Es war schon früher Abend, als Karla nach Hause kam. Zwischen den Kiefern leuchtete in blassem Orange die untergehende Sonne, und die Luft war nicht mehr T-Shirt-warm wie am Tag. Karla ging wie auf Wolken, und doch hatte sie andererseits das Gefühl, eine schwere Last auf ihren Schultern zu tragen. Sie hoffte inständig, heute Abend Jane nicht zu begegnen.
Wie sollte sie sich verhalten? So tun, als sei nichts gewesen, als habe sie Florian und Gina gar nicht getroffen? Das würde ihr schwer fallen. Es hatte ihr noch nie gelegen, sich zu verstellen.
Oder sollte sie mit der Tür ins Haus fallen und Jane alles erzählen? Eigentlich hasste sie Petzen.
Und überhaupt: Was hieß schon alles? Was lief da genau zwischen Florian und Gina? Wäre es nicht am besten, ihren Vater ins Vertrauen zu ziehen und sich mit ihm zu beraten? Oder wäre er am Ende sogar eifersüchtig, dass Gina ihm einen anderen Mann vorzog?
Es war wirklich zum Verrücktwerden! Kaum lief ihr eigenes Liebesleben endlich mal in geraden Bahnen, da crashte das ihrer Oma.
Normalerweise liebte es Karla, nach Hause zu kommen und Jane in der Küche rumoren zu hören. Das hieß, sie würden gleich zu dritt am Tisch sitzen, essen und lachen und quatschen, Jack würde seine Tochter necken, Karla sich über ihren Vater ärgern – und danach würde sie satt und zufrieden ins Bett fallen, die würzige Abendluft einatmen, die durchs Fenster hereinströmte, die Augen schließen und sich über niemand anderen Gedanken machen müssen als über sich selbst. Und das war schon mehr als genug, fand Karla. Damit war man ziemlich gut beschäftigt bis an sein Lebensende.
Doch heute war alles ruhig. Kein Geräusch drang aus der Küche – und kein Duft. Jack war nicht in seinem Billardzimmer, und auch von Jane war nichts zu sehen. Vermutlich war sie noch bei der Galerieeröffnung. Karla stromerte ein bisschen herum, trat vom Haus wieder hinaus in den Garten, stieß ihren rechten Fuß in ein Grasbüschel, während sich die kühle Nachtluft wie ein feuchtes Baumwolltuch über die Wiese legte. Als sie dicht an der Scheune vorbeikam, hörte sie von drinnen ein Schluchzen. Karla ging hin, legte ihren Kopf gegen das Holz und lauschte.
Kein Zweifel!
In der Scheune weinte jemand. Karla öffnete einen Spaltbreit die Tür, die in den Angeln quietschte. Jemand fuhr erschrocken zu ihr herum.
Jane.
Sie stand am Fenster und sah hinaus, während sie sich abwechselnd «Frustschutzbärchen», «Gute-Laune-Drops» und kleine Rechtecke «Herzschmerzstopper»-Schokolade in den Mund schob. Karla sah, wie ihre Großmutter hastig ein Lächeln auf ihrem Gesicht anknipste, aber es leuchtete nur kurz auf und verlosch dann wieder wie bei einem Kurzschluss.
«Was machst du hier?», fragte Karla.
«Ich essen meine Vorräte auf», antwortete Jane. «Bei der Galerieeröffnung gab es nur Fingerfood. Wenn du mich fragst, ist das nichts anderes als Puppenfutter im Teigmäntelchen, mit dem man die Leute an der Nase herumführt.»
Jane wischte sich hastig über ihre Augen, die feucht schimmerten.
Karla nahm ihrer Großmutter die Süßigkeiten weg. Doch kaum hatte sie die Schokolade im Silberpapier verpackt, angelte Jane nach der Tafel, wickelte sie wieder aus und steckte sich das nächste Stück in den Mund. «Hör mir doch auf mit diesem ganzen gesunden Kram!», bellte Jane.
«Was hast du wirklich?», bohrte Karla. «Du kannst doch unmöglich über Mini-Frühlingsrollen weinen.»
«Wenn das kein Grund ist», schniefte Jane.
«Es ist keiner», sagte Karla.
Jane ließ sich in einen der roten Sessel fallen, während ein Tränenbach aus ihren Augen stürzte. «Florian betrügt mich. Und wer Liebeskummer hat, braucht Pralinen und keine Algen.»
Karla glaubte, sich verhört zu haben. Einerseits war sie erleichtert, dass Jane Bescheid wusste. Andererseits hätte sie zu gern gewusst, wer um alles in der Welt ihre Großmutter informiert hatte.
Felix?
Das hätte er doch niemals hinter ihrem Rücken getan! Oder etwa doch?
«Woher weißt du das?», fragte Karla.
«Das tut doch nichts zur Sache.»
«Doch!» Karla setzte sich in den Sessel ihrer Großmutter gegenüber und reichte ihr die Box mit den Kleenex, wie Jane es neulich bei ihr getan hatte. «Jetzt erzähl schon!»
Jane brauchte noch einen Moment, um sich zu beruhigen, dann stammelte sie: «Ich habe Francesca aus dem ‹Rialto› getroffen, diese nette Kellnerin, als ich auf der Heimfahrt von der Galerie beim Drogeriemarkt neben der Eisdiele gehalten habe. Ich brauchte noch meine Antifaltencreme. Und Francesca hat mir erzählt …», ihre Stimme versagte, als würde sie es nicht über sich bringen, das Ungeheuerliche auszusprechen, «… sie hat mir erzählt, dass Florian im Café war in Begleitung einer jungen schönen Frau namens Gina und dass sie erst dachte …», wieder brach Janes Stimme, und es dauerte einen Moment, bis sie weitersprechen konnte, «… und dass sie erst dachte, Gina sei meine Tochter, aber als die beiden heftig miteinander geflirtet haben, hat sie gemerkt, dass sie nicht meine Tochter sein kann …» Erneut geriet Janes Stimme ins Stocken. Sie schüttelte fassungslos den Kopf, während die Silberkreolen an ihren Ohren nur so wackelten. Dann kam nur noch ein lang gezogenes Wimmern aus dem roten Sessel, das Karla durch Mark und Bein ging.
Sie erhob sich, ging zu Jane, setzte sich zu ihr auf die Lehne und streichelte ihr über ihr karottenrotes Haar, das sich borstig anfühlte wie Igelstacheln.
«Das ist doch nicht normal», schnaufte Jane, «ich eröffne eine Liebes-Ambulanz, um euch jungen Leuten zu helfen, und wer sitzt hier und heult sich bei seiner Enkelin aus? Ich! O Gott, o Gott, o Gott! Ist das peinlich! Warum musste ich mir nur meine blöde Antifaltencreme kaufen?!»
«Du hättest es doch sowieso erfahren», sagte Karla. «Und es ist immer besser, wenn man über die Dinge Bescheid weiß, findest du nicht?»
«Ich weiß nicht», antwortete Jane. «Manchmal ist es vielleicht besser, Sachen nicht zu wissen. Dann kann man in Würde doof bleiben. Ich hasse Liebeskummer.»
Wer nicht, dachte Karla, sagte aber nichts.
«Zuerst denkt man noch, papperlapapp, so eine kleine Schramme auf der Seele, was ist das schon? Aber dann infiziert sich das Mistding, und im Nu hat man eine fette Entzündung.» Jane schniefte noch ein paarmal, doch langsam ebbte das Schluchzen in ihrer Stimme ab. «Francesca hat gesagt, dass du auch in der Eisdiele warst. Mit Felix.» Jetzt lächelte Jane und nahm Karlas Hand.
«Hat sie sonst noch was erzählt?», fragte Karla, der es plötzlich heiß durch den Kopf schoss, dass vermutlich bald ganz Polchow über ihren Eis-und-heiß-Kuss Bescheid wissen würde.
«Sie hat nur gesagt, dass du glücklich wirktest.» Jane nickte. «Und das ist gut so. Wenn du magst, dann erzählst du mir bald mehr von Felix und dir, ja?» Sie sah Karla ernst an. «Hättest du mir eigentlich jemals etwas von Florian und Gina gesagt?»
«Ich weiß nicht», druckste Karla herum. «Ich habe mit mir gekämpft. Ich wollte nicht, dass man was hinter deinem Rücken tut. Andererseits wollte ich dich aber auch nicht verletzen.»
«Was für ein Gewissenskonflikt! Mein armes Mädchen.» Jane drückte Karla an sich. Langsam kehrte das Feuer in Janes Augen zurück – und die Wut in ihre Stimme. «Dieser elende Schuft! Aus dem mache ich Magerquark. Und erst diese Gina! Schon allein der Name! GINA! Klingt wie ein popeliger Kleinwagen! Ich wusste von Anfang an, dass sie nicht stubenrein ist.»
Karla lachte laut auf. «Ich glaube, es heißt astrein, Jane. Stubenrein, das gilt nur für Hunde.»
Jane lächelte unter Tränen und erhob sich. Sie ging zur Tür. «Vielleicht ist es doch nicht so gut, sich im Alter noch einmal zu verlieben. In der Botanik nennt man das Panikblüte. Noch einen Boom, ein letztes heftiges Aufblühen, bevor eine Blume für alle Zeiten verschwindet. Vermutlich war Florian meine Panikblüte.»
Jane war schon fast draußen, da rief Karla ihr nach: «Soll ich dir Speckpfannkuchen machen? Du sagst doch selbst immer, die helfen gegen alles. Dann doch bestimmt auch gegen Liebeskummer.»
«Klar helfen die. Aber nur 34 Stück hintereinander. Kriegst du das hin?» Damit ging Jane, wobei sie Karla noch einmal kurz zuwinkte.
Jetzt war Karla alleine. Sie schlenderte durch die Scheune und trat an ein Regal, in dem stapelweise Bücher lagen über Liebe und Leidenschaft, Partnerschaft und Pubertät, Kummer und Kräche und Küsse, Streicheleinheiten, Stress und Streit. Bücher von Psychologen und Philosophen und Paartherapeuten, von Biologen, Hormonforschern, Journalisten und Schriftstellern. Es kam Karla so vor, als hätte jeder, der auch nur einen Einkaufszettel schreiben konnte, schon mal versucht, schlaue Dinge über die Liebe zu Papier zu bringen.
Dabei war es doch ganz einfach. Liebe war etwas zwischen zwei Menschen, die sich toll fanden. Und wenn man jemanden ganz besonders toll fand, dann hieß diese Liebe Felix.
Karla überlegte gerade, ob Speckpfannkuchen nicht auch ohne Liebeskummer schmeckten, da klopfte es an der Tür.
«Ja», rief sie, neugierig darauf, wer jetzt in der Dunkelheit noch zu Jane wollte. Einen kleinen Moment später ging die Tür auf, und Jack trat ein.
«Jane ist nicht da», sagte Karla.
«Das sehe ich.»
«Ihr geht es nicht so gut.»
«Ich hab’s gehört. Das mit Florian und Gina hat sich in Windeseile rumgesprochen.» Jack schmunzelte, während er ein Stück Schokolade nahm und sich auf das nachtblaue Sofa fläzte. «So ist das eben, wenn man in der Provinz lebt.»
Karla setzte sich wieder in den roten Sessel und schlug die Beine übereinander. Irgendwie kam sie sich sehr therapeutisch vor. Fehlte nur noch eine Brille, dachte sie. Um ein Haar hätte sie Jack die Box mit den Kleenex gereicht. Sie sah ihren Vater aufmunternd an. «Und? Wie findest du das so mit Gina und Florian?»
«Also, ehrlich gesagt, mir ist das ziemlich egal. Sofern es einem egal sein kann, wenn die eigene Mutter mit 64 Jahren noch Liebeskummer hat. Andere lehnen sich dann im Schaukelstuhl zurück und bügeln aus lauter Langeweile ihr Lametta fürs nächste Weihnachtsfest.»
«Aber …» Karla war unsicher geworden. «Ich dachte, du bist auch verknallt in …»
«Gina?»
«Mhm.»
«Ich habe dir schon mal gesagt, dass das kompletter Humbug ist.»
Karla atmete auf. «Da bin ich aber froh. Ich hatte schon Angst, Mia und du, ihr würdet euch …»
«Trennen?», unterbrach sie ihr Vater.
«Genau.»
«Das werde ich vielleicht auch», sagte Jack, wobei seine Stimme so ruhig klang, als würde er beim Bäcker nach Paniermehl fragen. «Ich meine, mich von Mia trennen.»
Karla klappte der Unterkiefer runter. «Willst du mich veräppeln?»
«Nein. Ich meine es ernst.» Jack stand auf, nahm sich noch ein Stück Schokolade, schob ein Gummibärchen hinterher und ließ sich wieder auf das blaue Biedermeiersofa fallen.
«Wieso willst du dich von Mia trennen, wenn du nicht in jemand anderen verliebt bist?», sagte Karla und schüttelte verständnislos den Kopf. «Liebst du sie denn nicht mehr?»
«Doch, ich liebe sie noch. Aber sie ist so schrecklich eifersüchtig! So misstrauisch und besitzergreifend. Das tötet die Liebe. Die Sache im Kino neulich, die war doch unmöglich. Wobei ich zugeben muss …», sagte Jack mit gedehnter Stimme, «dass Eifersucht manchmal auch Spaß machen kann, wenn man derjenige ist, dem sie gilt.»
«Wo ist dann das Problem?», fauchte Karla. «Du hast doch selbst gesagt, Mia ist ein Schatz, und nach einem Schatz muss man lange …»
«Graben?» Jack seufzte. Er stand auf, kam auf Karla zu, beugte sich zu ihr hinunter und strich mit seinem kratzigen Kinn leicht über ihre Wange. «Ich fühle mich eben manchmal wie ein Cowboy. Ein einsamer Cowboy, vor allem seit dem Tod deiner Mutter, der hin und wieder seine Freiheit will», fuhr Jack mit melancholischer Stimme fort.
«Moment mal!» Karla flutschte an ihrem Vater vorbei aus dem Sessel und baute sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm auf. «Komm bloß nicht auf dumme Gedanken!», warnte sie ihn. «Was du eben gesagt hast, klingt a) mal wieder nach Umzug, den du dir abschminken kannst, und b) solltest du in deinem Alter langsam wissen: Cowboys, die einsam sind, sind nicht wirklich frei.»
«Wow! Wo hast du denn das schon wieder her?»
«Das habe ich mal irgendwo gehört», sagte Karla. «Und es hat mir gefallen.»
«Ja, es klingt gut, und wahrscheinlich ist sogar etwas Wahres dran.» Jack gab ihr einen Kuss. «Gute Nacht, mein Schatz! Ich lasse mir alles nochmal durch den Kopf gehen. Man sollte von Erwachsenen nicht immer verlangen, dass sie auf alles eine Antwort haben. Meistens haben sie genau wie ihr nur Fragen. Fragen. Fragen.» An der Tür drehte ihr Vater sich um. «Außerdem bleiben wir doch so oder so eine Familie, jetzt wo du und Felix …» Er zwinkerte ihr zu, während Karla ihn anstarrte. «Ich sag’s ja: In der Provinz bleibt nichts unentdeckt.»
Auf einmal war Karla furchtbar müde. Sie legte sich auf das blaue Sofa, schnappte sich das Fransenplaid mit den Massai-Kriegern auf maisgelbem Stoff, das über der Lehne hing, deckte sich zu, kugelte sich ein wie eine Katze und schloss die Augen. Der Tag zog wie ein Film an ihr vorbei. Und sie wünschte sich für alle Darsteller in diesem Film nur eins: ein Happy End. Karla fühlte, wie der Schlaf kam, wie ihre Glieder kurz zuckten, als stünde ihr Körper unter elektrischer Spannung, wie ihre Mundwinkel schlaff wurden – da klopfte es wieder an der Tür.
Erst dachte sie, sie hätte nur geträumt. Aber es klopfte erneut, diesmal heftiger, sie rappelte sich auf, rief «Herein!», schüttelte Decke und Schlaf ab, die Tür ging auf – und auf der Schwelle standen Johanna, Jonas und Charlotte.
Karla hatte sofort ein schlechtes Gewissen, als sie die Mädchen sah. Sie war wirklich eine tolle Sportsfreundin gewesen, dachte Karla. Erst war sie rasend vor Eifersucht, dann plumpste sie vom Pferd und kam für gemeinsame Ausritte nicht mehr in Frage, und dann vergaß sie fast noch das Abschiednehmen.
Sie grinste die drei schief an. Sie traten ein und guckten sich um. Ein Liebeslabor in der Scheune – so etwas sahen sie bestimmt nicht alle Tage.
«Cool», sagte Charlotte.
«Irre», sagte Johanna.
«Kitschig», sagte Jonas.
«Deine Oma ist echt crazy», lachte Charlotte. «First-Love-Ambulanz – auf die Idee muss man erst mal kommen.»
Sie setzten sich. Charlotte und Karla in die roten Sessel, Jonas und Johanna auf die Couch. Sie hakten ihre Finger ineinander und rückten so dicht zusammen, dass nicht mal mehr eine Daunenfeder zwischen sie gepasst hätte. Karla beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
«Wir sind richtig lange ausgeritten», erzählte Charlotte. «Mia hat Gina eine Satteltasche gegeben, und in der haben wir dann alles für ein Picknick verstaut. Gegen drei waren wir zurück, und Gina ist in die Stadt gefahren. Schade, dass du nicht bei unserem Ausflug dabei warst! Wir hatten sehr viel Spaß und haben viel gelacht.»
Johanna schaute sehnsüchtig auf die rote Herzlampe im Fenster. «Schön wär’s, wenn wir auch hier wohnen könnten.»
«Ja, es wäre toll, wenn wir hier einen eigenen Stall hätten, in dem unsere eigenen Pferde stehen würden», sagte Charlotte.
«Das wäre gigantisch», seufzte Johanna. «Aber leider ist es nur ein Traum. Ein schöner Traum.»
Charlotte beugte sich zum Sofa rüber und knuffte ihre Freundin in die Seite. «Dann müssen wir eben sparen. Träume erfüllen sich nicht von alleine. Dafür muss man schon was tun.»
«Sehr lange sparen», sagte Johanna, und Karla merkte, wie gepresst ihre Stimme klang. Sie klang nach Abschiedsschmerz und unterdrückten Tränen. Aber vermutlich war Johanna gar nicht enttäuscht, weil sie kein eigenes Pferd hatte, sondern weil sie mit mindestens dreihundertachtzig PS in die Arme von Jonas gerauscht war. Würde diese Liebe ein Happy End haben? Würde sie all die Kilometer überstehen, die zwischen Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern lagen?
Es war, als würde Johanna das Gleiche denken, denn ihr schossen die Tränen in die Augen, und sie lief nach draußen. Jonas sprang auf und folgte ihr.
Nun waren sie alleine. Charlotte und sie. Eine Weile sprach keine von beiden ein Wort.
«Ich werde dich vermissen, Karla», sagte Charlotte schließlich.
«Wieso denn das?» Karla guckte sie groß an.
«Vielleicht weil du ein nettes Mädchen bist. Eigentlich.»
«Ich bin nicht nett», sagte Karla und zog eine Schnute. «Ich bin ein richtiger Mistkäfer.»
Charlotte sah Karla lächelnd an, widersprach aber nicht.
«Da freue ich mich, dass ich in den Osterferien Gesellschaft habe», fuhr Karla fort, «und dann vermassele ich alles. Ich habe mich dir gegenüber unmöglich benommen.»
«Du kannst doch nichts dafür, wenn du vom Pferd fällst.»
«Das kam doch alles nur, weil ich so schrecklich eifersüchtig auf dich war.»
Wieder sagte Charlotte nichts, sondern sah Karla nur an.
Karla zögerte einen Augenblick. Sollte sie Charlotte wirklich alles beichten? So gut kannten sie sich nun auch wieder nicht. Doch dann fing Karla an zu erzählen. Wie sie damals hierher gekommen – und wie Felix in ihr Leben getreten war. Dass sie seither verknallt in ihn war – und dass sie sich gestern zum ersten Mal geküsst hatten.
«Hey! Was willst du mehr? Ihr habt euch geküsst! Dann ist doch alles bestens!», jubelte Charlotte, hüpfte aus ihrem Sessel und fiel Karla so stürmisch um den Hals, dass die vor Schmerz kurz zusammenzuckte. «Oh, entschuldige! Ich bin ein Trampel.» Sie klopfte mit der geballten Faust leicht gegen Karlas Stirn. «Aber wieso warst du ausgerechnet eifersüchtig auf mich?»
«Weil du so hübsch bist, dass vermutlich jedes Mädchen Panik kriegt, wenn du auftauchst, und dich ungefähr so gern in der Nähe seines Freundes hat wie eine Mutter ihren Sechsjährigen am Steuer. Ist es denn nicht eher so, dass die Jungs dir in Scharen nachlaufen?»
«Pffffttt», machte Charlotte. «Sollen sie doch, wenn sie nichts Besseres zu tun haben.»
Plötzlich liefen auch Karla die Tränen über die Wangen wie vorhin Jane und eben Johanna. Plötzlich war alles zu viel.
Zu viel Chaos.
Zu viel Glück.
«Und dann habe ich gesehen, wie Felix dich auf Janes Flohmarkt geküsst hat.»
«Zum Ge-burts-tag», sagte Charlotte und betonte jede Silbe, während sie Karla ein Kleenex reichte. «Nachträglich.»
«Ich weiß», schniefte Karla, wischte sich mit dem Papiertuch über die Wangen und knüllte es in ihrer Hand zusammen.
Charlotte schüttelte ungläubig den Kopf. «Und warum sollte er in mich verschossen sein, wenn er dich haben kann? Ich finde, du bist sehr schön», sagte Charlotte und reichte Karla noch ein Kleenex, dann verzog sich ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen. «Vor allem ganz schön bescheuert.»
Karla lachte, während sie weinte.
Charlotte sah Karla überrascht an. «Jetzt kapiere ich langsam. Du bist abgehauen, als du Felix und mich gesehen hast, und dann bist du geritten wie der Teufel, und dann hat’s dich geschmissen …»
Karla schnäuzte sich. «Ein Storch hat Star aufgescheucht.»
«Och, Karla, wir sind doch echt zu alt, um noch an den Klapperstorch zu glauben!»
«Klingt total bekloppt. War aber so!», nuschelte Karla und nagte an ihrer Unterlippe.
«Dann ist wohl doch was dran an dem Spruch: ‹Auch das bravste Pferd sticht einmal der Hafer.›»
«Ihr habt in Deutschland so viel komische Sprichwörter.»
«Man sagt, zu keinem anderen Pferd passt dieser Satz so gut wie zu einem American Quarter Horse», erklärte Charlotte. «Eben noch sanft wie ein Steiff-Teddy, kriegen sie plötzlich ihre verrückten fünf Minuten.»
«Star doch nicht.»
«Rasse bleibt Rasse», widersprach Charlotte, ging zur Herzlampe am Fenster und schaltete sie mehrmals hintereinander ein und aus. «SOS an Felix», sagte sie und lachte Karla ins Gesicht, «Karlas Herz brennt lichterloh. Geht ihr jetzt eigentlich zusammen?»
Karla zuckte mit den Schultern. «Ich glaube schon. Irgendwie.» An diese Tatsache musste Karla sich erst mal gewöhnen. Wenn sie es recht bedachte, dann konnte sie ihr Glück noch gar nicht richtig fassen. Gut, einen Prinzen wie Felix hatte man vermutlich nie ganz für sich alleine. Aber dafür küssten die meisten Mädchen eben auch nur Frösche.