.
Obwohl seit ihrer Fahrt nach Downtown mehr als eine Stunde vergangen war, war der FDR East Drive ebenso verwaist wie der West Side Highway. Die Schneepflüge hatten ihre Arbeit erledigt, aber der Sturm legte immer wieder eine neue Schicht Schnee auf den Asphalt, und es waren nur sehr wenige Autos unterwegs. Statt des üblichen bis zum Horizont reichenden Feldes aus Rückleuchten blinkten nur ein paar rote Lichter durch das Schneetreiben.
Lucas warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett und rechnete. Dreizehn Stunden und zehn Minuten seit dem Mord letzte Nacht. Das war nicht allzu viel Zeit, wenn es derselbe Schütze war. Lucas spürte jedoch bereits, wie sich eine Beziehung zwischen ihm und dem Mann mit dem Gewehr aufbaute; es fühlte sich an wie derselbe Kerl. Ein sich bewegendes Ziel in einem Schneesturm zu treffen schien auf ihren Mann zu deuten.
Lucas ging die dreizehn Stunden und zehn Minuten immer wieder in seinem Kopf durch. In dieser Zeit konnte sehr viel passieren. Aber der Mord an Hartke war keine Demonstration, die die meisten Leute am nächsten Morgen nach dem Aufstehen so einfach wiederholten.
Whitaker verließ den FDR und folgte Graves nach Westen auf der Sechzigsten. Sie fuhren langsamer, da sie den Expressway verlassen hatten. Lucas sah den Zirkus aus Blinklichtern vier Blocks vor ihnen, und Adrenalin durchströmte ihn. Es manifestierte sich in einer schwachen Furcht, dass er vielleicht mit Leuten zusammenarbeitete, die stets die falschen Entscheidungen trafen. Aber der Subtext in Kehoes Verkaufssermon war ziemlich klar gewesen. Lucas war hier, weil er die Dinge anders sah.
Sie kamen mit den anderen Fahrzeugen in ihrem Kielwasser rutschend zum Stehen, und Lucas verließ den Wagen noch vor Whitaker. Das dichte Schneetreiben schien die Welt einen Moment zu verschlingen. Er machte ein paar Schritte und wäre fast gegen Graves gestoßen, der wie ein großer schwarzer Geist vor ihm materialisierte. Hinter ihm tauchte eine Truppe von FBI-Parkas auf, weitere Schattengestalten, aus dem Schnee geboren.
»Sie.« Graves tippte mit einem Finger auf Lucas’ Brust. »Sie folgen mir.«
Die Polizei hatte die Straße abgesperrt, und die Streifenwagen, mit denen der Tatort abgesperrt wurde, mussten etwas weiter entfernt von dem Bahnhofsgebäude der Schwebebahn parken. Es gab einen Pfad, der über den Platz führte, eine tiefe Furche, die von einem der kleinen Bürgersteig-Schneepflüge geräumt worden war.
Das Gebäude selbst war ein Betonklotz, der durch die Statik wie ein altertümliches Internetbild zu Zeiten der Einwahlverbindung auftauchte. Auf einer gesäuberten Stelle in der Nähe des Bürgersteigs stand schräg ein Krankenwagen. Seine Schnauze war halb auf eine Schneewehe hinaufgefahren. Ein Sanitäter saß auf dem Fahrersitz, und der Motor lief. Zwei uniformierte Beamte standen an der Hintertür. Alle sahen aus, als wäre der Buhmann gerade aufgetaucht.
Die Nachrichtenteams belagerten bereits den Tatort, und Lucas sah, dass sie die Entschlossenheit der NYPD-Beamten austesteten, die dafür verantwortlich waren, sie fernzuhalten. Es gab leise Unterhaltungen, ein paar lautstarke Auseinandersetzungen, und ein Kameramann an der Ecke sah aus, als wäre er nur noch ein böses Wort davon entfernt, erschossen zu werden.
Die Scharfschützen der Polizei hatten sich verteilt. Immerhin gab es Grund zu der Annahme, dass der Killer noch mehr Wild aufscheuchen wollte.
Lucas folgte Graves die Betonstufen hoch und hielt sich an dem Geländer fest, als er zwei Stufen gleichzeitig mit seinem gesunden Bein und eine mit seiner Prothese hinauflief. Ein Polizeibeamter in einem Dienstparka und einer AR-15 stand auf dem Treppenabsatz am Ende der Treppe. Sein Gesicht hätte sich gut am Bug eines Wikinger-Drachenbootes gemacht. Auf seinem Namensschild stand Sorenson, und sein großer Schnauzbart war entweder hellblond oder grau und von gefrorenem Schweiß überzogen.
Graves zückte seine Marke und nickte kurz. »FBI.«
Sorenson nickte. »Man hat Sie schon angekündigt.« Er gab einen kurzen Bericht, während er die Tür öffnete. »Ein Passagier in der Tram von Roosevelt Island wurde erschossen. Es waren zwei Beamte mit ihr in der Gondel, aber sie konnten nichts machen. Es wurde alles aufgenommen.«
Graves sah Lucas an, stellte die Frage jedoch Sorenson. »Eine Frau?« Das Ich habe es ja gesagt in seiner Stimme war schwer zu überhören.
»Ja, Sir.«
Die Szene oben war so organisiert, wie man nur hoffen konnte. Die Passagiere warteten in der Ticket- beziehungsweise Wartezone des Bahnhofs, gaben ihre Aussagen zu Protokoll, und jede Menge Atemwolken stiegen in die eiskalte Luft. Das leise Brummen des Schocks war das einzige Geräusch, das die Zeugen von sich gaben. Sie sahen aus wie abgewiesene Modelle für Degas’ L’Absinthe. Ein Haufen Handys lag auf einer Plane am Boden. Wenn der Pöbel die Sozialen Medien fütterte, konnte das jede Ermittlung zerstören. Vor allem, wenn ein Video aus dem Kontext genommen wurde. Ohne Fakten oder die richtige Perspektive verurteilten herdendenkende Eiferer häufig unschuldige Leute mit ihrer ad-hoc-Entschlossenheit, irgendjemandem die Schuld anzuhängen.
Sorenson führte Graves, Lucas und Whitaker durch das Drehkreuz zu der Tram-Gondel, die in der Bucht hing. Zwei weitere Officer mit AR-15 s standen daneben. Ein weiteres Paar von Beamten stand etwas weiter links. Sie waren beide vollkommen blutbespritzt und wirkten bedrückt.
Die Ausstattung der Gondel schien direkt aus dem Schlachthof zu stammen. Die Türen waren geschlossen, aber man konnte sofort sehen, dass jemandes allmorgendliche Pendlerfahrt zur Arbeit in die City unwiderruflich vermasselt worden war. Die vordere Scheibe hatte ein faustgroßes Loch etwa in der Höhe von fünf Fuß, und ein anderes Loch fand sich in der Heckscheibe. Das zerbrochene Glas war blutbespritzt, und die Risse waren geschwärzt. In einer großen dunkelroten und mit Fuß- und Handabdrücken verschmierten Pfütze lag eine Leiche. Der Parka, den sie trug, war einmal weiß gewesen.
Sorenson bedeutete den beiden erschütterten Polizisten, vorzutreten. Sie hießen Bolan und Washington. Beide taten Dienst im Sechsundzwanzigsten Revier.
Washington übernahm das Reden. »Ja, Sir?«
»Das hier ist Special Agent Graves vom FBI.«
Nachdem die Vorstellung erledigt war, machte Graves sich an die Arbeit. »Was ist passiert?« Er deutete mit dem Kopf zu der Gondel.
Washington schaltete in den Abruf-Modus. »Sie stand vorne mit dem Gesicht nach Westen. Mein Partner und ich standen links von ihr und haben gequatscht. Etwa auf halber Strecke haben wir uns eine Gewehrkugel durch die vordere Scheibe eingefangen. Sie traf sie direkt ins Gesicht. Die Kugel ist durch ihren Kopf durch- und durch die hintere Scheibe des Waggons rausgeflogen. Alle anderen hat sie verpasst. Es hat geknallt, und dann floss das Blut in Strömen.« Er hob die Hände, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie waren mit abblätternder roter Farbe bedeckt. »Die Zivilisten sind ausgerastet. Die Frau war tot, noch bevor sie auf dem Boden landete.« Er warf einen Seitenblick zu der Gondel. »Ich habe den Vorfall fünfunddreißig, vielleicht vierzig Sekunden nach dem Schuss gemeldet. Alle anderen lagen auf dem Boden, schrien und heulten. Wir alle dachten, wir wären so gut wie tot.« Er blickte zum Fluss, über dem der Sturm toste. »Als wir hier ankamen, waren unsere Kollegen schon da.« Man hörte das Geräusch weiterer Sirenen, die das Heulen des Windes in dieser Betonbucht übertönten.
Lucas blickte auf den abgeschlossenen Tatort. Das Wetter hatte wahrscheinlich einigen Leuten das Leben gerettet. Jeden anderen Tag wäre die Gondel bis zum Anschlag voll gewesen, und eines dieser schicken panzerbrechenden Geschosse hätte ein halbes Dutzend Schädeldecken zertrümmern können.
Hinter ihnen tauchte die Spurensicherung auf. Sie hatten so viele wasserdichte Plastikkisten dabei, dass sie für die Instrumente eines kompletten Orchesters gereicht hätten. Sie wurden von weiteren Bundesagenten flankiert.
Graves bedankte sich bei den beiden Polizisten, sagte ihnen, dass einer der Agenten ihre Aussagen aufnehmen würde, und führte Lucas dann zu der Tram-Gondel.
Aus der Nähe betrachtet war dieses mörderische Kunstwerk noch beunruhigender. Die Beine des Opfers waren in diesem sonderbaren Winkel gespreizt, an den sich alle, die genug Zeit mit Toten verbrachten, allmählich gewöhnt hatten.
Lucas ignorierte Graves Getue so gut er konnte, aber der Mann ließ nicht locker. »Hartke speziell oder Amerikaner allgemein? Wie ich schon sagte, Hartke war ein willkürliches Opfer. Vor allem, da das nächste Opfer eine Hausfrau von Roosevelt Island ist. Ich habe mich vielleicht geirrt, was ihren Wohnort angeht, aber es läuft auf das Gleiche hinaus.«
Lucas holte tief Luft und wartete darauf, dass Graves sich sein Loch zu Ende grub.
»Will man Ihrer Theorie Glauben schenken, ist es selbstverständlich möglich, dass der Schütze auf einen der beiden uniformierten Beamten gezielt hat, die neben ihr standen.« Graves’ Sarkasmus wurde durch die Lautstärke des Triumphs verstärkt. »Aber das glaube ich eher nicht.«
»Ich auch nicht.« Lucas hockte sich hin und schob mit seinem Aluminiumfinger den unteren Rand des einst weißen Mantels zurück. Eine Pistole war in einem Druckholster an ihrem Gürtel befestigt, direkt neben einem Abzeichen der Bundesbehörde für Alkohol, Tabak, Feuerwaffen und Sprengstoffe. Beides war mit Blutfäden dekoriert. Lucas stand auf und trat zur Seite, damit die Rechtsmediziner sie wegbringen konnten, bevor sie zu einer Fleischbrezel gefror. »Aber Sie liegen trotzdem falsch.«