Ich gehe doch in die Mensa. Habe keinen Bock, Geld für den Kiosk auszugeben. Wenn ich kurz vor knapp komme, sind die meisten Leute eh schon wieder weg. Zum Glück haben die niedrigen Klassenstufen eine Stunde vor uns Mittagspause.
»Wir geben nach halb kein Essen mehr aus«, schnauzt mich der alte Drache bei der Ausgabe an.
»Ich musste noch was nacharbeiten und habe es nicht früher geschafft.«
Mann, was denkt die Alte, wer sie ist? Kann ihr doch egal sein, wann ich zum Essen komme! Die Mensa ist bis zwei geöffnet, ich habe noch volle zwanzig Minuten.
»Vorschrift ist Vorschrift.« Sie zuckt mit den Schultern und dreht sich weg.
Hallo?
»Soll ich jetzt verhungern, oder wie?«
»Du kannst ja rüber zum Kiosk gehen«, blafft sie mich an.
Ekelhafter alter Drache! Ich trete ihr gleich gegen die Ausgabetheke, ich …
»Gib ihr noch was, Anne.« Ein breitschultriger blonder Typ erscheint im Türrahmen zur Küche.
Sebastian Hachenbach, mein Retter in der Not! Okay, mit dem großen Messer in der Hand sieht er gerade ein kleines bisschen scary aus. Ich an Annes Stelle würde mal lieber tun, was er sagt. Sie schaut ihn kurz an, zuckt wieder mit den Schultern und murmelt etwas, das klingt wie Narren gefressen und verwöhnte Gören. Haha, da sieht sie mal, was sie davon hat, wenn sie Dienst nach Vorschrift macht! Ich lächle in Sebastians Richtung, aber er ist schon wieder in der Küche verschwunden.
»Hier!« Der alte Drache knallt mir einen Teller Nudelauflauf hin.
»Oh, vielen Dank!«, sage ich mit meiner allerhöflichsten Stimme und mache einen Knicks.
»Jaja, lass mir meine Ruhe!« Sie dreht sich um und sieht das breite Grinsen in meinem Gesicht leider nicht mehr.
Ich suche mir einen Platz, um den herum alle Tische frei sind. Damit keiner der Idioten hier auf die Idee kommt, mich anzusprechen. Wenigstens ist Sebastian da. Vielleicht habe ich eine Chance, mit ihm zu reden. Später. Mein Blick streift Elise, die auf der anderen Seite mit ihren beiden Sidekicks an einem Tisch sitzt, mit Janus, Cedric und den ganzen Skaterboys. Das war’s dann. Kann Sebastian mir bitte das große Messer leihen? Wenn meine Mutter jetzt wegen den beiden Idioten denkt, dass ich Drogen nehme, kill ich sie. Schönen Dank auch!
Cedric bemerkt meinen Blick und nickt in meine Richtung. Für einen Moment sehen auch Janus und Elise zu mir. Ich umklammere die Gabel wie eine Waffe und kneife die Augen zusammen. Sie wenden sich ab. Feiglinge!
Schnaubend ramme ich die Gabel in den Nudelauflauf und schaue dem alten Drachen beim Putzen der Ausgabetheke zu. Wenn Vivien nicht gewesen wäre, hätte ich mit Sebastian wahrscheinlich nie mehr als fünf Worte gewechselt, und er hätte jetzt den Drachen nicht dazu gebracht, mir noch etwas zu essen zu geben. Das hat schon bei unserer Praktikumswoche angefangen, oder? Mann. Ich will jetzt nicht an Vivien denken.
»Wie war dein Name noch mal?«, fragte Sebastian mich.
Was hatten wir vor ’nem Jahr noch für einen Respekt vor ihm, Vivien und ich. Er ist ein Muskelpaket, und ein paar Leute behaupten, dass er mit seinem Motorrad schon einmal um die ganze Welt gefahren ist. Obwohl er gerade mal dreiundzwanzig oder vierundzwanzig ist. Und er ist cool. Mit dem Dreitagebart und dem Schlangentattoo an seinem durchtrainierten Oberarm.
»Nora.« Ich sah ihm direkt in die hellblauen Augen.
So schnell ließ ich mich trotzdem nicht einschüchtern.
»Okay, Nora. Du schneidest die Karotten, und Vivien schält die Kartoffeln.« Er hielt mir den Griff von einem der scharfen Küchenmesser hin und drückte Vivien einen Gemüseschäler in die Hand.
»Ey! Warum darf ich nicht schneiden?«, fragte sie.
Er musterte einen Moment lang ihre große Sonnenbrille und schüttelte den Kopf. »Nicht mit dem Ding im Gesicht.«
»Was? Warum?« Vivien stemmte die Hände in die Hüften.
Ich drehte mich schnell weg. Sonst hätte sie das Grinsen in meinem Gesicht gesehen und wäre ganz sicher sauer geworden.
»Weil du dir so innerhalb von fünf Minuten den Finger abschneidest.« Er ging zur Spüle und füllte eine Salatschüssel mit Wasser.
»Von wegen! Ich bin Meisterin im Blind-schneiden!«
Sebastian zog die Augenbrauen hoch, und Vivien musste lachen.
»Bestimmt. Du schälst trotzdem die Kartoffeln. Wenn du in dieser Woche irgendetwas schneiden willst, musst du die Brille abnehmen. Kapiert?«
»Ich habe das im Griff«, widersprach Vivien.
Sie ließ sich nie etwas sagen, von niemanden.
»Ach ja?« Sebastian wandte sich noch nicht einmal zu ihr um.
»Ja. Wie wäre es, wenn du mich einfach machen lässt?«
»Viv …« Ich schaute über die Schulter.
Es war garantiert keine gute Idee, Sebastian schon am ersten Tag gegen uns aufzubringen. Echt nicht.
Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. »Also?«
Er sah sie durchdringend an. Fast so, als wollte er hinter den Brillengläsern ihre Augen erkennen.
Dann stellte er die Schüssel vor ihr auf den Tisch. »Wirf die geschälten Kartoffeln hier rein.«
Ohne ein weiteres Wort ging er zur Hintertür hinaus, lehnte sich gegen sein Motorrad und zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche.
»Bist du jetzt völlig durchgeknallt?«, fragte ich leise.
»Mhm.« Vivien stand ganz still und beobachtete, wie Sebastian sich eine Zigarette anzündete.
Ein Scheppern reißt mich aus meinem Tagtraum. Ich zucke zusammen und starre auf ein Schälchen Mousse au Chocolat, direkt vor mir.
»Du siehst so aus, als könntest du das gebrauchen.« Sebastian nickt mir zu, legt einen Löffel vor mir ab und nimmt den noch halb vollen Teller mit dem Nudelauflauf mit.
Blinzelnd sehe ich mich um. Die Mensa ist leer. Wie lange habe ich vor mich hin geträumt? Vivien. Mist, es fühlt sich an, als wäre sie gerade noch hier gewesen. Dabei ist sie seit zwei Tagen verschwunden. Ohne jede Spur. Ich tauche den Löffel in die Mousse au Chocolat. Gab es heute nicht einen Apfel zum Nachtisch?
Sebastian wischt die Tische ab. Von dem alten Drachen ist nichts mehr zu sehen. Extra Nachtisch. Das hat sonst nur Vivien von ihm bekommen. Vivien, immer wieder Vivien.
Es war keine zwei Wochen später. Vivien und ich hatten uns in der Mensa festgesessen, weil wir über einem Referat brüteten. Außer uns saß noch eine Gruppe Mädels aus der Zwölften an einem der Nebentische. Sie waren damit beschäftigt, jede von Sebastians Bewegungen zu beobachten und zu versuchen, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Ich weiß noch genau, wie still es am Nebentisch wurde, als er mit zwei Schälchen Crème brûlée aus der Küche direkt auf uns zukam.
»Hier, Nervennahrung«, erklärte er und stellte sie vor uns ab.
Er sah dabei nur Vivien an.
Die strahlte unter ihrer Sonnenbrille. Der weiße Hut lag neben ihr auf dem Tisch. »Wow, vielen Dank!«
Er nickte uns zu. »War noch übrig von letzter Woche und muss weg.«
Die Mädels am Nebentisch fingen an zu tuscheln, aber wir ignorierten sie.
»Darf ich dich adoptieren?«, fragte Vivien.
Sebastian zog die Augenbrauen zusammen. »Dafür bist du ungefähr zwanzig Jahre zu spät dran.«
»So doch nicht! Als großen Bruder. Ich könnte einen gebrauchen. Einen, der sich gut um seine kleine Schwester kümmert«, sie hob grinsend die Crème brûlée hoch, »und so cool ist, dass mich alle beneiden.«
»Stellt die Schälchen dann auf den Tresen.« Sebastian zuckte mit den Schultern und drehte sich weg.
Aber nicht schnell genug. Wir sahen beide das Lächeln, das ganz kurz über sein Gesicht huschte.
»Gib’s zu, du bist verknallt«, flüsterte ich, nachdem er wieder in der Küche verschwunden war.
»Nora, du spinnst! Wenn ich könnte, würde ich meine Eltern wirklich dazu bringen, ihn zu adoptieren. Er wäre der allercoolste große Bruder.« Sie beugte sich zu mir. »Macht dich das nicht fertig, wenn er dich mit völlig ausdruckslosem Gesicht und diesem stechenden Blick ansieht?«
»Quatsch. Er ist einfach nur ernst.«
Vivien hatte immer schon einen Hang zur Übertreibung.
»Okay, okay. Aber stell dir vor, er wäre auf unserer Seite. Stell dir vor, er würde jeden, der uns nervt, mit diesem Killerblick niederstarren.«
Ich verdrehte die Augen und schob mir einen Löffel Crème brûlée in den Mund. Von mir aus konnte Sebastian mit seinem Killerblick ansehen, wen er wollte. Solange er uns weiter mit Nachtisch versorgte.
»Er hat keinen Killerblick. Außerdem ist er sowieso schon auf deiner Seite, und bestimmt würde er dich auch sofort als seine kleine Schwester adoptieren. Zufrieden?«
»Jupp!« Vivien verzog den Mund zu ihrem typischen Vivienlächeln.
So wie sie immer lächelt, wenn sie gewonnen hat.
»Geht’s dir jetzt besser?« Sebastian steht genau vor mir, ich habe ihn nicht kommen sehen.
Mann, Nora, hör auf zu träumen!
Ich nicke, auch wenn es mir nicht besser geht. Kein Stück. Er setzt sich mir gegenüber an den Tisch und sieht mich an. Killerblick, würde Vivien jetzt wieder sagen. Aber das stimmt nicht. Er sieht mich ganz normal an. So wie immer. Okay, mit diesem Blick würde er locker die Hauptrolle für einen Revolverhelden beim Duell bekommen. Aber er kann ja nichts für seinen Gesichtsausdruck.
»Die Polizei war hier. Sie suchen nach Vivien«, sage ich.
Ich muss mit jemandem reden, sonst platze ich. Und er ist mit Abstand der Normalste in der ganzen Schule. Jetzt, wo Vivien nicht mehr da ist.
»Ich weiß. In der Küche waren sie auch. Sie haben auch fast alle Lehrer verhört.«
Verhört. Das klingt, als wäre die ganze Schule verdächtig. Aber was sollen die Lehrer bitte mit Viviens Verschwinden zu tun haben? Sie war ja nicht einmal hier, als sie untergetaucht ist. Bin ich auch verdächtig? Und Janus? Oder Elise?
»Ihr hattet nicht mehr so viel miteinander zu tun in der letzten Zeit.« Es ist eine Feststellung, keine Frage.
Trotzdem schüttle ich den Kopf. Nein, hatten wir nicht.
»Was war los?«
»Wir hatten einen Streit.« Mit dem Löffel kratze ich in dem leeren Glasschälchen herum.
»Wegen dem Skater?«
Ich zucke mit den Schultern. War es so offensichtlich? Wahrscheinlich. Die ganze Schule hat es mitbekommen, zumindest fühlt es sich so an. Okay, außer Janus’ Fanclub hat sich bisher keiner dafür interessiert.
»Was glaubst du, was mit ihr ist?«, fragt Sebastian weiter.
Ich schaue auf, direkt in seine hellblauen Augen. Ist er besorgt? Sollte er auch sein. Er hat ganz schön versagt als großer Bruder. Von wegen beschützen. Ich habe auch versagt. Nein, vor allem ich. Woher hätte er wissen sollen, was mit Vivien los war? Ich hätte mich bei ihr melden müssen. Aber klar, beleidigt sein, war ja viel einfacher!
»Ich weiß es nicht«, antworte ich und bin selbst überrascht, wie fest meine Stimme klingt. »Aber ich werde es herausfinden!«
Um jeden Preis. Ich schwör’ es dir, Vivien. Bei meinem Vater!