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In einer Bombennacht

Von Westen führte die Lyall Street in die Gartenanlage des Eaton Square Garden und verwandelte sich inmitten des Parks in die Elizabeth Street. An dieser Kreuzung bat Violet den Fahrer, zu warten.

»Es wird bald dunkel, Miss Mason.« Er öffnete ihr die Tür.

»Ich beeile mich, Roberts.«

»Wir sollten die Gegend unbedingt vor der Verdunkelung verlassen.«

»Sie tun ja so, als ob wir uns in einer zwielichtigen Gasse befinden würden, wo Jack the Ripper sein Unwesen treibt.« Violet schmunzelte. »Hier ist Belgravia, Roberts. Die einzigen Ungeheuer, die Sie hier finden, sind die Mitglieder des House of Lords

»Es ist nur wegen der Verdunkelung, Miss.«

»In einer Stunde hat mein Baby Hunger«, beruhigte sie ihn. »Bis dahin sind wir längst wieder im Savoy.«

Violet folgte der Straße bis zum Eaton Square, wo das Restaurant Colbert’s französisches Flair verströmte. Ihr war bekannt, dass der walisische Besitzer Colbert hieß und mit der Französisierung seines Namens ein gutes Geschäft machte. Als sie ankam, trat ein einzelner Gast aus dem Lokal. Ein heller Klecks an seinem Mundwinkel wies darauf hin, dass er ein Gericht in Sahnesauce gegessen hatte.

»Guten Abend, Mr Kamarowski.«

Er fuhr herum. »Miss Mason!« Kamarowski brauchte einen Moment, um den Ort und die Person, die ihm gegenüberstand, in Einklang zu bringen. »Wie haben Sie mich gefunden?«

»Sie sind ein vorsichtiger Mann, aber Sie sind nicht unsichtbar.«

»Was machen Sie hier?«

»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Ich habe mein Dinner soeben beendet«, sagte er zum Lokal gewandt, wo der Besitzer wegen der bevorstehenden Verdunkelung die Jalousien herunterließ.

»Können wir ein paar Schritte gehen?«

»Wohin?«

»Wohnen Sie nicht gleich um die Ecke?« Es amüsierte Violet, dass sie einen Mann, der sich sonst nicht überrumpeln ließ, überrumpelt hatte.

»Woher wissen Sie das?«

»Mein Hoteldetektiv ist ein fähiger Mitarbeiter.«

»Sie haben Ihren Detektiv auf mich angesetzt?«

Violet ließ das unbeantwortet. »Ich muss bald zurück ins Hotel.« Sie zeigte die Straße hinunter. »Wollen wir?«

Zögernd schloss er sich ihr an. »Wie geht es Ihnen, Miss Mason?«, fragte er nach ein paar Schritten.

»Sehen Sie mich an, Mr Kamarowski. Ich bin das wandelnde Elend«, antwortete sie lächelnd.

»Schmaler sind Sie geworden.« Im Licht eines Schaufensters betrachtete er sie genauer. »Ist etwas Besonderes vorgefallen, weshalb Sie so …«

»Früher haben Sie besser gelogen, Viktor, damals, als Sie mir vorgemacht haben, Sie wären nur ein harmloser Gast im Savoy. Als Sie Meuchelmörder auf meinen Großvater angesetzt haben und versuchten, auch mich auszuschalten. Früher waren Sie ein gefährlicher Gegner, Mr Kamarowski.«

»Was wollen Sie von mir?« Er schloss den Mantel.

»Ich komme, um mich bei Ihnen zu bedanken, Sir.« Auf seinen überraschten Blick nickte sie. »Ich danke Ihnen, Viktor.«

Nachdenklich trat Kamarowski auf sie zu, fasste Violets Pelzkragen und stellte ihn behutsam auf. »Sie sollten sich nicht verkühlen. Sie sind noch nicht wieder auf dem Damm.«

»Dann verstehen Sie also, was ich meine?«

»Schon möglich.«

»Sie haben meinem Kind das Leben gerettet.« Sie fasste seine Hand an ihrem Kragen. Trotz der Kälte fühlte sie sich warm an. »Ist das nicht die verrückteste Geschichte, die man sich vorstellen kann? Meinen Großvater haben Sie fast umgebracht. In Berlin wäre ich um ein Haar im Feuer zu Tode gekommen. Und eines Tages kommt ein kleines Mädchen zur Welt, das nicht atmen kann. Ein Kind, das keine Woche alt geworden wäre, wenn nicht …«

Kamarowski zog seine Hand zurück. »Ich habe nichts Besonderes getan, Miss Mason.«

»Sie haben mir Andruţă Iliunescu geschickt. Er hat Maxine gerettet.«

Mit einem Mal sah Kamarowski ganz hilflos aus, wie ein großer alter Junge mit grauem Kinnbart. »Sie haben Ihr Kind Maxine genannt? Mr Hammersmith hätte dieser Name bestimmt gefallen.«

Ein Blick voll Wärme und Offenheit. »Auch das haben Sie gewusst, Viktor, dass Max der Vater war? Warum haben Sie mir geholfen?«

»Ich habe nur ein Telefonat nach Oxford geführt.«

»Sie haben mein Leben verändert, mein Mädchen gerettet. Das war der großartigste Telefonanruf, den Sie jemals getätigt haben.«

»Und dem Baby geht es wirklich gut?«

»Sie nimmt jeden Tag zu. Sie schreit und kräht, ich komme mit dem Wechseln der Windeln kaum nach.«

»Wer ist jetzt bei ihr?«

»Eine der Hausdamen.«

Kamarowski blickte zum Himmel hoch. »Wir können hier nicht länger bleiben«, sagte er angesichts des schwindenden Lichtes. »Wo steht Ihr Wagen?«

»Im Park. Der Fahrer wird bestimmt schon unruhig.«

»Ich begleite Sie.« Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, hakte Kamarowski sie unter und schlug den Weg zur Elizabeth Street ein.

Auf halbem Weg überfiel sie der schrille Klang der Sirenen.

Beide blieben stehen.

»Das Baby«, sagte sie.

»Ihr Kind ist im Hotel?«

Violet bemerkte den Chauffeur, der ihr vom Park entgegenlief.

»Ich muss zu Maxine. Kann ich Sie mitnehmen?«

»Wohin?«

»Ins Savoy.«

»Ich wohne nur zwei Straßen entfernt.«

»Sie können unmöglich nach Hause, Viktor.«

Die Sirenen röhrten. Der harte Klang von Artillerie mengte sich dazu, Kanonen, die in die Luft schossen.

Kamarowski deutete hinauf, wo die Flakgeschosse explodierten. »Bis ins Savoy kommen Sie nicht mehr.«

»Ich muss zu Maxine!«

»Wir müssen unter die Erde.«

Mit harten Schritten erreichte der Chauffeur die beiden. »Miss Mason!«

Sie hastete ihm entgegen. »Lassen Sie uns fahren, Roberts.«

»Zu spät.«

»Aber wir müssen …«

»Bis zum Savoy sind es drei Meilen. Die Flieger sind in wenigen Minuten hier.«

»Ich muss … Maxine!« Sie wollte gerade den Weg zum Auto einschlagen, als sie Kamarowskis Hand auf ihrer Schulter spürte.

»Hundert Menschen arbeiten in Ihrem Hotel, Miss Mason. Hundert Menschen werden sich zuallererst um Ihr Baby kümmern. Sie können sich auf Ihre Leute verlassen. Maxine geschieht nichts.« Am Himmel über London explodierte das Abwehrfeuer in rascher Folge, Kamarowski musste fast schreien. »Aber das nützt alles nichts, wenn Maxines Mutter heute Abend etwas passiert. Kommen Sie!«

Er und der Chauffeur nahmen Violet in ihre Mitte. »Wo ist der nächste Bunker?«

»Victoria Station«, antwortete Roberts.

»Das schaffen wir nicht.« Kamarowski zeigte in die Gegenrichtung. »Sloane Square Station könnten wir allerdings erreichen.«

»Sloane Square ist nicht überdacht«, rief der Chauffeur. »Was meinen Sie, Miss Mason?«

»Sloane Square.« Sie nickte. »Wir laufen in den Tunnel.« Beruhigend sah sie den Chauffeur an. »Kommen Sie, Roberts.«

»Und der Wagen?«

»Der Lagonda ist meine kleinste Sorge.«

Nach wenigen Yards begegneten sie Menschen, die die gleiche Richtung einschlugen. Leute mit Koffern, Einbeinige auf Krücken, Frauen mit Kindern auf dem Arm. Eine Frau zog einen Handwagen hinter sich her.

»Zum dritten Mal«, sagte die Frau zu ihrer Begleiterin. »Zum dritten Mal packe ich jetzt all mein Zeug und schaffe es in die Underground. Die Deutschen sollen sich endlich mal entscheiden, ob sie mein Haus treffen wollen oder nicht.«

Maxine. Maxine! Wie gedankenlos, das Baby allein zu lassen. Als Violet aufgebrochen war, hatte das Mädchen getrunken und war eingeschlafen. Sie hatte eine kleine Menge Milch abgepumpt, da sie ja nur eine Stunde fortbleiben wollte. Die Hausdame war verlässlich, außerdem gab es noch Myrtle. Auf Myrtle war Verlass. Auf alle war Verlass, solange keine Panik ausbrach. Es würde keine Panik geben, dachte Violet, während sie neben den beiden herlief. Es war nicht der erste, nicht der zehnte Bombenangriff auf die Stadt. Hunderte mussten es gewesen sein, man hatte sich daran gewöhnt.

Violet spürte, dass ihr gleich schwarz vor Augen werden würde. Sie war das Rennen nicht gewöhnt. Sie riss sich zusammen. Sloane Square kam in Sicht. Sie stützte sich auf Kamarowskis Arm.

Die erste Bombe ging in der Nähe nieder. Die Druckwelle erreichte Violet vor dem Lärm. Der Fahrer, Kamarowski und sie wurden nach hinten gerissen, konnten sich aber auf den Füßen halten, während andere stürzten. Die Frau mit dem Handwagen schrie, weil ihr Hab und Gut umkippte. Der betäubende Knall, der Blitz, dort, wo das Royal Court Theatre lag. Violet lief langsamer.

»Weiter«, keuchte Kamarowski.

»Nur noch – ein kleines – Stück«, stieß der Chauffeur im Rhythmus seiner Schritte hervor.

Sie erreichten die Treppe zu Londons Unterwelt, quetschten sich mit anderen zusammen, liefen, stolperten in die Tiefe. Sloane Square Station war kein Tunnel, nur ein Schacht. Vom Perron aus konnte man oben die verdunkelten Häuser sehen. Zusammen mit der Herde geängstigter Menschen rannten sie auf die schwarze Öffnung zu, wo sonst Züge wie leuchtende Würmer aus der Dunkelheit auftauchten. Der Zug war irgendwo im Tunnel stehen geblieben.

Nach wenigen Yards konnte Violet nicht weiter. Sie lehnte sich an die gekrümmte Wand. Kamarowski hielt neben ihr und stützte die Hände auf seine Knie. Der Chauffeur merkte nicht sofort, dass die beiden stehen geblieben waren, und eilte weiter.

Das dumpfe Dröhnen. Die Einschläge waren genau über ihnen, ohne Ende, näher, ferner, überall. Dort oben stürzte der Himmel ein. Wo blieb die Strafe des Himmels?, dachte Violet. Wer bestrafte diejenigen, die die große alte Stadt London zerstörten? Wo blieb die Strafe für jene, die Feuer und Tod brachten?

War Maxine durch den Lärm aufgewacht? Wohin hatten sie das Kind gebracht? Hatte sie Hunger? Sie musste Hunger haben, es war die höchste Zeit. Ich muss ins Savoy, dachte Violet. Gleich, in ein paar Minuten. Gleich, Maxine, gleich.