In der obersten Spalte der Gesellschaftskolumne las Albert, dass die mutige Miss Mason im St. Bartholomew’s Hospital einer Tochter genesen sei.
»Einer Tochter genesen?« Der König hob den Blick. »Kann man das so sagen?«
»Verzeihung, was meinten Your Majesty?« Lascelles nahm Dokumente aus dem Bastkorb und sortierte sie nach Dringlichkeit auf dem Schreibtisch.
»Die mutige Miss Mason ist einer Tochter genesen. Das klingt irgendwie sonderbar.«
»Es ist eine altertümliche Form, Sir, wie sie dem bevorzugten Stil des Blattes entspricht, das Sie zu lesen geruhen.«
Der König stand auf. Ohne rechtes Ziel begann er im Arbeitszimmer auf und ab zu gehen. Er streifte den Schreibtisch mit einem Blick. »Ob in diesem Fall Glückwünsche angebracht wären?«, fragte er in einem Ton, der beiläufig klingen sollte.
»Glückwünsche an wen, Sir?« Lascelles klemmte das leere Körbchen unter den Arm.
»An die mutige Miss Mason.« Der Anflug eines Schmunzelns.
»Ich darf höflich darauf hinweisen, Majesty, dass Miss Mason ledig ist.«
»Sie meinen, es gibt keinen Vater zu dem Kind?« Albert blieb stehen.
»Natürlich gibt es einen … Ich meine, es muss ja einen …« Lascelles machte eine sinnlose Verbeugung. »Miss Masons Niederkunft hat nicht im heiligen Stand der Ehe stattgefunden, Majesty.«
»Viele Babys werden zurzeit ohne Vater geboren, weil ihre Väter tot sind, Tommy. Diese Männer haben für unser Land gekämpft.«
»Verzeihen Sie, Your Majesty. Dieser Umstand war mir nur entfallen.«
Albert nickte. »Ich werde Miss Mason eine Karte schreiben.«
Er war sich im Klaren darüber, dass seine Schlussfolgerung unlogisch war. Die Kinder von gefallenen Männern waren Waisen, das Kind von Miss Mason war ein Bankert. Aber was tat das schon? Es freute Albert, einen Anlass zu haben, der Direktorin des Savoy Grüße zu senden und ihr zu gratulieren. Er setzte sich, schob die Dokumente zur Seite und zog das Briefpapier heran. Den Kopf zierte das Insigne GVIR, das Siegel, das überall im Königreich prangte.
Meine liebe Miss Mason,
Wir hören, dass Ihnen in diesen Tagen ein großes Glück widerfahren ist, und wollen nicht verfehlen, Ihnen und Ihren Lieben herzlich zu gratulieren. In diesen Zeiten des Krieges, da der Tod sichtbar in unser aller Dasein eingreift, ist die Bestätigung des Lebens, sein Fortbestehen, die Geburt eines Kindes das größte Glück, das wir dem Schicksal verdanken.
Violet ließ das Blatt sinken. Sollte sie sich geehrt fühlen, sollte sie lachen oder weinen oder den Brief des Königs als Hohn ansehen? Verspottete das Schicksal sie? Das große Glück, von dem er schrieb, hatte sich in sein Gegenteil verkehrt. Am frühen Morgen hatte sie die Entscheidung getroffen. Wenn es später dunkel werden würde, sollte die künstliche Beatmung Maxines abgeschaltet werden. Daran änderte auch der Brief des Königs nichts. Violet war zu wund, zu leer, sich Gedanken darüber zu machen, wie er von der Geburt erfahren hatte. Es war das Grußwort eines einzelnen Mannes, der in einem viel zu großen Haus wohnte. Es bedeutete nichts. Es gab überhaupt keine Bedeutung mehr außer der, dass heute Nacht ein Kind von seinen Leiden erlöst werden sollte.
Violet konnte nicht länger liegen. Aufstehen durfte sie aber nicht, da sie außerstande war, sich auf den Beinen zu halten. Trotzdem schob sie sich an den Rand des Bettes und ließ die Füße zu Boden sinken. Im kurzen Hemd setzte sie sich auf, fühlte die Wunde am Bauch und stützte den Kopf in beide Hände. Strähnig und wirr war ihr Haar, die Wangen verklebt von Tränen. »Es kann nicht sein. Nicht sein«, murmelte sie und begriff das Leiden als Zustand, der fortdauerte, weiter anhalten würde, der nicht aufhörte. Bisher hatte sie geglaubt, Schmerz sei nur eine Unterbrechung von Wohlbefinden, Schmerz sei dazu da, uns den Normalzustand deutlicher zu machen. Das war falsch. Schmerz war der Normalzustand, Ausweglosigkeit das Zeitmaß, in dem sie sich gefangen sah.
Violet spannte die Beinmuskeln an und kam hoch. Mehrere Sekunden lang stand sie gebückt da. Nichts in ihrem Körper schien an seinem Platz zu sein, kraftlos sank sie zurück.
Nach der Katatonie am frühen Morgen hatte Dr. Morphed den Zustand Maxines stabilisiert. Die Atempumpe tat ihren Dienst und zwang das Neugeborene, am Leben zu bleiben. Wozu die Verzögerung, weshalb bis zum Abend warten? Glaubte Violet an ein Wunder, das im letzten Moment geschehen könnte, an den reitenden Boten aus dem Himmel, der Maxine Gesundheit schenken würde?
Sie glaubte an nichts. Sie hoffte nichts. Sie fürchtete, in einer Wirklichkeit leben zu müssen, in der es Maxine nicht mehr gab. Sosehr sich das Kind auch quälte, so verzweifelt saugte Violet jede gemeinsame Minute mit ihrem Baby auf. Sie klammerte sich an die Sekunden, klammerte sich sogar an den Schmerz. Der Schmerz sagte ihr, dass es noch nicht zu Ende war. Erst wenn Dr. Morphed die Pumpe abschaltete, würde nichts mehr bleiben als die dumpfe Gewissheit des Todes.
Wie sollte Violet nach Maxines Tod ins Savoy zurückkehren, wo das Personal sie mit einem Baby auf dem Arm erwartete? Wie ertrug sie die Blicke der Leute, was konnte sie ihnen sagen? Was sollte Violet jetzt noch in dem Zimmer unter dem Kuppeldach? Sie hatte es verlassen, um neues Leben zu schenken. Allein kam sie zurück. Allein. Das war immer ihr Schicksal gewesen, einsam in der Menge, so hatte Max es einmal beschrieben. Max war nicht mehr, Sir Laurence war nicht mehr und seine Urenkelin, über die sich niemand mehr gefreut hätte als er, würde bald auch nicht mehr sein.
Violet wischte neue Tränen ab, hob die Beine unter Schmerzen ins Bett zurück und deckte sich zu. Sie vermochte nicht mehr, mit Maxine zu sprechen, stumm, wund, grau lag sie da und starrte an die Decke.
Die Tür ging auf. Es war keine Zeit für die Visite, und für das Mittagessen schien es zu früh. Violet machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden.
»Ich habe Ihnen jemanden mitgebracht, Miss Mason«, sagte Dr. Morphed.
»Ich möchte heute niemanden sehen.«
»Es ist ein Kollege von mir.«
»Noch ein Arzt?« Sie hörte das Schließen der Tür, schwere Schritte.
»Guten Tag, Miss Mason. Mein Name ist Andruţă Iliunescu.«
Er hatte fleischige Lippen, Augenbrauen von bedrohlichem Ausmaß, dabei sonst kein einziges Haar auf dem Kopf. »Mein Kollege hat mir von Ihrer Tochter erzählt.« Andruţă Iliunescu trat an Violets Seite, während Morphed sich im Hintergrund hielt.
»Ich glaube, die Situation meiner Tochter ist klar.« Sie zog die Decke höher.
Iliunescu lächelte, was seine Lippen noch wulstiger erscheinen ließ. »Ich komme aus Oxford, Miss Mason. Dort beschäftige ich mich mit der Entwicklung bestimmter medizinischer Konstruktionen. Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen gerne davon erzählen.«
»Sie sind extra aus Oxford gekommen? Weshalb?«
»Ein guter alter Freund hat mich angerufen und um Hilfe gebeten.«
»Das tut im Augenblick nichts zur Sache. Ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, Miss Mason.« Er zeigte auf den Kasten, in dem das Kind lag.
»Einen Vorschlag, der Maxine betrifft?«
Iliunescu betrachtete den kleinen Kopf des Mädchens. »Ich würde gern über Maxines Zukunft mit Ihnen sprechen.«
Sie sah den Rumänen an. Seine Augenbrauen hatten die Form von schwarzen Raupen. Er lächelte auf eine Art, die man nur verschmitzt nennen konnte.
»Sind Sie der reitende Bote, Mr Iliunescu?«
Am Blick beider Ärzte erkannte sie, wie seltsam ihre Frage anmutete.