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Die praktische Lösung

Myrtle Hahn betrat die Unterkünfte der Angestellten. Vor einer bestimmten Tür blieb sie stehen, ein Blick nach links und rechts, dann klopfte sie und trat ein, ohne die Aufforderung abzuwarten.

»Guten Abend, Mr Stichler.«

»Was wollen Sie hier?« Otto setzte sich auf. Im Unterhemd lag er auf dem schmalen Bett und las ein Magazin. Das zweite Bett war leer. Dort schlief Tommy, der Schuhputzer, dessen Arbeit nachts stattfand. Obwohl Otto als Supervisor Anspruch auf ein Einzelzimmer hatte, behielt er das Arrangement bei. Er und Tommy verstanden sich prächtig.

»Ich dachte, wir führen unser Gespräch besser außerhalb der Dienstzeit«, antwortete Myrtle.

»Unser Gespräch?« Es war Otto anzusehen, dass ihm die Aussprache ungelegen kam, er es aber vorzog, der Sache ins Auge zu sehen. Er zeigte auf den winzigen Tisch zwischen den Betten, kaum groß genug, eine Mahlzeit darauf zu halten. »Wollen Sie sich setzen?«

»Danke.« Myrtle zog den Stuhl zurück und nahm Platz.

Er begann ohne Vorgeplänkel. »Sie finden es verwerflich, dass ich Gästen, die entsprechende Wünsche äußern, ein wenig Vergnügen verschaffe?«

»Sie geben es also zu?«

Eine wegwerfende Geste. »Ich gebe es zu, solange uns niemand hört. Sagen Sie mir endlich, was Sie mit Ihrem Wissen anfangen werden. Bestimmt haben Sie erfahren, dass ich meinen Service eingestellt habe. Meine Pagen sind angehalten, entsprechende Angebote auszuschlagen. Ob sie sich daran halten, kann ich nicht garantieren.«

Myrtle überschlug die Beine. »Das Unternehmen, das Sie betreiben, ist lächerlich im Vergleich zu dem Geschäft, das ich Ihnen vorschlagen möchte.«

Nach einer neugierigen Pause fragte Otto: »Welche Art von Geschäft hätte ein Butler zu vergeben?«

»Sie sind Deutscher.«

»Und Sie sind Jüdin.«

»Aber ich bin auch eine Deutsche.«

»Sie sind eine von denen, die man in Deutschland nicht mehr haben will.«

»Trotzdem verhandeln Sie mit mir.«

»Ist es nicht das, was die Juden am besten können, schachern und ihren Profit aushandeln?«

»Ich müsste über Ihren Fanatismus entrüstet sein«, erwiderte sie mit einem feinen Lächeln. »Stattdessen will ich mir Ihren Fanatismus zunutze machen.«

Er stieß sich von der Wand ab. »Inwiefern?«

»Sagt Ihnen der Name Viktor Kamarowski etwas?«

Otto fixierte das Gesicht des Chefbutlers. »Mr Kamarowski war lange ein geschätzter Gast dieses Hauses«, antwortete er abwartend.

»Und jetzt nicht mehr?«

»Mr Kamarowski wurde hier länger nicht mehr gesehen.«

»Sie haben für ihn gearbeitet.«

»Wer behauptet das?«

»Viktor sagte mir, dass Sie sehr verlässlich und gewissenhaft waren.«

Otto sprang auf. »Wer sind Sie, Miss Hahn? Wieso kennen Sie Kamarowski?«

»Eins nach dem anderen.« Mit einer Geste forderte sie ihn auf, sich wieder zu setzen.

»Sie sind die rechte Hand Miss Masons und die Geliebte von Henry Wilder. Welchen Kontakt kann es zwischen Ihnen und Mr Kamarowski geben?«

»Viktor Kamarowski hat das Savoy nur scheinbar verlassen. In Wirklichkeit ist er nie fort gewesen.«

Otto sank aufs Bett und stützte die Ellbogen auf seine Knie. »Bitte weiter.«

»Haben Sie Kenntnis von einem bestimmten Keller, Otto, ein Keller, der den Angestellten des Hotels verboten ist?«

»Ich weiß, dass da unten irgendetwas passiert.«

»Aber Sie sind selbst noch nie im ehemaligen Wäschekeller gewesen?«

»Einmal bin ich durch die kleine Tür geschlüpft. Weiter kam ich allerdings nicht.«

»Sie haben also die Tür mit der Zahlenkombination nie passiert?«

»Sie etwa?«

»Ich darf mich dort nicht zeigen. Es ließe sich mit meiner Position nicht vereinbaren. Andererseits könnte ein geschickter junger Mann einen anderen Weg finden.« Myrtle schob eine Haarsträhne zurück, die aus ihrer Frisur gerutscht war.

»Einen anderen Weg?«

»Es existiert ein zweiter Eingang. Ihn kennen die wenigsten. Ich glaube, nicht einmal Miss Mason weiß davon.«

»Gesetzt den Fall, ein geschickter junger Mann würde diesen Weg tatsächlich finden, was sollte er dort unten machen, Miss Hahn?«

»Das möchte ich mit Ihnen besprechen, Otto.«

»Haben Sie keine Angst, dass ich mein Wissen über Sie und Mr Kamarowski an Miss Mason weitergeben könnte?«

»Nicht die geringste Angst.«

»Wieso?«

»Weil Sie es nicht riskieren würden, Mr Kamarowski zu enttäuschen. Sie kennen seine Macht. Sie kennen seine Methoden. Außerdem sind Sie daran interessiert, Ihr kleines Business mit den Liftpagen wieder aufzunehmen.«

»Denken Sie, dass das möglich wäre?«

»Es ist ein harmloser Zeitvertreib, der den zahlungskräftigen Gästen unseres Hauses nicht vorenthalten werden sollte. In Kriegszeiten gibt es für sie sonst nicht viele Annehmlichkeiten in unserer zerbombten Stadt.«

»Das ist eine vernünftige Einstellung.«

»Es ist eine praktische Einstellung.«

»Miss Hahn?« Otto beugte sich noch weiter vor. »Sind Sie sicher, dass Sie wirklich Jüdin sind?«

»Ziemlich sicher.«

»Woher stammt Ihre Familie? Ich werde aus Ihrem Akzent nicht ganz klug. Österreich?«

»Nahe der Grenze. Es ist die Gegend, aus der der Führer stammt.«

»Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung, Miss Hahn: Als Frau haben Sie mir von Anfang an gefallen.«