50

UPPER EAST SIDE

Whitaker wuchtete den SUV um die letzte Ecke. Trotz des Vierrad-Antriebs schleuderte sie über drei Spuren. Auf dem Scheitelpunkt des Bogens fegte das Heck des Wagens durch eine Schneewehe und erwischte einen Postkasten. Er flog mit einer lautstarken Präsentation von Newtons Drittem Gesetz durch die Luft. Der blaue Metallbehälter landete an einem Laternenpfosten und wickelte sich wie eine nasse Socke darum.

Sie donnerte die Straße hoch und steuerte den Wagen ungebremst auf den Bürgersteig, wobei sie eine Familie von Mülltonnen auslöschte.

Das Haus lag im Dunkeln. Lucas sah nur die Notleiter aus einem Fenster hängen. Sie schwankte im Wind wie eine isolierte Wirbelsäule, die nicht wusste, dass sie nicht mehr lebendig war. Er sprang auf den Bürgersteig, noch bevor der Wagen zum Stehen kam. Er machte jedoch nur einen einzigen Schritt, als Erins Stimme die Schreie in seinem Kopf durchdrang. »Luke!«

Er fuhr in die Richtung ihrer Stimme herum und hätte fast sein Gleichgewicht verloren, als er den Knöchel seiner Prothese auf dem Eis übermäßig belastete.

Erin war zwei Häuser von ihm entfernt. Offenbar wollte sie zu dem Markt an der Ecke Madison. »Luke!«, schrie sie. »Lauf!« Wie ein Runningback drückte sie ein Bündel an die Brust, bei dem es sich nur um Alisha handeln konnte.

Lucas duckte sich hinter einem Schneehügel, unter dem sich wahrscheinlich ein Auto verbarg, und beschleunigte seine Schritte mit seinem spezifischen hüpfenden Gang. Erin packte ihn und zog ihn zu sich und Alisha, wobei er fast seinen Halt verlor. Sie schluchzte und zitterte, und er versuchte, sie zu Whitakers SUV zu ziehen.

Erin wollte zur Ecke. »Die Kinder! Sie sind im Markt!«

»Meine Kinder sind im Markt an der Madison!«, schrie Lucas Whitaker zu.

Die zog ihre Pistole und rannte die Straße entlang zu der Ecke.

Lucas packte Erin fester. »Was ist passiert? Was geht hier vor?«

»Zwei … zwei Männer!«, stotterte Erin. »Mit Maschinengewehren. Ich glaube, D … Dingo hat einen getötet, aber dann gab es Schüsse und …« Ihre Rede stockte, als hätte ihr Reader eine Fehlfunktion. Lucas registrierte plötzlich, dass sie nur ihren Bademantel und Hausschuhe trug.

»Ist noch jemand im Haus?«

»Ich … Ich weiß es nicht.« Erin schüttelte den Kopf. »Dingo!«, entfuhr es ihr dann. »Dingo ist noch da!«

Lucas packte ihre Schultern und schob sie in Richtung Markt. Er wollte ihr gerade einen Stoß in diese Richtung versetzen, als der Van vom Einsatzteam um die Ecke bog. Zwei Streifenwagen hingen an seiner Stoßstange. Als die Begleitfahrzeuge über die Straße rasten und in dem noch nicht geräumten Schnee bedenklich schlingerten, verwandelten die rot-weißen Lichter die Nacht in einen epileptische Anfälle auslösenden Tunnel.

Lucas deutete zur Ecke Madison. »Ich hole Dingo. Du musst …«

Die Vordertür des Hauses flog auf. Die Eiche knallte gegen den Sandstein, und das Buntglasfenster zerbarst. Ein Mann taumelte heraus … Detective Michael Atchison. Schwarzes Blut quoll in einem Rinnsal aus seinem Mund.

Eine etwa einen Fuß lange eiserne Schwertklinge ragte aus seiner Brust hervor, und er hatte ein Sturmgewehr in den Händen.

Er sah Lucas. Und Erin. Wie ein Betrunkener richtete er die mörderische Mündung auf sie. Es sah abgehackt aus wie in einer Zeitrafferaufnahme.

Lucas hörte, wie der Van mit dem Einsatzteam hinter ihnen rutschend zum Stehen kam. Aber sie kamen zu spät. Alle kamen zu spät. Dieses Arschloch würde sie erledigen.

Lucas schlang seine Arme um Erin und wollte sich umdrehen.

Die Türen des Van wurden aufgerissen, und Lucas konnte nur noch hoffen.

In diesem Moment hörte er das Pfeifen. Ein Überschall-Puls, der die Luft in einem kräftigen hohen Pfeifen bog.

Einen winzigen letzten Moment hatte Atchison sie noch vor der Mündung.

Und dann, als hätte Satan ihm einen dicken feuchten Kuss gegeben, verschwand Atchisons Kopf.

Sein Körper wurde wie von einer gewaltigen Faust durch die Tür zurückgeschleudert und landete auf dem Boden, ein Fuß noch auf der Schwelle.

Eine Sekunde lang herrschte fast erstauntes Schweigen, das Erin mit ihrem Schrei brach, im selben Moment, als der laute Knall des Schusses sie erreichte.

»Heckenschütze! Heckenschütze!«, brüllte jemand.

Lucas zog Erin herunter und schob seinen Körper über sie und Alisha.

Und warte darauf, dass ein Schuss seine Welt auslöschte.