2 Westfälisches Blindhuhn

Mittags um eins rollten immer noch dunkle Wolken über den Himmel. Wind und Regen hatten sich nicht verzogen, dafür ließen die Gäste auf sich warten. Wo blieben sie bloß? Karla wurde langsam ungeduldig. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging sie in den Stall zu ihrem Pferd Star. Felix spielte Schlagzeug in der alten, mit Eierpappen isolierten Scheune nebenan, Mia schnippelte in der Küche Gemüse für einen Eintopf, und Jack war schnell hinübergelaufen zum Gutshaus, um sich umzuziehen. Karla schob die Tür zu Stars Box auf, fütterte ihr Pferd mit einer Mohrrübe, dann zog sie den Prospekt einer Tierfutterhandlung aus der hinteren Tasche ihrer Jeans, lehnte sich gegen die Boxenwand und las Star mit gespreizter Stimme vor, wie es manche schwarz befrackten Ober in guten Restaurants tun.

«Also», sagte Karla, «auf was hat der Herr Appetit? Auf einen Vita-Sport-Pferde-Snack, Geschmacksrichtung Minze oder Apfel-Zimt? Auf ein Pferde-Leckerli mit Bananen-Aroma? Einen Mineral-Leckstein in Karotte oder Kirsch? Oder auf den Pferde-Happen mit Kräutern oder Mais?» Karla lachte, während der dumpfe Rhythmus von Felix’ Schlagzeug bis zu ihr in den Stall drang. «Sind die nicht verrückt?» Sie tätschelte Stars Hals und steckte den Prospekt wieder ein. «Demnächst gibt es noch Pferde-Pizza und Pferde-Pralinen. Dir reichen Heu und Möhren, was?! Und ab und zu zur Belohnung mal ein Zuckerstückchen.»

Endlich hörte sie auf dem Hof das Geräusch eines Autos. «Da sind sie», sagte Karla zu Star. «Wurde ja auch Zeit.»

Sie streichelte nochmal den schönen Pferdekopf mit dem weißen Stern zwischen den Augen, der Star seinen Namen gegeben hatte, dann verriegelte sie die Boxentür und rannte nach draußen. Ein schwarzer Geländewagen parkte direkt vor dem Wohnhaus der Happy Horse Ranch. Karla ging durch den Regen darauf zu. Langsam öffnete sich die Beifahrertür.

Zuerst sah Karla von dem Mädchen, das zum Vorschein kam, nichts als Haare. Lange glänzende Haare, die die Farbe von glasiertem Schokoladenkuchen hatten. Dann kam das Mädchen auf sie zu, und Karla schaute in Augen, hellblau und leuchtend wie Gletschereisbonbons, auf volle Lippen und auf Sommersprossen, die über eine Stupsnase tanzten. Plötzlich fiel Karlas Blick auf Felix, der mit seinen Schlagzeugstöcken in der Hand aus der Scheune getreten war. Er stand einfach nur da und starrte das fremde Mädchen an. Karla merkte, wie ihre Kehle eng wurde und wie sie sich auf einmal klein und elend fühlte.

Das Mädchen war schön.

Bildschön.

So schön, dass einen der Schlag traf.

Und offenbar hatte er Felix gerade getroffen.

In Karla stieg die Eifersucht hoch. Immer wenn er ein schönes Mädchen sah, trat dieses Glitzern in seine Augen. So konnte das nicht weitergehen. Sie hatte keine Lust mehr auf Liebeskummer. Eine Herzensfestung musste her, entschied Karla. Eine Festung, die ihr Herz einzäunte, als wäre es eine kleine Stadt, um die man zum Schutz vor Angreifern eine Mauer zieht. Aber es dauerte nun mal, bis eine solche Festung errichtet war, Stein auf Stein, da wartete eine Menge Arbeit auf sie. Außerdem hatten Jungs wie Felix alle Tricks auf Lager und, wenn es sein musste, auch noch Strickleitern parat, um jedes Hindernis zu überwinden.

Jetzt reiß dich zusammen, rief Karla sich selbst zur Vernunft. Niemand kann etwas für sein Aussehen. Diese Schönheit muss ja nicht unbedingt deine beste Freundin werden. Aber wenigstens freundlich könntest du sein! Sie trat auf das Mädchen zu und streckte ihm die Hand entgegen. «Hallo, ich bin Karla. Ich habe mein Pferd hier auf dem Reiterhof, und ich helfe hier manchmal aus.» Lächeln, ermahnte sich Karla. LÄCHELN!

Das musste man dem Mädchen gar nicht erst sagen. Wer solche Zähne hatte, der war geradezu dazu verpflichtet, sie ständig zu zeigen. Sonst wäre es pure Verschwendung. «Ich heiße Charlotte», sagte das Mädchen und reichte Karla ebenfalls die Hand. «Schön, dich kennen zu lernen, Karla! Dann haben wir ja jemanden, der mit uns ausreitet.»

Normalerweise hätte Karla «hurra» geschrien. Genau darauf hatte sie sich ja gefreut. Zwei Mädchen in ihrer Nähe zu haben, mit denen sie ausreiten und Spaß haben und quatschen konnte bis tief in die Nacht. Über Herzenswünsche und Hufpflege und darüber, wo der bessere Platz ist: auf einem Pferderücken – oder in den Armen des Jungen, den man süß findet. Stattdessen war Karla sehr verhalten. «Wenn ich Zeit habe, würde ich mich sehr freuen, gemeinsam mit euch etwas zu unternehmen», sagte sie und hätte am liebsten gelächelt über diesen Satz, der so gespreizt war wie der abgewinkelte kleine Finger einer alten englischen Lady beim Teetrinken. «Und jetzt sollten wir uns unterstellen», fuhr Karla fort, «sonst erkälten wir uns noch und verbringen die Osterferien im Bett.»

Karla lief voran, und Charlotte folgte ihr. Sie flüchteten sich unter ein wind- und regengeschütztes Vordach über der Haustür, wo der Regen sie nicht mehr erwischen konnte. Karlas Blick fiel auf das zweite Mädchen, das kurz nach Charlotte aus dem Auto gestiegen war und nun durch Nässe und Wind auf sie zulief. Karla atmete auf, als sie das Mädchen anschaute. Ja, es war hübsch, aber nicht so beängstigend schön wie seine Freundin. Es war klein und schmal, mit grünen Augen und rötlich braunen Haaren, die glänzten wie Eichhörnchenfell. Das Mädchen trug einen Pony und genau wie seine Freundin eine schwarze Jeans und ein schwarzes Sweatshirt, auf dem in giftgrünen Buchstaben «Heu-Schrecken» stand.

Das Mädchen erreichte Karla und Charlotte und lächelte Karla an. «Ich bin Johanna.»

Karla gab ihr die Hand. «Hallo, Johanna, ich bin Karla.» Wie viel einfacher es ihr doch fiel, ungezwungen mit Johanna umzugehen! Sie schaute auch nur sie an, als sie fragte: «Und wo kommt ihr her?»

Und doch war es Charlotte, die antwortete. «Aus einem Dorf in Westfalen. Wiesen. Wald. Kopfsteinpflaster. Tote Hose.» Sie zog eine Grimasse.

«Auf jeden Fall hat es da nicht geregnet, als wir früh heute Morgen losgefahren sind», sagte Johanna und guckte skeptisch zum Himmel.

«Das wird. Keine Bange!», ertönte da Mias Stimme. «Eigentlich haben wir in Mecklenburg immer gutes Wetter.» Sie trat aus der Tür und machte einen Schritt auf die kleine Gruppe zu.

Auch Felix hatte sich aus seiner Erstarrung gelöst und kam auf sie zu. Karla wandte ihr Gesicht ab. Sie wollte nicht dieses Funkeln in Felix’ Augen sehen. Und sie wollte auch nicht die Sekunden zählen müssen, in denen Felix Charlottes Hand hielt, während er sie begrüßte. Erst jetzt sah Karla, dass eine dritte Person aus dem Geländewagen geklettert war. Logisch, dachte sie, schließlich mussten Charlotte und Johanna von jemandem hergefahren worden sein. Es war eine junge Frau von Anfang dreißig.

Die Frau ging mit raschen Schritten auf sie zu, um schnell ins Trockene zu kommen. Sie lächelte. Und sie war sehr attraktiv. Wenn sie in Westfalen alle so gut aussahen, dachte Karla, dann sollte es Sperrgebiet für Felix auf Lebenszeit sein.

Schon wieder Felix! Es war wirklich zum Verrücktwerden, dachte Karla. Konnte sie denn an gar nichts anderes mehr denken? Musste er ständig in ihrem Kopf herumspuken wie ein Liebes-Gespenst?

Karla beschloss, sich wieder auf die junge Frau zu konzentrieren, die zu ihnen unter das Vordach trat. Vom Typ her hatte sie Ähnlichkeit mit Mia, aber sie war schätzungsweise rund zehn Jahre jünger. Sie sah selbst im Mecklenburger Regen aus wie eine sonnenüberflutete Schönheit aus einer Kokoskonfekt-Reklame. Sie hatte ebenso blaue Augen wie Charlotte. Ob sie ihre Mutter war, grübelte Karla. Nein, dazu schien sie zu jung. Außerdem hatten die beiden bis auf die Farbe ihrer Augen überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander.

Mia streckte der Fremden ihre Hand hin. «Mia Muhrmann. Guten Tag! Willkommen auf der Happy Horse Ranch! Hatten Sie eine gute Fahrt?»

«Mein Name ist Gina Berger. Hallo! Ja, danke. Die Fahrt war prima. Ich freue mich, hier zu sein. Ich wollte immer schon mal in diese Gegend, aber bisher habe ich es nie geschafft.» Sie schüttelte den Kopf, sodass ein paar Regentropfen aus ihren Haaren flogen, und lachte. «Ist das nicht komisch? Da reist man durch die halbe Weltgeschichte, von den Pyrenäen bis zu den Pyramiden, und kennt sein eigenes Land nicht?»

Mia antwortete nicht. Karla wusste, dass Mia meist unter Geldmangel litt, aus diesem Grund bisher wenig in der Welt herumgekommen war und nicht viel zu diesem Thema beitragen konnte. «Sind Sie mit einem der beiden Mädchen … verwandt?», fragte Mia stattdessen.

«Nein», antwortete Gina Berger. «Ich bin ihre Reitlehrerin. Ich habe keine Kinder. Noch nicht.»

«Na, so eine nette Lehrerin, die ihre Schülerinnen auch noch in den Ferien herumkutschiert», sagte Mia und wandte sich dann an Karla, Felix und die beiden Mädchen. «Nun lasst uns aber reingehen! Wir drängen uns ja hier unter dem Fitzelchen Dach wie Pinguine in der Wüste um einen Eiswürfel. Machen wir es uns doch drinnen gemütlich!»

Felix ging mit Charlotte und Johanna voran in die Küche. Karlas Blick löste sich von Felix’ Rücken und fiel auf ihren Vater, der in einer dunkelgrünen Regenjacke auf den Reiterhof zugelaufen kam. Die beiden Frauen sahen ihn nicht.

Mia berührte Gina Berger leicht am Arm. «Kommen Sie! Sie sollten sich noch stärken vor der langen Rückfahrt! Es gibt Gemüsesuppe, Schinkenbrote und Tee.»

Gina sah Mia erstaunt an. «Ich fahre nicht zurück. Hat Ihnen das denn Charlottes Mutter nicht gesagt, als sie unseren Aufenthalt hier gebucht hat? Ich bleibe zusammen mit den Mädchen für zwei Wochen hier.»

«Oh» war alles, was Mia herausbrachte. «Nein, das … davon hat mir niemand etwas gesagt.» Sie pustete eine Haarsträhne aus der Stirn und sah Karla Hilfe suchend an. «Wir haben auch ehrlich gesagt gar kein Gästezimmer mehr. Wir besitzen nur dieses eine.»

«Wo ist das Problem?», erklang da hinter ihnen die tiefe Stimme von Karlas Vater.

Mia und Gina drehten sich zu ihm um. Jack kam die letzten Meter auf sie zu, stellte sich zu ihnen unters Vordach und betrachtete Gina. Lange. Sehr lange, wie Karla fand. Zu lange, wie Mia anzusehen war. Jack musterte Gina mit genau den gleichen tanzenden Augen, wie sie Karla eben noch an Felix beobachtet hatte. Diese Blicke kannte Karla sonst nur aus Hollywoodfilmen, und meistens vergaß man dabei, in die Popcorntüte zu greifen. Aus Angst, etwas Wesentliches zu verpassen.

Endlich fand Jack seine Sprache wieder. «Ihre Schützlinge wohnen hier wie abgemacht. Und Sie bei uns. In unserem Haus ist genug Platz für einen ganzen Reiterverein.» Jack lächelte. Er wirkte sehr selbstbewusst. Alle Probleme dieser Welt schienen an ihm abzuprallen wie die Regentropfen an seiner Öljacke.

Gina strahlte Jack an. «Ich mag Männer, die für alles eine Lösung haben.»

Karla hörte Mia neben sich einen tiefen Seufzer ausstoßen. Einen Seufzer wie ein Wutschnauben ihrer Seele. Karla konnte sich gut vorstellen, was jetzt in Mia vorging. Vermutlich das Gleiche wie in ihr auch. Sie tat ihr leid, genauso wie sie sich selbst leid tat, und plötzlich hatte Karla das blöde Gefühl, dass dieses Osterfest der reinste Eiertanz werden würde.

 

Als sie ihren Gemüseeintopf in der Reiterhof-Küche gegessen hatten, bat Mia Karla, mit den Mädchen nach oben zu gehen und ihnen ihr Zimmer zu zeigen. Karla war hin und her gerissen. Einerseits war sie neugierig darauf, mehr über die beiden zu erfahren. Und sie war sehr gespannt auf das, was in ihren Koffern steckte. Es war immer aufregend zu sehen, was andere so eingepackt hatten. Schließlich schleppte man auf Reisen ein Mini-Zuhause mit sich herum. Bücher. Fotos. Klamotten. Klunker. Kuscheltiere.

Andererseits wollte sie sich nicht so leicht aus der Reserve locken lassen. Charlotte sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, dass ihr alle auf den ersten Blick zu Füßen lagen. Es reichte, dass Felix es tat. Karla beschloss, weiterhin kühl zu sein. So kühl wie dieser Regentag.

«Der Eintopf war richtig lecker», sagte Charlotte, als Karla die Hand auf die Klinke legte und die Tür zum Fremdenzimmer aufstieß. Charlotte lachte. «Bei uns zu Hause gibt’s einen, der heißt ‹Westfälisches Blindhuhn›.»

Als sie Karlas skeptischen Blick sah, erklärte sie: «Da kommen Bohnen und Möhren rein, Birnen, Äpfel und Speck.»

Karla zog die Augenbrauen hoch. «Ziemlicher Fall von Geschmacksverirrung.»

Kaum hatten sie das Zimmer unter dem Dach betreten, jubelte Charlotte los: «Bayern-Bettwäsche! Cool!» Sie ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen. «Zwar schon ziemlich alt, dieses dunkle Rot haben die heute gar nicht mehr, aber besser als immer nur Herzen und Blumen und Schmetterlinge.» Sie grinste Karla an. «Ich liebe Fußball.»

Karla betrachtete Charlotte von oben bis unten. «So siehst du gar nicht aus.»

«Wie sehe ich denn aus?»

Karla antwortete nicht sofort. Was sollte sie sagen? Sie hatte keine Lust, sich auch noch in die Schlange derer einzureihen, die Charlotte bestimmt kübelweise Komplimente über den Kopf gossen. Bewundert ein Gänseblümchen eine Rose, fragte sich Karla. Im Stillen ja, beschloss sie, aber das würde es niemals zeigen.

«Du siehst aus wie ein Girlie-Girl», antwortete Karla schließlich.

Charlotte prustete los. «Was ist denn das, bitte schön?»

«Ein Mädchen, das so richtig nach Mädchen aussieht», erklärte Karla.

«Das klingt abartig!» Charlotte stützte die Ellbogen auf und legte ihr Gesicht in die Hände. «Das klingt nach Barbie und Beyoncé und Strassspangen im Haar. Nee!» Charlotte schüttelte energisch den Kopf. «Ich bin kein … wie heißt das? … Girlie-Girl.»

«Das stimmt», mischte sich Johanna ins Gespräch. Sie hockte über ihrem aufgeklappten Koffer auf dem Fußboden, nahm ein rosafarbenes Nachthemd mit zarter Stickerei heraus und legte es auf ihre Bettdecke. «Charlotte ist ein halber Junge. Du solltest sie mal in Aktion sehen! Sie hat einen härteren Schuss als Ronaldinho.»

Charlotte tippte sich an die Stirn. «Jetzt übertreibst du aber.» Dann wandte sie sich wieder an Karla. «Man kommt an Fußball eben nicht vorbei, wenn man vier ältere Brüder hat. Das ist so, als ob dein Vater eine Metzgerei besitzt. Da ist es auch schwer, keine Wurst zu essen.» Sie sprang wieder auf die Füße. «Aber am liebsten reite ich. Außerdem spiele ich Rasenhockey, kann Karate, liebe japanische Comics, und im Winter fahre ich Snowboard.»

«Wow!», entfuhr es Karla, doch es klang alles andere als begeistert. Wieder so eine, die angab wie ein Sack Sülze und einen auf Action-Heldin machte. Eine, bei der aus einem Spaziergang zum Kräuterbeet gleich ein Dschungeltrip wurde. «Würde mich nicht wundern, wenn du die Tochter von Lara Croft wärst!», sagte Karla.

Charlotte sah sie verständnislos an. «Wie meinst du denn das jetzt?»

«Du hast natürlich ständig blaue Flecken, findest Spinnen putzig und hast nie mit Puppen gespielt, sondern mit Kröten, groß wie Kohlköpfe», sagte Karla, die jetzt erst merkte, dass diese Beschreibung auch auf sie selbst passte.

Charlotte und Johanna starrten sie an.

Hey, hey, hey, dachte Karla. Was war nur mit ihr los? Wenn sie ehrlich war, fand sie sich im Moment ziemlich eklig. Mindestens so eklig wie kohlkopfgroße Kröten.

«Ist irgendwas mit dir?», fragte Charlotte.

«Vielleicht habe ich heute einfach schlechte Laune.»

Einen Moment lang sagte niemand von den dreien etwas. Dann meldete sich Johanna zu Wort, ganz offensichtlich darum bemüht, den Eisschrank Karla aufzutauen. «Wenn Charlotte die Tochter von Lara Croft ist, bin ich die Tochter von Sissi.» Sie lachte. «Ich liebe Marzipan, Ballett und rote Rosen, Sonnenuntergänge am Meer und Liebesbriefe von der Länge einer Landstraße.»

«Die du noch nie bekommen hast», sagte Charlotte. «Sei ehrlich!»

«Aber eines Tages werde ich sie bekommen.» Johanna schaute mit verträumtem Blick hinaus aus dem Fenster auf die nass geregneten Wiesen und den grauen Himmel. «Das weiß ich bestimmt.»

Charlotte ging zu ihr hin und strubbelte ihr durchs Haar. «Träum weiter!» Sie drehte sich zu Karla um. Auch sie schien entschlossen, Karla ihren kleinen Ausrutscher von eben zu verzeihen, und tat, als sei nichts gewesen. «Das stimmt», seufzte sie und lächelte Karla an. «Johanna ist unsere Romantikerin. Hemmungslos verkitscht. Eigentlich sind wir ja zu viert», fuhr sie fort. «Zu den Heu-Schrecken gehören noch Lena und Sofie. Lena musste mit ihren Eltern nach Teneriffa. Und Sofie ist an die Nordsee gefahren. Nach Langeoog. Warst du schon mal da?»

Karla schüttelte den Kopf.

«Wir haben da früher auch immer Urlaub gemacht, als meine Brüder und ich noch kleiner waren», erzählte Charlotte. «Da darf man nur mit dem Fahrrad umherdüsen und isst den ganzen Tag lang Krabben. Und die Möwen sind so verfressen, dass mir mal so ’n Biest im Sturzflug ein Fischbrötchen aus der Hand gerissen hat, als ich im Strandkorb saß. Das war echt gruselig.»

Karla musste gegen ihren Willen lachen.

«Na, bitte!», sagte Charlotte und grinste. «Geht doch.»

Sie schien wirklich nicht so übel zu sein, überlegte Karla. Eigentlich war es doch gar kein Problem, mit ihr klarzukommen. Warum nur machte ihr diese blöde Eifersucht das Leben so schwer? War es die Angst vor dem Vergleich? War sie wirklich nur ein Gänseblümchen neben einer Rose? Oder einfach nur eine dumme Gans, die sich gerade unmöglich benommen hatte?

Auf jeden Fall wollte sie jetzt allein sein, und da traf es sich gut, dass Jack nach ihr rief und sie sich kurz darauf gemeinsam mit Gina Berger auf den Heimweg machten. Sie fuhren das kleine Stück hinüber zum Gutshaus mit Ginas Geländewagen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind tobte noch umher.

Gina sah Jack mehrmals von der Seite an, während sie das Auto zur Gutshofallee lenkte. «Ich hoffe, Frau Muhrmann ist nicht sauer, dass ich bei Ihnen zwei Wochen lang wohnen werde?»

«Mia?» Jack lachte auf und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. «Ach, was! Sie ist der großzügigste und hilfsbereiteste Mensch der Welt.»

Karla, die auf der Rückbank saß, rollte die Augen. Hatte ihr Vater denn nicht bemerkt, wie still Mia gewesen war während des Mittagessens? Wie sie jedem Wort, das Gina und Jack wechselten, hinterhergehört, jeden Blick zwischen den beiden verfolgt hatte?

«Sind Sie schon lange zusammen?», fragte Gina.

Hoppla! Karla fing an, sich über Ginas Neugier zu ärgern. Jack hatte ihr im Gutshaus ein Bett angeboten. Aber gab ihr das gleich das Recht, unter die Bettdecke zu linsen?

Doch Jack schien Ginas Fragerei nicht zu stören. «Wir sind seit ungefähr einem Jahr zusammen», antwortete er. «Knapp. Oder anders gesagt: Seit den letzten Sommerferien ist es offiziell.»

«Sind Sie geschieden?», bohrte Gina weiter.

«Ich bin verwitwet», sagte Jack. «Karlas Mutter ist vor sieben Jahren gestorben. Sie hatte Krebs.»

Jack drehte sich halb auf seinem Sitz um, lächelte Karla mit traurigen Augen zu und streckte die Hand nach ihr aus. Karla ergriff sie für einen Moment.

Dann legte Gina ihre Hand auf Jacks Arm. «Oh, das tut mir sehr leid! Und ich bin auch noch so ungeschickt, danach zu fragen.»

«Ist schon gut», sagte Jack. «Das konnten Sie ja nicht wissen.»

Ein paar Sekunden später waren sie da. Gina stoppte den Wagen auf dem Kiesweg des Gutshauses. Jack sprang aus dem Auto, öffnete den Kofferraum und wuchtete einen großen schwarzen Koffer heraus. «Was haben Sie denn da drin? Teile einer Stadtmauer aus dem Mittelalter?»

Gina lachte. «Sie wissen doch: Frauen und Gepäck – das ist ein heikles Thema. Man packt immer zu viel ein und hat doch nie das Richtige dabei. Sind wir nicht entsetzlich?»

«Ganz entsetzlich», sagte Jack und sah Gina dabei ziemlich tief in die Augen.

Karla senkte den Blick und kickte einen Kieselstein aus dem Weg. Er flog in Richtung eines Rhododendronbusches, an dem sich bei diesem Wetter noch keine Blüte sehen ließ. Plötzlich hörte Karla hinter sich ein Schnaufen. Sie drehte sich um – und sah Jane, die an der Seite von Florian Flostrand auf sie zugelaufen kam. In einem quittengelben Jogging-Dress, mit einer Kappe auf ihrem karottenroten Haar und apfelgrünen Ohrclips, die die Form kleiner Frisbeescheiben hatten und bei jeder Bewegung hin- und herschwangen. Die beiden kamen direkt vor Jack, Gina und Karla zum Stehen. Jane japste. Sie blickte erst überrascht auf Gina, dann auf ihren riesigen Koffer und fragte: «Nanu, wen haben wir denn da?»

«Das ist Gina Berger», stellte Jack vor, während er den Koffer absetzte. «Sie ist Reitlehrerin und kommt aus Westfalen. Sie begleitet die beiden Mädchen, die auf der Happy Horse Ranch Ferien machen. Aber Mia hat kein Zimmer mehr für sie.»

Die beiden Frauen gaben sich die Hand. Jack deutete auf Florian und fuhr fort: «Und das ist der …», er stockte einen Moment, «… der Freund meiner Mutter. Doktor Florian Flostrand.» Karla musste grinsen, als sie hörte, wie Jacks Zunge holperte. Ihr Vater hatte immer noch Probleme mit dieser Konstellation, und auch Gina musterte das ungleiche Liebespaar erstaunt. Florian wiederum konnte seinen Blick nicht von Gina wenden, bis Jane ihn unsanft am Arm fasste. «Du solltest schnell unter die Dusche, Florian! Dir als Arzt muss ich doch nicht sagen, wie leicht man sich bei dem Wetter erkältet.» Jane blitzte Florian an. «Du weißt doch: Man denkt sich nichts Böses, und schon hat man Herzbeschwerden. Wenn du verstehst, was ich meine.»

O ja, dachte Karla, Florian verstand ganz genau. Er riss seinen Blick von Gina los.

Jack sah seine Mutter lächelnd an. «Ich kenne dich kaum wieder. Früher war dein Lieblingssport eine ‹Ritter Sport› – und jetzt joggst du sogar!»

Doch Jane war nicht nach Witzen zumute, schon gar nicht nach solchen, die auf ihre Kosten gingen. «Danke!», sagte sie kühl, dann zog sie Florian mit sich fort zur Haustür. Im Weggehen drehte sich Jane nochmal zu Jack um: «Kennt Frau Berger eigentlich den Preis für die Ferienwohnung?» Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie sich an Gina wandte. «Ganz billig ist die nämlich nicht.»

Jack sah seine Mutter wütend an. «Frau Berger ist unser Gast. Wenn ich jemanden einlade, muss er nichts bezahlen. Wir sollten nicht unsere guten Manieren vergessen, Mom!»

Karla wusste, wenn Jack seine Mutter «Mom» nannte, dann waren ebendiese Mutter und ihr Sohn kurz davor, bis zum nächsten Weihnachtsfest nicht mehr miteinander zu reden.

«Oje», sagte Gina und schürzte ihre kirschroten Lippen zu einem Schmollmund, während Jane mit Florian die Treppe hochging und im Haus verschwand. «Ich bringe hier alles durcheinander. Ich glaube, das war keine so gute Idee.»

Da könnte Gina Berger Recht haben, dachte Karla. Auch Jane hatte vermutlich schnell kapiert, woher der Wind wehte. Es würden stürmische Zeiten auf sie zukommen. Das war klar. Aber das hatte nichts mit dem miesen Wetter zu tun. Ihnen drohte eine Klimakatastrophe ganz anderer Art. Und daran waren in Karlas Augen nur diese westfälischen Blindhühner schuld.