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Albert und Violet

Die Schlacht um Frankreich begann im Juni, nachdem die Briten durch die Evakuierung ihrer Truppen aus Dünkirchen die französischen Alliierten auf dem Festland sich selbst überlassen hatten. Fünf Tage später überschritten die deutschen Armeen die Seine und besetzten die französische Hauptstadt. Um deren Zerstörung zu verhindern, wurde Paris kampflos von den Franzosen geräumt. Die deutsche Generalität pries Hitler als den größten Feldherrn aller Zeiten. Sechs Wochen und drei Tage hatte der Blitzkrieg gedauert, bei dem ganz Westeuropa unterworfen worden war. Die Deutschen brachten die französischen Flugfelder und Marinebasen in ihre Hand. Einer Invasion Englands stand damit nichts mehr im Weg. Für den weiteren Kriegsverlauf konnte Deutschland auf die Wirtschaftsressourcen von West-, Mittel- und Osteuropa zurückgreifen. Industriegüter aus Böhmen und Mähren, Erz aus Schweden, Agrargüter aus Polen, Dänemark und Holland sowie Erdöl aus Rumänien standen dem Reich unbegrenzt zur Verfügung.

Winston Churchill saß. Der Major General zog es vor zu stehen. Der König saß den beiden im Audienzraum gegenüber, einem Zimmer, das er nicht besonders mochte. Das lag an den unterschiedlichen Gelbtönen, die hier vorherrschten. Die Tapete, die Möbelbespannung, selbst die Gemälde wiesen vorwiegend Gelb auf. Der König bedeutete Churchill, fortzufahren.

»Da nach dem Fall Frankreichs und seit den deutschen Luftangriffen jederzeit mit einer Invasion gerechnet werden muss, habe ich die Hauptkräfte unserer Armee auf der britischen Insel gebunden«, sagte der Premierminister.

Albert hätte nur zu gern geraucht. Doch da sich auch Winston seine Zigarre bisher versagte, ließ Albert es ebenfalls sein.

Churchill tupfte sich die Mundwinkel mit dem Taschentuch ab. »Neben der Verteidigung Englands ist das Mittelmeer von vorrangiger Bedeutung für das Empire, Your Majesty. Seit die Italiener in Nordafrika einmarschiert sind, ist unser Zugang zum Suezkanal in Gefahr. Da mit dem baldigen Kriegseintritt des faschistischen Spanien gerechnet werden muss, ist die Durchfahrt bei Gibraltar ebenfalls bedroht. Ich habe General Montgomery den Auftrag erteilt, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, militärische Unterstützung aus den Ländern des Commonwealth in den Nahen Osten zu beordern.«

Churchill fasste in seine Innentasche. Wie ein Fuchs auf der Lauer achtete Albert darauf, ob der Premierminister sein Zigarrenetui hervorholte. Gleichzeitig wandte er sich an den Befehlshaber. »General.«

Montgomery trat vor. »Your Majesty.«

Albert hatte den General erst im Juni persönlich ausgezeichnet, nachdem es seiner Rückzugstaktik zu verdanken war, dass die britischen Divisionen ohne große Verluste nach Dünkirchen verlegt werden konnten. Auch die Rettung der Armee vom europäischen Festland wäre ohne das Zusammenwirken von Churchill und Montgomery unmöglich gewesen.

»Es erscheint am aussichtsreichsten, die Truppen Australiens nach Nordafrika zu entsenden«, begann Montgomery. »Sie werden sich an das Wüstenklima am schnellsten anpassen. Einheiten aus Südafrika und Britisch-Indien werden dazustoßen, die wir per Schiff in den Nahen Osten beordern. Auf dem Landweg durch die Wüste sind kongolesische Truppen unterwegs.«

»Fahren Sie fort.«

Der Wunsch nach einer Zigarette war einfach zu stark. Albert stand auf und machte ein paar Schritte zum Fenster. Sofort erhob sich Churchill ebenfalls. Als der König das Zigarettenetui öffnete, griff der Premierminister seinerseits zu einer Zigarre. Während des allgemeinen Anzündens, während die ersten Rauchwolken zur Decke schwebten, setzte Montgomery seinen Bericht fort.

»Die größten Schwierigkeiten macht uns die Geografie Nordafrikas. Unser Schlachtfeld ist ein tausend Kilometer langer Streifen, der im Westen durch die Festung El Agheila begrenzt wird, im Norden durch das Mittelmeer und im Süden von der Sahara. Das Gelände ist voller Geröll, was unseren Fahrzeugen zu schaffen macht. Da es in dem Gebiet kaum Dörfer gibt, besteht die Gefahr der Überdehnung unserer Versorgungswege. Dazu kommen das Klima und die Sandstürme.«

»Haben die Italiener nicht mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie wir?«, gab Albert zu bedenken.

»Das ist richtig, Your Majesty.« Churchill näherte sich respektvoll, doch sein Ziel war nicht der König, sondern der Aschenbecher. »Unsere Lage wird allerdings zusätzlich erschwert, da Hitler die italienischen Verbände durch Lufteinsätze unterstützt.«

»Ach, die Luftwaffe.« Albert stippte die Asche ab. »Diese Luftwaffe ist scheinbar überall.«

»In der Tat, Your Majesty.«

Der König zeigte aus dem Fenster zum Osttrakt des Palastes. »Nun haben sie uns ja leider auch getroffen.«

»Bedauerlich«, nickte Churchill. »Mir wurde allerdings berichtet, die Beschädigung des Palastes soll gottlob nur oberflächlich sein.«

Die Zigarette im Mundwinkel blickte Albert nach draußen, wo Militärfahrzeuge mit schwerem Gerät durch den Palastgarten fuhren. »Ich hoffe, dass sie das Dach bald repariert haben.«

Rauchend blickten der König und der Premierminister auf die geschäftige Tätigkeit an der Fassade.

»Wissen Sie, Winston, ich bin fast froh, dass nun auch mein Haus bombardiert wurde.«

»Wieso, Your Majesty?«

»Jetzt kann ich den vielen Menschen, die im Eastend und an den Docks ihr Heim verloren haben, guten Gewissens ins Gesicht sehen.«

Winston bekam diesen besonderen Gesichtsausdruck, den Albert an ihm mochte, eine Mischung aus zorniger Bulldogge und listigem Fuchs.

»Ich verstehe, Your Majesty.«

Nachdem die Nordafrika-Sache besprochen war, Albert zwei Zigaretten und Winston seine Zigarre zur Hälfte geraucht hatte, klingelte der König. Die Tür ging auf, Churchill und der General zogen sich zurück. Albert schaute noch eine Weile aus dem Fenster. Wie immer bedauerte er, dass die Themse vom Palast aus unsichtbar ihre Schleifen durch die Stadt zog.

***

Violet stand auf. Weil es ihr besser ging, weil sie es im Bett nicht mehr aushielt, weil es zu viel zu tun gab. Sie hatte keine Zeit, länger von einem Kinderzimmer zu träumen. Selbst für die Trauer um Max fehlte ihr die Ruhe.

Die schweren Männer, die sonst Rinderhälften und Gemüsekisten ins Hotel schleppten und mittlerweile Sandsäcke vor der Fassade stapelten, hatten den Schreibtisch aus Violets Büro ins Krankenzimmer hochgebracht. Eine zusätzliche Telefonleitung war gelegt worden. Sie hatte sich Sachen zum Anziehen kommen lassen. All das geschah entgegen der Warnung von Dr. Morphed.

»Wenn ich tatenlos im Bett liege, geht es mir auch nicht besser«, widersprach sie ihm. »Das macht mich nur nervös. Besser geht es mir, wenn ich etwas von dem Berg Arbeit erledige, der liegengeblieben ist. Mein Bett steht nur wenige Schritte entfernt, sollte ich mich nicht gut fühlen, und die Schwester sitzt gleich hinter der Tür.«

»Ich habe nichts gegen leichte Arbeit«, lenkte Morphed ein. »Das bringt Sie auf andere Gedanken. Aber ich kann nicht ständig überwachen, ob Sie sich nicht zu viel zumuten.«

»Dafür sind Schwester Ruth und Schwester Adelaide da.«

»Meine Krankenschwestern haben aber einen Mordsrespekt vor Ihnen, Miss Mason.« Morphed lächelte. »Und mein junger Assistenzarzt ist Wachs in Ihrer Hand, fürchte ich.«

Violet gelobte, es mit der Arbeit nicht zu übertreiben. Sie ließ sich von Dr. Morphed untersuchen, der mit dem Schwangerschaftsverlauf unter den gegebenen Umständen zufrieden war. Gleich darauf bestellte sie Maître Dryden zu sich. Die Hotelmenüs mussten der Kriegslage angepasst werden. Es ging nicht an, dass das Savoy Fleisch servierte, während man Fett, Eier, Zucker, Obst und Gemüse, sogar Kartoffeln rationierte. Nur Schwer- und Schwerstarbeiter bekamen mithilfe von Lebensmittelkarten Fleischrationen zugestanden, genau wie stillende Mütter. Der Küchenchef machte Vorschläge für Rezepte, bei denen er Sellerie statt Rindfleisch, Schwarzwurzeln statt Schweinefleisch und Kohlrabi statt Fisch in den Speiseplan aufnahm. Violet hatte angenommen, es würde Dryden schwerfallen, das Savoy seiner gewohnten Delikatessen zu berauben. Sie freute sich, dass er seine Phantasie spielen ließ, um trotz geschmälerter Mittel neue Köstlichkeiten zu kreieren.

Sie ließ die Hausdamen und sämtliche Zimmermädchen antreten. »Wir müssen besser mit der Seife haushalten. Ein gebrauchtes Seifenstück darf nicht weggeworfen werden, wenn ein Gast abreist. Diese Seife ist abzuspülen und in einer ansprechenden Schale erneut auszugeben. Außerdem müssen wir Strom sparen, besonders auf den Korridoren, die meist leer stehen. Drehen Sie jede zweite Glühbirne aus der Halterung. Das verbleibende Licht sollte reichen.«

»Was ist mit den Stromleitungen, die in den Keller laufen?«, fragte Mrs Drake, die dienstälteste Hausdame. »Als ich neulich an den Kabelsträngen vorbeigekommen bin, fiel mir auf, dass sie heiß werden. Dort müssen ungeheure Mengen Elektrizität durchfließen.«

»Danke, dass Sie mich darauf hinweisen. Ich kümmere mich darum.«

»Soll ich nicht besser unseren Hausmechaniker hinschicken, damit er die Leitungen prüft?«

»Vielen Dank, Mrs Drake, das mache ich selbst.«

Nachdem die Zimmermädchen gegangen waren und Violet dem Floristen aufgetragen hatte, Seidenblumen statt der täglich erneuerten Schnittblumen aufzustellen, bat sie Schwester Adelaide zu sich.

»Ich würde gern noch etwas von dem Medikament nehmen«, sagte sie zu der zweifachen Mutter. »Das herzstärkende, das so bitter schmeckt.«

Die Schwester ging zum Medikamentenschrank. »Darf ich fragen, weshalb?«

»Ich muss kurz mal runter«, gestand Violet.

Schwester Adelaide träufelte mehrere Tropfen auf ein Stück Zucker. »Dr. Morphed sagt, Sie sollten diese Räume besser nicht verlassen.«

»Es dauert bestimmt nicht lange.« Sie zog die dunkle Jacke über ihre Bluse.

»Der Doktor sagt, es ist etwas anderes, ob Sie die Tagesgeschäfte von hier oben dirigieren oder ins Hotel hinuntergehen«, entgegnete die Schwester besorgt.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich nehme die Tropfen, und dann schauen wir auf die Uhr. Ich verspreche Ihnen, in einer halben Stunde bin ich spätestens zurück.«

Violet ließ weitere Einwände nicht gelten und machte sich auf den Weg. Sie war sicher, Adelaide würde Dr. Morphed anrufen, um ihm Violets Sünde zu berichten. Als sie zum ersten Mal nach Tagen das Vorzimmer hinter sich ließ, durch den Korridor eilte und den Fahrstuhl erreichte, hatte sie auch das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.

Violet fuhr in die Lobby und trat durch die unauffällige Tür, jenem Eingang zu den Aktivitäten des Geheimdienstes. Sie benützte ihren Schlüssel bei der ersten Tür, gab den Zahlencode bei der zweiten ein und passierte sämtliche Schleusen, bis sie zum ersten Mal seit Langem wieder den Wäschekeller betrat.

Die große Maschine war zu einem Monster herangewachsen, das bis unter die Decke reichte. Die Männer vom SIS waren über das Auftauchen der Hoteldirektorin überrascht. Sie bat, mit dem diensthabenden Offizier zu sprechen.

»Was können wir für Sie tun, Miss Mason?« Ein Major mit flaschendicken Brillengläsern trat auf sie zu.

»Es geht um den Stromverbrauch. Das Hotel ist bemüht, sich den Rationierungen anzupassen, und die gelten auch für die Elektrizität.«

Der Major gab zu bedenken, dass die Tätigkeit des SIS im Auftrag der Regierung stattfand und von den Rationierungen ausgeschlossen sei.

»Sie sind Gast in meinem Haus, Major. Bitte halten Sie sich an meine Regeln«, entgegnete sie entschieden. »Ich habe erfahren, dass Ihre großartige Maschine bisher gar nichts leistet. Wieso verbraucht eine wirkungslose Maschine so viel Strom?«

»Von wem wissen Sie, dass wir bei der Maschine mit Anfangsschwierigkeiten kämpfen?«

»Ich möchte, dass sie abgeschaltet wird.«

Während der Major zu einem weiteren Beschwichtigungsversuch ansetzte, trat Lieutenant Burke aus dem Besprechungszimmer.

»Miss Mason hat recht.« Er blickte zu der Konstruktion aus Zahnrädern, Walzen und endlosen Leitungen hoch. »Auch ich frage mich, weshalb wir das Ding weiterlaufen lassen, statt unseren Leuten in Bletchley Park Zeit zu geben, die deutschen Codes zu knacken.«

Violet begrüßte Lionel mit einem Nicken. »Was geschieht denn in Bletchley Park?«

»Dort arbeiten wir mit einer ähnlichen Apparatur«, erklärte er. »Die Deutschen ändern die Einstellung ihrer Codierung täglich um achtzehn Uhr. Uns bleiben jedesmal nur vierundzwanzig Stunden, um den aktuellen Tagescode zu entschlüsseln. Wenn wir es bis sechs nicht schaffen, beginnt die ganze Arbeit von vorn.«

»Ich erinnere Sie daran, dass Sie hier nichts mehr anzuordnen haben, Lieutenant«, ging der Major dazwischen. Zu Violet gewandt sagte er: »Ich werde Ihren Vorschlag an die Admiralität weiterleiten.« Da er am Telefon verlangt wurde, zog er sich mit militärischem Gruß zurück.

Violet hatte plötzlich das Gefühl, dass sie sich besser setzen sollte, und nahm an einem freien Schreibtisch Platz. »Was meint der Major damit, dass du hier nichts mehr anzuordnen hast?«

»Ich werde zu einer anderen Einheit abkommandiert.«

»Was ist geschehen?«

»Man versetzt mich.«

»Wohin?«

»Nordafrika.«

Violet verbarg ihre Überraschung nicht. »Was gibt es denn so Besonderes in Nordafrika?«

»Auch dort findet der Krieg statt.«

»Aber du arbeitest für den SIS.«

»Es ist eine Frage der Priorität«, erklärte Lionel. »Ich heiße nach meinem Vater, Lionel Burke. Der Name meiner Mutter ist Fatima, sie ist Ägypterin. Meine Eltern haben sich in El Qantara kennengelernt. Geboren wurde ich in Port Said, wo, wie du weißt, der Suezkanal ins Mittelmeer mündet. Ich habe viele Jahre dort verbracht. Die Army ist der Meinung, dass meine Ortskenntnisse von Bedeutung sein könnten.«

Die Neuigkeit machte Violet trauriger, als sie sich erklären konnte. Sie und der Lieutenant hatten einander in letzter Zeit selten gesehen. Der Bombeneinschlag, der Tod von Max und Violets Schwangerschaft waren die einschneidenden Ereignisse der vergangenen Wochen gewesen. Trotzdem hatte sie den Eindruck, mit seiner Abberufung einen lieben, guten Freund zu verlieren.

»Ich finde es bedauerlich, dass du nicht mehr im Savoy sein wirst.«

Er strich die Zierleiste des Schreibtisches entlang. »Mir geht es genauso.«

»Wann bist du zurück?« So unsinnig die Frage auch sein mochte, sie kam von Herzen.

»Nicht so bald.« Für einen Moment sah er sie an und flüchtete dann in eine weitschweifige Erklärung. »Die Italiener stoßen von Libyen auf Ägypten vor und sind uns zahlenmäßig überlegen. Wenn sie den Kanal in ihre Hand bekommen, können sie ihre Besitzungen in Nord- und Ostafrika verbinden. Damit wäre uns der Weg von Indien nach Europa abgeschnitten.« Er schüttelte den Kopf. »Entschuldige, das alles interessiert dich wahrscheinlich nicht besonders.«

»Doch, das ist natürlich von Bedeutung«, antwortete sie ohne Schwung. »Wohin wirst du denn versetzt?«

»Marsa Matruh. Dort stehen die Haupteinheiten der Desert Force.«

»Marsa Matruh«, wiederholte sie, als ob es von Bedeutung wäre. Violet hätte nun aufstehen und in ihr Zimmer zurückkehren sollen, ihr Anliegen hatte sie vorgebracht. Doch sie blieb sitzen und betrachtete die Hand des Lieutenants, die an der Zierleiste entlangstrich.

»Mein König ruft, was soll man da machen?« Er blickte auf.

Langsam, mühevoll kam Violet hoch. »Wenn der König ruft, dann folgt man ihm.«

Der Lieutenant stützte sie am Ellbogen. Sie standen voreinander. »Alles Gute für die Geburt«, sagte er.

»Komm gesund zurück, Lionel.«

»Wir sehen uns wieder.«

»Wir sehen uns wieder.«

Ein Händedruck. Nur ein Händedruck. Violet verließ den Wäschekeller.