»Das Hotel hat wieder angerufen, Miss Mason.« Die Krankenschwester öffnete die Tür einen Spaltbreit.
»Sie werden auch nicht damit aufhören. Und jedesmal behaupten sie, es sei besonders wichtig, nicht wahr?«
»Vorhin klang es ungewöhnlich dringend.«
»Diesmal muss es ohne mich gehen.« Violet machte eine bittende Geste. »Sie sollen mich in Ruhe lassen.«
»Ja, Miss Mason.«
Die Tür schloss sich lautlos. Sie senkte den Blick auf das schmerzerfüllte Gesicht. Man hatte Max so viel Morphium gegeben, wie zu vertreten war. Er zitterte. Der Schmerz schüttelte ihn. Seine Lider waren halb geschlossen. Violet wusste nicht, ob er sie ansah. Sie streichelte seine kräftige Hand. Die Härchen darauf waren verbrannt. Man hatte ihn auf die Seite gebettet. Die Verbrennungen auf dem Rücken machten das nötig.
Alle Schiffe, dachte sie. Max hatte alle Schiffe hinter sich verbrannt. Um Violet das mitzuteilen, war er ins Hotel gekommen, verwirrt, unglücklich und zugleich stolz, weil er diesen Schritt gewagt hatte. Wie ein Schiffbrüchiger war er ihr vorgekommen mit seinen beiden Koffern. Niemand konnte die Zeit zurückdrehen, aber zurückblicken durfte man, erkennen und verstehen. Violet verstand, wie nahe Max ihr in all den Jahren gewesen war. Obwohl sie einander oft monatelang nicht gesehen hatten, konnten sie sich ihrer tiefen, innigen Verbindung sicher sein. Von Anfang an waren sie ein Paar gewesen, oder zumindest so etwas Ähnliches. Während der zügellosen Zeit beim Radio, während ihres Abenteuers in Berlin, selbst als sie glaubten, nur eine Affäre miteinander zu erleben, hatten sie zusammengehört. Der Gedanke erschien sehr einfach, wenn er erst einmal gedacht war.
Von nun an würde alles anders werden. Jetzt durften sie sich zueinander bekennen. Die Deutschen mochten so viele Bomben auf London werfen, wie sie wollten, Violet und Max waren ein Paar. Vielleicht, wer weiß, würde es das kleine gemeinsame Haus am Meer, in dem der kleine Laurence aufwachsen sollte, doch noch geben. Es würde Nachmittage geben, an denen sie in der Sonne saßen, Nächte, wenn das Kind Fieber hatte und sie wach blieben, oder den frühen Morgen, wenn Max Kaffee trank, bevor er zur BBC aufbrach. Violets Baby würde nun doch kein Hotelkind werden. Das Kind hatte einen Vater. Endlich durfte das Leben für sie ganz normal werden.
Violet rückte dicht an Max heran und legte seine Hand auf ihren Bauch. »Spürst du das? Es ist dein Sohn, vielleicht deine Tochter. Du wirst gesund werden, Max, du wirst ein Kind haben. Irgendwann ist der Krieg vorbei. Dann werden wir eine Familie sein.«
Eine Weile saß sie schweigend da, seine Hand auf ihrem Bauch. Sein Puls ging leise. Hannibal hatte sämtliche Schiffe verbrannt. Das Bild gefiel ihr nicht. Man brauchte die Vergangenheit nicht zu verbrennen, um die Zukunft aufzubauen. Die Sache mit den Elefanten fand sie allerdings erstaunlich. Sie nahm sich vor, dem kleinen Laurence einen Plüschelefanten zu schenken, den größten, der zu kriegen war. Dieser Elefant würde sie immer an den Schritt erinnern, den Max für sie gewagt hatte, bevor die Bombe einschlug.
Sie bemühte sich, nicht an das Savoy zu denken, aber es ließ sich nicht ganz verdrängen. Was hatten sie dort gerade für ein Problem? In einem Hotel gab es niemals nur ein Problem, sondern hunderte. In Kriegszeiten durfte man nicht einmal vom ehrwürdigen Savoy Perfektion erwarten. Das Hotel stellte ein Symbol dar, ähnlich wie der Palast, die Tower Bridge oder das Theaterviertel. Das gute alte Savoy war ein Teil von London, London, wie es sein sollte.
»Wir gestalten die Fassade neu«, sagte sie zu Max. »Ich habe eine Idee, was man machen könnte, damit mehr Tageslicht hereinfällt.«
Er zitterte nicht mehr. Das Morphium schien zu wirken. Seine Augen waren geschlossen. Sie war froh, dass er keine Schmerzen hatte. Wie schön das war, mit ihm allein zu sein. Nichts war wichtig außer Max. Sie würde für ihn da sein und er für sie. So wie es von Anfang an festgestanden hatte.
***
»Your Majesty.«
Der Mann, der dem König gegenübertrat, war einer Ohnmacht nahe. Sein graues Haar stand wie Bohnenstroh zu Berge. Der Cutaway saß erbärmlich, das Plastron war eine Karikatur. Der Hoteldirektor zappelte vor dem König, als ob er Ameisen im Hemd hätte.
»Mein lieber Mister …« Albert machte eine unmerkliche Wendung zum Sekretär, der hinter seiner rechten Schulter stand.
»Wilder«, flüsterte Lascelles, ohne die Lippen zu bewegen.
»Lieber Mr Wilder, wir wollen Sie nicht lange von Ihren wichtigen Pflichten abhalten«, sagte der König. »Es tut mir leid, Ihr wunderschönes Haus in diesem traurigen Zustand zu sehen.«
»Es ist eigentlich nicht mein Haus, sondern das meiner Nichte, Your Majesty«, antwortete der stellvertretende Hoteldirektor.
Albert ließ den Blick über die Ruinen des Foyers schweifen. »Aber wie es scheint, ist Miss Mason gerade nicht im Haus?«
Der König stand inmitten der Halle. Rund um ihn schufen Angestellte des Hotels einen ehrfurchtsvollen Kreis, den weder patriotische Hotelgäste noch neugierige Reporter durchdringen durften. Myrtle hatte alles so arrangiert. Da Henry kein vernünftiger Satz in den Sinn kam, trat sie als Chefbutler in den Kreis des Königs.
»Mit Eurer Erlaubnis, Your Majesty«, sagte sie mit formvollendeter Verbeugung.
Albert gab zu verstehen, dass sie sprechen dürfe.
»Miss Mason befindet sich zurzeit im St. Bartholomew’s Hospital, Majesty.«
»Wurde sie bei dem Angriff denn verletzt?«
Der König war enttäuscht. Er legte beide Hände auf den Rücken und presste den Daumennagel unmerklich in den rechten Handballen. Der leichte Schmerz half ihm, seine bedauerliche Sprechschwäche niederzukämpfen, die fast immer eine Enttäuschung bei ihm auslöste.
»Miss Mason ist so gut wie unverletzt geblieben«, antwortete der Chefbutler.
»Das freut mich. Soweit ich weiß, ist sie guter Hoffnung. Geht es dem …« Der König hob das Kinn. »Geht es dem K…« Sein Mund fühlte sich trocken an. Mit dem K hatte er immer die größten Probleme. »Geht es dem Kind auch gut?«
»Auch in diesem Punkt konnten die Ärzte ihr Mut machen«, antwortete Myrtle.
»Weshalb ist sie dann im …« Nun folgte ein Wort mit B. Ob weiches B oder hartes P, beide stellten eine Hürde für ihn dar. Er versuchte den Sprung zum Wort Bartholomew ein zweites Mal, scheiterte erneut und gab auf. »Weshalb ist sie im Hospital?«
»Sämtliche Verwundeten des Luftangriffs wurden ins St. Bartholomew’s gebracht.« Myrtle warf Henry einen ermunternden Blick zu und trat unter die Dienerschaft zurück.
Der König erwiderte nichts. Lange Pausen stünden einem König gut zu Gesicht, hatte man ihm versichert. Lange Pausen waren Ausdruck von Gravitas, weil es bedeutungsvolle Pausen seien. In Wirklichkeit brachte die Enttäuschung, dass Miss Mason seinen Besuch verpasste, Albert zum Verstummen. Er hüstelte. Gerne hätte er sich eine Zigarette angesteckt, doch angesichts der Verwüstung rundum wäre dies als Geste der Herablassung gedeutet worden. So ungesund der Rauch auch war, Albert hatte das Gefühl, dass seine Kehle dadurch freier wurde. Alle sahen ihn an. Es war das Los des Monarchen, immer und überall angesehen zu werden. Die königliche Pause wurde zu lang. Er gab sich einen Ruck.
»Miss Mason besucht also die verwundeten Gäste und Angestellten ihres Hotels?«
Henry verbeugte sich unnötigerweise wieder. »In erster Linie besucht sie Mr Hammersmith. Er wurde schwer verwundet.«
»Hammersmith?« Zum zweiten Mal wandte sich der König zum Sekretär.
»Der Chefredakteur der BBC.« Diesmal flüsterte Lascelles nicht.
»Ich will nicht hoffen …« Albert gab dem Hoteldirektor die Erlaubnis, zu berichten.
»Er ist ein Freund Violets. Es besteht eine enge Bindung zwischen ihnen.« Henry begriff, dass dies nichts zur Sache tat. »Natürlich ist er nur eines von vielen Opfern.«
Lascelles griff das Stichwort auf, öffnete eine Mappe und trat näher. »Wenn Sie gestatten, Sir?« Auf das Nicken des Königs hin verlas er eine Aufstellung. »Der Luftangriff auf das Hotel Savoy hat sechs Todesopfer gefordert, darunter befand sich auch der finnische Generalkonsul. Außerdem gab es sechsundzwanzig Verletzte. Die meisten von ihnen sind inzwischen außer Lebensgefahr.«
Der König richtete sich auf. Ruhig legte er die Hände an die Hosennaht. Sein Blick ging über die Diener, die Hotelgäste, die Reporter hinweg und endete auf dem Gemälde von Sir Laurence Wilder, den Alberts Vater noch in den Ritterstand erhoben hatte. Seit dem Tod von Sir Laurence schmückte dessen Porträt die zentrale Treppe. Dem König gefiel das freundliche, spitzbübische Gesicht des alten Mannes. Mehrmals hatten sie Gelegenheit zu einem Gespräch gehabt, wenn Albert das Savoy besuchte. Keiner von beiden wusste damals, dass Sir Laurence mit dem künftigen König sprach.
»Der Einsatz von Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung unserer friedliebenden Nation ist ein Kriegsverbrechen«, sagte Albert ohne die kleinste Unsicherheit. »Der Tag wird kommen, an dem wir die uns verfeindete Regierung für dieses Verbrechen zur Verantwortung ziehen. Ich danke Ihnen allen für Ihren Mut, Ihr Vertrauen und Ihre Unerschütterlichkeit, wonach mit Gottes Hilfe unser Vereinigtes Königreich den Sieg davontragen wird.«
Der Applaus war unvermittelt, stark und steigerte sich noch. Rufe begleiteten den Beifall. »Lang lebe der König!«
Albert grüßte mit erhobenem Arm und leichter Drehung seiner Hand. Lascelles wies ihm schließlich den Weg, der über einen Holzsteg zum Ausgang führte. Draußen öffnete ein Lakai des Palastes das Fahrzeug Seiner Majestät.
Bevor Albert das Ende des Steges erreichte, trat ihm eine Frau entgegen. Er erkannte sie, seine Miene hellte sich auf. Wenige Schritte vor ihm stolperte die Frau, obwohl kein Hindernis zu erkennen war. Sie sank förmlich vor ihm auf die Knie. Albert blieb stehen und musterte Miss Mason. Ihr Gesicht erschreckte ihn. Alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. In ihren Augen lag der Ausdruck eines stummen Schreies.
»Miss Mason.« Der König beugte sich zu ihr.
Eine Sekunde später war Lascelles an seiner Seite. Ihm lag daran, eine Situation zu vermeiden, in der die anwesenden Fotografen den König ablichteten, wie er sich tief zu einer Untertanin bückte.
»Your Majesty.« Violet flüsterte, und doch klang es lauter als ein Schrei. Sie hob die Hand.
Albert ergriff die Hand der Frau, der scheinbar die Sinne schwanden. »Was ist denn, liebe Miss Mason?«
Noch während Violet die Hand des Königs festhielt, brach sie zusammen. Sie sagte etwas, doch Albert war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.
»Max ist tot«, hauchte Violet. »Max ist tot. Max ist tot«, wiederholte sie ein ums andere Mal.