11 Boxenküsse

Am nächsten Morgen knallte die Sonne in Karlas Zimmer. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag im April, der heute anscheinend August spielte. Karla schlug die Augen auf. Eigentlich liebte sie es, noch liegen zu bleiben und in den Tag zu träumen, doch heute wollte sie so rasch wie möglich aufstehen. Sie schwang vorsichtig ihre Beine über die Bettkante, ging zu ihrem Schrank und streifte Jeans und T-Shirt über. Dabei beobachtete sie Cola, die neben ihrer Katze Fanta auf dem Teppich vor dem Bett döste. Um Colas Nase schwirrte eine Fliege. Cola war zu träge, um zu reagieren. Doch irgendwann reichte es ihr. Sie hob den Kopf und schnappte zu.

Karla lächelte in sich hinein. Die Methode war gar nicht so übel. Abwarten. Zeit gewinnen. Und irgendwann zuschnappen. So hatte sie es auch bei Felix gemacht.

Oder er bei ihr?

Wie auch immer: Es hatte funktioniert.

«Braver Hund», rief sie Cola zu, dann ging sie aus dem Zimmer.

In der Küche nahm sie eine Karaffe aus dem Kühlschrank und trank in hastigen Zügen ein Glas frischen Orangensaft, den ihr Vater wie so oft morgens gleich nach dem Aufstehen gepresst hatte. Dann verließ sie das Haus. Auf den Stufen vor der schweren Holztür lag die Zeitung. Karla bückte sich und ächzte. Das Bücken tat immer noch weh. Die Zeitung war ein wenig zerfleddert, vermutlich hatte der Bote sie lieblos vom Fahrrad aus auf die Treppe geworfen. Und so fiel Karla der Lokalteil entgegen.

Und mit ihm ihre Oma.

Sie sah ein großes Foto von Jane. Im Garten vor der Scheune. Jane ganz in Rot, mit ihren Herzclips an den Ohrläppchen, mit lackroten Lippen und einem großen Herzluftballon in Händen. Karla wurde ganz schlecht, als sie das Bild betrachtete. Dann fiel ihr Blick auf die Titelzeile darunter.

«Dr. Love heilt Liebeskummer», las Karla.

Das war fast schon makaber, dachte sie. Wäre das alles nicht so bitterernst gewesen, hätte sie losgeprustet. Ausgerechnet Dr. Love hatte den schlimmsten Liebeskummer! Wenn das keine Ironie des Schicksals war. Karla beschloss, Jane den Schock fürs Erste zu ersparen, legte die Zeitung unter die Fußmatte und machte sich auf den Weg durch das Wäldchen hinüber zur Happy Horse Ranch.

Sie hatte Sehnsucht nach Felix, und sie wollte sich noch von Johanna verabschieden, die gestern Abend nicht mehr bei Karla aufgetaucht war. Dafür hatte sie noch lange mit Charlotte gequatscht, die sie in ihr Herz geschlossen hatte. Im Augenblick hockten da ganz schön viele drin, fand Karla. Das Boot war voll. Ganz vorne ruderte Felix, und auf den Holzbänken dahinter saßen Jack und Jane und Mia und seit neuestem auch Charlotte. Und natürlich würde auch Amy dort immer einen Platz haben, ihre allerbeste Freundin aus den USA, die sie zurückgelassen hatte bei ihrem Umzug nach Deutschland und die an Weihnachten zu Besuch gekommen war. Sie würde in den Sommerferien wiederkommen, das hatten sie sich gegenseitig geschworen.

Als Karla auf den Reiterhof kam, standen alle Pferde einschließlich Star auf der Koppel. Die Tür zum Stall war offen. Sie trat ins Halbdunkel. Eine Schubkarre stand in der geöffneten Tür zu Stars Box, eine Mistgabel schwang in flottem Tempo auf und ab. Dann sah Karla einen blonden Schopf und ging auf die Box zu. Sie erblickte Felix.

Das war Liebe, dachte Karla.

Die Box ihres Pferdes auszumisten war das Tollste, was jemals ein Junge für sie getan hatte. Und Felix war sogar so umsichtig gewesen, Star vorher auf die Weide zu bringen, denn Pferde hatten es nun mal nicht gern, wenn man mit einer spitzen Gabel vor ihrer Nase herumfuchtelte. Als Felix Karla sah, lehnte er die Mistgabel gegen die Wand, sie quetschte sich an der Schubkarre vorbei und trat einen Schritt auf ihn zu.

«Du weißt wirklich, wie man mit Pferden umgeht», sagte Karla und fügte nach einer kleinen Pause grinsend hinzu, «und mit Mädchen.»

«Wie komme ich zu dem Kompliment?»

«Weil es clever ist, ein Pferd rauszuführen, bevor man ausmistet.»

«Habe ich dir noch nie die Geschichte von der Freundin meiner Mutter erzählt, die sich beim Saubermachen der Box den Finger gebrochen hat?»

«Nee.»

«Also: Sie war unter Zeitdruck, arbeitete schnell, wedelte vor dem Hengst in der Box ziemlich hektisch mit der Mistgabel herum, bis der die Schnauze voll hatte, auskeilte und ihr den Zeigefinger einklemmte zwischen Wand und Gabelstiel. Trümmerbruch! Guten Morgen, Engel! Hast du gut geschlafen?»

«Super!»

Felix kam näher, so nah, bis sein Atem ihr Gesicht streifte. Er fasste um ihre Taille. «Weißt du, weshalb ich wirklich Star aus der Box gebracht habe?», fragte er.

«Nein.»

«Weil ich nicht wollte, dass er sieht, wie ich dich küsse. Hinterher ist er noch eifersüchtig und keilt aus wie der Hengst von der Hektischen.»

Karla kicherte. Dass Star vor Eifersucht raste, war eine witzige Vorstellung. Star und Felix im Clinch. Und ganz allein ihretwegen. Vielleicht stach ja dann beide der Hafer. Felix legte ihr seinen anderen Arm um die Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie.

Nichts mehr zählte für Karla als dieser Kuss mitten im Stall, wo es warm war und nach Heu roch. Sie erinnerte sich, dass Felix vor langer Zeit hier im Gang zwischen den Pferdeboxen auch Tessa geküsst und wie weh ihr das getan hatte. Aber das war Vergangenheit. Heute gab es keine Tessa mehr und keine Maren, heute gab es nur noch sie, Karla, und diesen Boxenkuss, der kein Ende nahm. Vermutlich hatte Felix wirklich Recht gehabt, überlegte Karla. Star würde glatt rot werden unter seiner schwarzen Mähne, wenn er das hier sehen könnte.

«Häm … hm … hmmm …»

Karla und Felix fuhren auseinander, aufgeschreckt durch ein Räuspern. Charlotte und Johanna standen vor ihnen und grienten sie an.

«Wir wollten uns verabschieden», sagte Charlotte. «Gina will gleich los.»

Gemeinsam verließen sie den Stall. Draußen vor der Tür stand Jonas. Ginas Auto parkte bereits gepackt auf dem Hof, aber sie selbst war noch nicht da. Ob sie sich noch von Florian verabschiedete?, grübelte Karla.

Charlotte hakte sich bei Karla ein. «Wir werden ganz bald wiederkommen. Das schwören wir.»

«Da würde ich mich riesig freuen», rief Karla. «Dann können wir zusammen tolle Sachen unternehmen, und ich verspreche, auch nicht wieder vom Pferd zu fallen.»

Felix und Jonas verschränkten die Arme vor der Brust. «Und was ist mit uns?», schmollte Felix. «Sollen wir Mikado spielen? Oder Mau-Mau?»

«Manchmal wollen Mädchen eben auch was alleine machen», sagte Charlotte.

Das sah Karla zwar im Moment ganz anders, aber sie sagte nichts. Musste sie doch nicht jedem auf die Nase binden, dass sie keine Sekunde mehr ohne Felix sein wollte.

«Vielleicht kommen wir ja schon in den Sommerferien wieder», sagte Johanna und schaute Jonas tief in die Augen. Es war ein trauriger Blick, in dem ein kleiner Hoffnungsschimmer glühte wie ein Funke an einem verglimmenden Streichholz.

«Wird Gina denn im Sommer auch wieder mitkommen?», wandte sich Karla an die Mädchen.

«Nein», rief da eine fröhliche Stimme hinter ihr. «Das wird sie nicht.»

Alle drehten sich um und sahen Gina an, die mit dunkler Sonnenbrille und wippendem Pferdeschwanz auf sie zukam. «Ich werde im Sommer heiraten und in den Ferien in die Flitterwochen nach Florida fliegen.»

Karla starrte sie entgeistert an. «Sie werden was?!»

Gina schaute sie mit gespielter Entrüstung an. «Zum allerletzten Mal, Karla! Wir waren beim Du!»

«Du wirst was?», wiederholte Karla.

«Heiraten.»

«Und wen?» Bitte, lieber Gott, flehte Karla leise, jetzt lass sie nicht sagen: Florian Flostrand! Das würde Gina und Florian zwar in puncto überstürzte Hochzeiten ins Guinness-Buch der Rekorde bringen, Jane aber würde es garantiert nicht überleben.

«Ihr kennt ihn nicht», antwortete Gina. «Er heißt Mark, ist Surflehrer und Krankengymnast und sieht so verboten gut aus, dass er eigentlich in eine Pralinenschachtel gesperrt und weggeschlossen gehört.»

«Aber …», sagte Karla, «aber ich dachte, Sie und … ich meine, du und …»

«Florian? Ein harmloser kleiner Urlaubsflirt, sonst nichts. Man muss immer erst ein paar Qualifikationsrennen absolvieren, bevor man ins Finale einläuft.» Sie schob die Sonnenbrille in die Stirn und blinzelte Karla, Charlotte und Johanna zu. «Merkt euch das für später, Mädels!» Dann wandte sie sich erneut an Karla. «Ich habe deiner Großmutter schon alles erklärt. Alles paletti!»

Karla stieß einen Schwall Luft aus. Das war ein Ding! Die ganze Aufregung umsonst. Dr. Love konnte also aufatmen. Aber konnte Dr. Love auch verzeihen?

 

Ein paar Minuten später stiegen die drei ins Auto. Mia kam zum Abschied hinausgelaufen, auch Jack tauchte auf, um «tschüs» zu sagen, nur Jane und Florian ließen sich nicht blicken. Dann fuhren sie ab. Gina hupte, Charlotte winkte, Johanna weinte. Sie schaute so lange aus dem Rückfenster, bis sie nur noch wie ein großer dunkler Punkt an der Scheibe klebte. Auch Jonas schien der Abschied nahe zu gehen, denn er nuschelte hastig einen Gruß vor sich hin und machte sich auf den Rückweg ins Pfarrhaus.

Blieben nur noch sie zurück und Jack und Mia. Karla beobachtete, wie ihr Vater Felix’ Mutter in den Arm nahm und wie sie beide eng umschlungen davongingen. Auch das schien ein gutes Ende zu nehmen.

Felix trat zu ihr hin, schob den kurzen Ärmel ihres roten T-Shirts hoch und drückte ihr einen Kuss auf die nackte Schulter.

«Endlich sind wir sie alle los!», sagte er, während seine Lippen an ihrem Hals entlang höher wanderten.

«Hey, Felix!», vernahm Karla plötzlich Jacks Stimme hinter sich. «Tickst du noch richtig? Du küsst meine Tochter!»

Doch wenn sie glaubte, Felix würde jetzt zusammenzucken, dann hatte Karla sich getäuscht. Er grinste Jack frech ins Gesicht. «Und du umarmst meine Mutter!»

Mia sah erstaunt von Karla zu Felix und wieder zurück. «Ich wusste ja gar nicht», hauchte sie. «Karla! Felix! Ihr beide? Ich hatte ja keine Ahnung.»

Felix zuckte mit den Achseln. «Seit wann haben Eltern Ahnung? Da wärt ihr die ersten auf der Welt.»

«Karla ist erst 14», sagte Jack zu Felix und sah ihn streng an.

«Karla ist schon 14», widersprach Karla.

Jack guckte Karla und Felix drohend an. «Hört sofort auf damit!»

«Komm wieder runter, Daddy!», sagte Karla.

Jack schüttelte den Kopf. «Zustände sind das hier! Unglaublich!»

Alle drei guckten ihn irritiert an. Was würde jetzt kommen? Eifersüchtige Väter waren zu allem in der Lage. Man konnte zwar nicht immer auf sie zählen, aber man musste bei ihnen mit allem rechnen.

Doch dann kam die Entwarnung. Ein Lächeln glitt über Jacks Gesicht. Aus dem Lächeln wurde ein Lachen, und dieses Lachen war ansteckend. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen, und alle Anspannung der letzten Tage und Wochen schien von ihnen abzufallen.

Als sie sich beruhigt hatten, zog Mia Karla ein Stück zur Seite. «Bin ich jetzt deine Schwiegermutter in spe oder deine Stiefmutter in spe?»

Statt einer Antwort brummte Karla etwas Unverständliches. Es war ihr unangenehm, mit Mia darüber zu reden, denn es war kaum anzunehmen, dass ihr Vater wieder heiraten würde. Doch das behielt sie besser für sich. Es hatte schon genug Herzens-Verletzte gegeben in den vergangenen Tagen. Und so viel Kapazitäten hatte selbst Janes First-Love-Ambulanz nicht.

«Und du?», kicherte Mia. «Bist du nun meine zukünftige Stieftochter oder meine zukünftige Schwiegertochter?» Sie legte ihren Arm um Karlas Schulter. «Ach, entschuldige! Ich bin albern. Ich bin so froh, dass Gina mit Florian und nicht mit Jack …» Sie presste erschrocken ihre Hand auf den Mund. «Was rede ich da nur? Natürlich bin ich nicht froh, dass Jane solchen Kummer hatte. Da siehst du, wie dumm Liebe macht, als hätte man plötzlich einen Intelligenzquotienten von sechzig, das Ganze gewürzt mit einer großen Portion Blindheit und einer Prise Minderwertigkeitskomplexen …»

«Was tuschelt ihr beiden denn da?», unterbrach sie Jack, gab Mia einen Kuss auf die Wange und ging mit ihr davon.

Nun waren Felix und Karla wirklich allein. Endlich allein. Aber Karla war unruhig. Sie erzählte Felix von dem Artikel in der Zeitung. «Ich muss mal nach Jane sehen! Bin gespannt, wie sie reagiert, jetzt wo sich herausgestellt hat, dass alles nur halb so schlimm war.»

«Rache ist eine Speise, die kalt genossen wird», sagte Felix mit dramatischem Unterton in der Stimme.

«Ich glaube, meine Großmutter hat es nicht so sehr mit Rache.»

«Das wäre aber ganz und gar untypisch für euch Frauen.»

«Idiot!» Karla puffte ihn in die Seite. Sie wollte los, aber eine Sache musste sie noch wissen. «Du, Felix, würdest du eigentlich sagen, dass wir jetzt zusammen sind, ich meine, so richtig? Oder bin ich nur eine nette Abwechslung für dich, bis du dich in das nächste Mädchen verknallst?»

Felix sah sie zärtlich an. «Was glaubst du?»

«Ich weiß nicht.»

«Das musst du doch fühlen.»

Karla lächelte. «Es fühlt sich ziemlich gut an.»

«Siehst du. Dann ist es genau richtig. Und jetzt geh du zu Jane, und ich reite Star, damit der faule Sack endlich mal wieder in die Hufe kommt.»

«Du bist ungerecht. Star kann doch nichts dafür, dass er eine Zwangspause machen muss.»

«Eben! Und deshalb bringe ich ihn jetzt auf Trab! Bei dir habe ich das ja auch geschafft.» Felix gab ihr noch einen Kuss und lief davon in den Stall, um das Sattelzeug zu holen.

Gleich darauf kam er auf die Koppel zurück, sattelte Star, schwang sich in den Steigbügel, winkte ihr nochmal zu und ritt los. Ungefähr hundert Meter hinter der Happy Horse Ranch ging es links in den Wald. Kurz vor dem Wald stand ein Sperrschild für Radfahrer, an dem man sich vorbeischlängeln musste. Daran merkte Karla immer, wie konzentriert Star war. Dann folgte ein kurzer Weg über eine kleine Brücke, anschließend ein Absperrbalken mit einem schmalen Durchgang, und schon lag der Reitpfad vor einem. Auch als Felix und Star ihren Blicken entschwunden waren, ritt Karla im Geiste mit ihnen.

Karla hatte sich selten so gut gefühlt. Um sie herum gab es nur Sonne. Und Pferde. Und Glück. Sie wusste, Star war in den besten Händen – und Felix ebenfalls. Sie konnte also ganz beruhigt hinüber zum Gutshaus gehen, um zu schauen, wie es Jane ging.

 

Sie sah die Mädchen schon von weitem. Es waren fünf oder sechs. Sie standen in einer Reihe vor der Scheune. Jane spazierte auf hohen roten Hacken in Schlangenlinie von einer zur anderen und notierte sich etwas auf einem Block. Sie trug am rechten Ohrläppchen einen pinkfarbenen Clip mit den Buchstaben LO und am linken einen mit VE. Dazu hatte sie sich einen weißen Kittel übergestreift, auf dessen Rückseite ein großes rotes Herz aufgemalt war. Am Revers blinkte eine rote Herzbrosche, auf der Nase trug sie eine lila Schmetterlingsbrille mit Silberglitzer. Dr. Love im Einsatz, dachte Karla und hatte schon wieder Mühe, nicht in Gelächter auszubrechen. Aber das durfte sie nicht. Sie wollte die Mädchen, die zu Jane gekommen waren, auf keinen Fall aufschrecken. Sonst würden sie am Ende noch davonflattern wie menschenscheue Waldamseln. Und das wollte Karla auf keinen Fall riskieren. Sie hatten sicherlich all ihren Mut zusammengenommen, um hierher zu kommen. Und Jane hatte ihre Patienten. Jedem war also geholfen. Der Artikel in der Zeitung zeigte Wirkung.

 

Sie selbst, dachte Karla erleichtert, hatte zum Glück keine Liebesberatung nötig. Sie war hier so fehl am Platz wie eine Amsel im Aquarium. Trotzdem war sie neugierig auf die Probleme der anderen, und deshalb pirschte sie sich an die Gruppe heran. Sie hörte, wie ein hübsches Mädchen mit meckikurzen schwarzen Haaren die Worte ausspuckte: «Jungs sind solche Mistkerle!» Sie schluchzte und warf sich ihrer Freundin in die Arme.

Schließlich vernahm Karla Janes Stimme, die resolut sagte: «Für dich gilt jetzt Notfallprogramm Stufe eins! Du nimmst einen kleinen Koffer und gehst für heute Nacht zu deiner Freundin. In den Koffer packst du eine CD mit deiner Lieblingsmusik, ein schönes Badeöl, Geld für den Pizzaservice, eine große Tafel Schokolade und ein Foto deines Ex auf Pappe.»

Das Mädchen schaute Jane fragend an. «Und wozu soll das Foto gut sein?»

«Warte! Ich bin noch nicht fertig.»

Karla sah, wie Florian Flostrand unbemerkt von Jane um die Ecke gebogen kam und genau wie sie Janes Worten lauschte.

«Dann besorgst du dir noch ein paar Dartpfeile …», Jane machte eine kleine Kunstpause, «… muss ich noch mehr sagen?»

Die Mädchen lachten. Karla fiel mit in ihr Lachen ein. Das Mädchen mit dem Meckischnitt wirkte schon viel fröhlicher. Nur Florian verzog sein Gesicht, als würden die Dartpfeile gerade sein Herz durchbohren.

Dr. Love schreckte wirklich vor nichts zurück.

Karla war beeindruckt.

Nachdem Jane noch mit einigen Mädchen gesprochen und ihnen Termine gegeben hatte, warf sie einen Tiefkühlblick in Florians Richtung und kam auf Karla zu. «Na, mein Schatz, wie geht’s dir?»

«Super! Und dir?»

«Es ging mir nie besser.»

Karla sah zu Florian, der in einiger Entfernung auf der Wiese stand und die Spitzen seiner Schuhe studierte.

Karla deutete mit dem Kopf in seine Richtung. «War doch anscheinend ganz ungefährlich zwischen Gina und ihm.»

«Zwischen Männern und Frauen ist es selten ungefährlich», sagte Jane und legte den Arm um Karlas Taille. «Aber ich sage dir was! Ich werde ihn noch ein bisschen zappeln lassen und ihm dann großzügig verzeihen. Man muss es immer wieder neu probieren. Alles andere wäre feige. Manche steigen nach einem Sturz nie wieder aufs Pferd. Andere können es gar nicht abwarten, wieder loszutraben. Und dabei denke ich jetzt nicht nur ans Reiten.»

Jane stupste Karla mit der Spitze ihres Zeigefingers auf die Nase, dann ging sie auf das Haus zu, wobei Florian ihr mit zögernden Schritten folgte.

 

Als Karla an diesem Abend im Bett lag, spürte sie nicht nur ihr Kreuz, sondern jeden einzelnen Knochen vor Müdigkeit. Ein bleicher Mond linste durch die Zweige vor ihrem Fenster. Sie wusste, dass es gleich klopfen und ihr Vater nochmal nach ihr sehen würde, wie er es immer tat, bevor sie einschlief. Sie hoffte nur, er würde es bald tun, lange konnte sie ihre Augen nicht mehr aufhalten. Fast war es, als hätte Jack ihre Gedanken erraten, denn plötzlich trommelten seine Finger so leise gegen die Tür wie Regentropfen ans Fenster.

«Ja», gähnte Karla.

Jack trat ein. «Ich wollte dir nur gute Nacht sagen.» Er kam auf das Himmelbett zu, hinter dessen weißen Schleiern sich Karla eingekuschelt hatte. «Darf ich mich noch kurz zu dir setzen, Kleines?»

Statt einer Antwort rutschte Karla ein wenig zur Seite.

«Deinem Rücken geht es schon besser, oder?»

«Immer besser», sagte Karla.

Jack betrachtete seine Tochter, als würde er sie zum ersten Mal sehen. «Bis vor ein paar Tagen habe ich gar nicht so richtig mitgekriegt, dass du in Felix …»

«Verknallt bist?», vollendete Karla seinen Satz.

«Ja. Ich frage mich nur: Bin ich wirklich so unsensibel – oder bist du einfach eine verdammt gute Schauspielerin?»

«Wahrscheinlich beides», lachte Karla.

«Vermutlich hast du Recht, auch wenn das nicht gerade schmeichelhaft für mich ist», gab Jack zu, lehnte sich zu ihr rüber und stützte seinen Ellbogen auf Karlas Kopfkissen. «Du bist auf einmal so erwachsen!» Jack strich Karla übers Haar.

«Im Augenblick bin ich nur müde.» Schon wieder musste Karla gähnen.

«Dann lass ich dich am besten schlafen!»

«Was ist jetzt eigentlich mit dir und Mia?», murmelte Karla, während ihr die Augen zufielen.

«Ich bin wohl doch lieber ein zufriedener Cowboy als ein einsamer. Da hast du völlig Recht gehabt. Und wenn das nur mit Eifersucht zu haben ist, okay.»

Karla spürte, wie Jack aufstand, ihr die Decke bis zum Kinn zog und ihr mit der Kuppe seines Zeigefingers etwas von der Wange tupfte.

«Eine Wimper», sagte er. «Du darfst dir etwas wünschen.»

Karla musste lange überlegen.

Was sollte sie sich wünschen?

«Ich habe alles», brummte sie.

«Das ist schön. Schlaf gut, Kleines! Und träum was Schönes!»

Sie hörte, wie ihr Vater die Wunschwimper in die Luft pustete und kurz darauf leise die Tür ihres Zimmers schloss.

Karla freute sich schon auf den nächsten Tag. Und auf die kommende Nacht, in der sie sehr gut schlafen würde. Es war die 5263. ihres Lebens. Und es würde eine der besten werden. Sie konnte in Ruhe alle Sehnsucht zum Teufel jagen, denn ihre Wünsche waren Wirklichkeit geworden.

 

Gleich würde sie einschlummern, von ihrem Glück träumen und in die Nacht fliegen.