Wo ist dieser verdammt Brief? Ich habe ihn doch nach ganz hinten gesteckt. Warum ist er da nicht? Der halbe Inhalt der Tasche liegt schon auf dem Teppich verteilt. Da! Wie kommt er bitte in das Mathebuch? Egal. Hauptsache, er ist noch da. Ich schiebe ihn unter das Kopfkissen. Nur für den Fall, dass meine Mutter reinkommt. Heute Nacht darf ich ihn nicht vergessen. Ich will nichts riskieren.
Klar.
Ich riskiere gerade alles. Cedric und Janus könnten recht haben, und wer immer uns diese verdammten Briefe schreibt, will sich an uns rächen. Oder an mir. Mal ehrlich. Ein Treffen alleine im Park, das schreit nach Falle.
Irgendetwas ist faul, aber das ist egal. Solange ich die Wahrheit erfahre, ist mir alles egal.
Liebe Mama,
wenn du das liest, ist etwas verdammt schiefgegangen.
Sorry.
Ich weiß, ich hätte mit dir reden sollen, und hundertpro hättest du mir gesagt, dass ich zur Polizei gehen muss. Aber wenn ich das gemacht hätte, hätte ich die Chance vertan, Vivien vielleicht doch zu finden.
Das hört sich total bescheuert an, und wahrscheinlich macht es noch nicht einmal Sinn, aber ich muss das durchziehen.
Jemand hat mir heute Morgen einen Brief hinterlegt und darin versprochen, mir zu sagen, was mit Vivien ist. Unter der Bedingung, niemandem von diesem Brief zu erzählen und heute Nacht allein zum Spielplatz in den Stadtpark zu gehen. Den Brief soll ich mitbringen. Ich bin nicht doof, ich weiß, dass es darum geht, alle Spuren zu verwischen. Aber ich will, dass du weißt, was passiert ist. Nur falls ich nicht mehr zurückkomme, weil es eine Falle war.
Drei Tage nach Viviens Verschwinden habe ich den ersten Brief erhalten, und nach und nach haben Janus, Adrian und Elise auch einen bekommen. Meinen habe ich in die obere Schreibtischschublade gelegt. Es ist der mit der roten Schablonenschrift auf dem Umschlag. Bitte lies ihn nicht. Gib ihn direkt der Polizei. Okay? Sag ihnen, dass sie beim Spielplatz nach mir suchen sollen. Wenn etwas schiefläuft, versuche ich, eine Spur zurückzulassen.
Mama, falls sie mich nicht mehr finden: Es ist nicht deine Schuld. Du hast dich um mich gekümmert, so gut es ging. Ich weiß das.
Du kannst Papa nicht ersetzen, aber du hast immer versucht, für mich da zu sein. Das war genug, auch wenn ich so getan habe, als ob es nicht genug wäre.
Ich weiß auch, dass du lieber eine glückliche Tochter gehabt hättest, eine wie Vivien. Und selbst wenn es nie so gewirkt hat, ich habe mich bemüht. Ehrlich. Ich wollte, dass du dir keine Sorgen und keine Vorwürfe mehr machen musst. Aber es ging nicht. Ich konnte nicht auf Kommando glücklich sein.
Wenn die Polizei mich nicht findet, bin ich vielleicht bei Papa. Das wäre okay. Dann passe ich mit ihm gemeinsam auf dich auf, wo auch immer wir dann sind.
Ich will, dass du glücklich bist, und ich schätze, Papa hätte das auch gewollt. Ohne mich hast du wenigstens die Chance, noch einmal von vorn anzufangen und vielleicht eine neue Familie zu gründen.
Kuss, Nora
PS: Es tut mir leid. Alles.
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und lege den Brief auf meinen Schreibtisch, schiebe ihn halb unter ein Schulbuch, damit er auf den ersten Blick wie ein Notizzettel aussieht. Falls meine Mutter nachts aufwacht und merkt, dass ich weg bin, wird sie nach einer Nachricht in der Küche suchen oder auf meinem Kopfkissen. Den Schreibtisch wird sie sich erst nach ein paar Stunden genauer ansehen. Unter Garantie. Sie soll den Brief nur finden, wenn ich nicht mehr auftauche. Mann, wenn sie noch Nachtschicht hätte, müsste ich mir darüber keine Sorgen machen.