Die Sonne hockte immer noch warm auf den Zweigen der Bäume, als Karla am späten Nachmittag durch das Wäldchen nach Hause stromerte. Ihren Vater hatte sie den ganzen Tag noch nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte sich nicht auf der Happy Horse Ranch sehen lassen. Das war eigenartig. Gewöhnlich aßen sie an den Wochenenden gemeinsam mit Mia und Felix zu Mittag. Als Karla auf den Kiesweg zum Gutshaus einbog, kam ihr Gina Berger entgegen. Gut sah sie aus! Sie trug Jeans, eine Pilotenjacke aus braunem, abgewetztem Leder, Pferdeschwanz und ein rotweiß gepunktetes Tuch um den Hals. Auf ihren blonden Haaren klebten kleine weiße Farbtupfer.
Gina strahlte, als sie Karla erkannte. «Hallo, Karla!»
«Guten Tag, Frau Berger!»
«Schluss mit ‹Frau Berger› und dem förmlichen ‹Sie›! Ich heiße Gina, und du kannst mich duzen wie Charlotte und Johanna auch. Sonst kommt man sich so schrecklich alt vor.» Gina schloss einen Moment lang die Augen und inhalierte Sonne und Luft und die Gerüche des Frühlings. «Schön habt ihr es hier! Das würde mir nicht leicht fallen, von hier wegzuziehen.»
Wie bitte? Karla glaubte, sich verhört zu haben. «Was haben Sie … äh, was hast du gesagt?»
«Es muss schwer sein, so etwas Schönes eines Tages zurückzulassen. Euer tolles Haus!» Gina breitete die Arme aus und schaute sich um. «Die Landschaft! Die Pferde! All das.»
«Wir ziehen nicht von hier weg», fauchte Karla.
Gina sah sie verdutzt an. «Aber dein Vater hat mir eben doch erzählt, dass es hier für ihn nicht mehr viel zu tun gibt. Das Haus ist fertig … er hat mir Bilder gezeigt, wie es aussah, als ihr hergekommen seid aus den Staaten. Mein Gott!» Gina schüttelte ungläubig den Kopf. «Jack ist wirklich ein Künstler. Er hat aus einer Ruine ein Schloss gemacht. Ich glaube, die Ferienwohnung in der Scheune ist für ihn jetzt nur noch eine Beschäftigungstherapie.» Gina lachte. «Und für mich wohl auch. Ich habe deinem Vater beim Streichen geholfen.» Sie fuhr sich durchs Haar. «Falls du dich fragst, ob ich in einen Farbtopf gefallen bin.»
Karla wusste auf einmal nicht mehr, was sie ungeheuerlicher fand. Die vertraute Art, in der Gina von ihrem Vater redete, einem Mann, den sie erst seit gestern kannte und den sie trotzdem wie selbstverständlich Jack nannte? Dass sie den Sonntag gemeinsam beim Streichen der Scheune verbracht hatten, ohne sich darum zu kümmern, dass nicht nur ein Braten im Ofen wartete, sondern auch Mia auf heißen Kohlen hockte? Oder die Tatsache, dass Jack mit einer Fremden über Dinge sprach, die nur sie und ihn und ihre Großmutter etwas angingen? Vielleicht noch Mia. Und Felix. Aber sonst niemanden!
Gina schien Karlas Ablehnung zu spüren. «Na ja», sagte sie leichthin. «Was mische ich mich da ein?! Wie geht es denn meinen beiden Mädchen?»
Karla hatte Mühe, freundlich zu bleiben. «Gut.»
«Seid ihr ausgeritten?»
«Deswegen sind Charlotte und Johanna ja hier. Ich muss jetzt – tschüs.»
«Tschüs, Karla! Wir sehen uns heute Abend beim Essen. Ich gehe mal rüber zur Happy Horse Ranch und schaue, ob mit den beiden alles okay ist.»
«Wird auch Zeit», grummelte Karla vor sich hin, dann rannte sie zur Scheune und lief beinahe in ihren Vater hinein, der mit einem Farbeimer in der Hand aus dem Gebäude kam. Der Eimer in seiner Hand schwankte gefährlich hin und her.
«He! He!», rief Jack und konnte gerade noch verhindern, dass Farbe aufs Gras schwappte. «Du hast es aber eilig!»
«Und du bist ein Verräter!» Karlas Unterlippe zitterte vor Empörung.
Jack war zu verblüfft, um etwas zu sagen.
Karlas Blicke waren giftiger als Tollkirschen. «Du glaubst wohl, du bist der King, was?!»
«Und warum, wenn ich fragen darf?»
«Weil du zwei Hobbys hast», höhnte Karla. «Prinzessinnen. Und Schlösser.»
«Verstehe kein Wort!»
«Die einen machst du an. Die anderen baust du um.»
«Das ist mir jetzt zu blöd!» Jack ließ Karla stehen und ging mit dem Eimer in der Hand auf das Haus zu.
Karla lief hinter ihm her. «Mit Mia bist du zusammen, flirtest aber wie verrückt mit dieser Gina Berger.» Aus Karlas Kehle kam ein trockener Schluchzer. «Und dann erzählst du diesem … diesem Blindhuhn auch noch, dass wir wieder umziehen, und zu Jane und mir sagst du kein Sterbenswort! Das ist so was von absolut mies!»
Jack drehte sich zu Karla um, stellte den Eimer auf dem Rasen ab und kam auf seine Tochter zu. Er legte seine Hände auf ihre Schultern. «Das Blindhuhn habe ich überhört. Wo hast du denn das Wort her? Und was den bevorstehenden Umzug angeht, der garantiert nicht stattfinden wird … dazu nur so viel: Ich habe von einem alten Freund gehört – Edward, du kennst ihn, er hat uns mal in Tennessee besucht –, dass eine Farm in South Carolina zu verkaufen ist. Und ich habe nur zu Gina gesagt, dass es mich jedes Mal bei so einer Gelegenheit in den Fingern juckt. Mal wieder woandershin! Mal wieder aus so einer alten Lady wie der hier …», er blickte mit einem fast zärtlichen Lächeln hinüber zum Haus, «… eine hübsche junge Dame machen.»
Jack nahm einen Pinsel aus dem Eimer und tupfte mit der Spitze einen weißen Fleck auf Karlas Nase. «Eine hübsche junge Dame, wie du es bist. Du weißt doch, wie dein bekloppter Vater ist! Natürlich werden wir drei, du und ich und Jane, eines Tages zurückgehen nach Amerika, weil wir nun mal Amerikaner sind. Wir sind doch waschechte Cowboys, oder nicht? Jagen am liebsten hinter einer ganzen Büffelherde her, und am Abend sitzen wir ums Lagerfeuer und futtern T-Bone-Steaks, groß wie Campingtische.» Er lachte. «Stimmt’s? Und trotzdem sind wir jetzt hier und bleiben erst mal hier, weil wir uns wohl fühlen.» Er ließ den Pinsel zurück in den Eimer gleiten. «Und was meinen angeblichen Flirt mit Gina Berger betrifft … Wir haben uns nicht geküsst, und ich habe ihr auch keinen Heiratsantrag gemacht, sondern wir haben lediglich zusammen ein paar Wände gestrichen. Und es hat auch keine Rosen geregnet, sondern nur ein paar Farbspritzer. Geradezu enttäuschend unromantisch. Findest du nicht?»
Karla atmete auf. Warum musste sie nur überall ein Problem wittern? Gespenster sehen am helllichten Tag? Sich durch jede klitzekleine Bemerkung verunsichern lassen? Weder würde ihr Vater gemeinsam mit einer Reitlehrerin aus Mias Leben galoppieren. Noch würde sie in ihrem Himmelbett demnächst auf einer Farm in South Carolina einschweben.
Zaghaft grinste Karla ihren Vater an. «Manchmal ticke ich nicht ganz richtig, oder?»
Auch Jack lächelte. «Da ist was dran. Aber du kannst es wieder gutmachen, indem du mich heute Abend ins Kino einlädst.»
«Super Idee! Aber ich bin pleite.»
Jack legte den Kopf schief und zwinkerte Karla zu. «Wie wär’s mit einem kleinen Kredit?»
«Einverstanden!», rief Karla. «Wie sind die Konditionen?»
«Jeden Abend, bevor du schlafen gehst, möchte ich hören, dass ich der beste Vater der Welt bin. Laufzeit des Kredits bis Ende August. Zinslos.»
«Ich denke, das lässt sich machen», sagte Karla. «Ich sehe mal nach, was es im Kino gibt.» Und damit rannte sie ins Haus, um die Zeitung vom Samstag zu suchen. An der Tür drehte sich Karla noch einmal zu ihrem Vater um. «Ich suche uns einen richtig tollen Film aus.»
Als Karla ein paar Stunden später mit Jack aus der frühen Abendvorstellung des Kinos kam, schlugen sie beide wie selbstverständlich den Weg durch die kleine Stadt zum Eiscafé «Rialto» ein. Karla war zwar schon etwas flau im Magen von all dem Popcorn und der Cola, aber für einen Schokobecher mit Kirschsauce und bunten Streuseln war noch Platz.
Karla konnte sich immer noch kringeln vor Lachen. «Der Hauptdarsteller war doch total bescheuert. Ein erwachsener Mann, der Spielzeugfiguren aus Cornflakes-Packungen sammelt …»
Jack schmunzelte. «Das hat er doch nur getan, um sich die Zeit zu vertreiben, bis die Frau seines Lebens kommt. Und dann saß sie auf einmal neben ihm in diesem japanischen Restaurant.»
«Ausgerechnet diese durchgeknallte Ladenbesitzerin …»
«So ist das eben», sagte Jack, «egal, wie dämlich man sich auch anstellt, jede einsame Reise findet einmal ein Ende, und man kommt bei irgendwem und irgendwo an.»
Als Karla an der Seite ihres Vaters die Eisdiele betrat und kurz in die Runde blickte, schienen gleich zwei Reisende ihr Ziel gefunden zu haben. Oder wie sonst war es zu erklären, dass an einem der kleinen Tische im hinteren Teil des Cafés direkt unter einem Foto vom Markusplatz in Venedig Felix und Jonas mit Charlotte und Johanna saßen? Sie tranken Milkshakes, sie lachten, und sie sahen Karla nicht. Karla aber spürte einen Stich, als hätte der japanische Koch aus dem Film mit seinem Sashimi-Messer nicht nur den rohen Fisch filetiert, sondern ihr Herz gleich mit.
Sie wollte auf der Stelle wieder gehen. Doch inzwischen hatte auch Jack die vier erspäht und ging auf sie zu, um sie zu begrüßen. Und Karla blieb nichts anderes übrig, als hinter ihm herzutrotten.
Wie sagte Jane immer? Wenn einem der Wind ins Gesicht bläst, muss man den Rücken gerade halten.
Und deshalb nahm Karla alle Kraft zusammen, als sie hinter Jack an den Tisch trat, drückte das Kreuz durch, als wäre es auf Metallstangen gespannt, und kriegte sogar ein kleines Lächeln hin. Eines von diesen niedlichen Rosa-Lipgloss-Lächeln, das niedliche Mädchen mit Herzspangen im Haar in niedlichen Teenie-Komödien tragen. Sie musste nur aufpassen, dass ihr dieses Lächeln nicht gleich aus dem Gesicht rutschte wie rosafarbener Glibberschleim von einer Küchenkachel.
«Hallo, ihr vier!», sagte Jack gut gelaunt. «Euch geht’s ja richtig gut, wie man sieht!»
«Das gehört sich auch so!», strahlte Charlotte ihn an. «Wir haben doch Ferien.» Sie lächelte Karla zu. Genau wie Johanna. Sie schienen sich keiner Schuld bewusst, dachte Karla.
Was war nun schlimmer?
Dass die beiden Mädchen waren wie immer, obwohl auf einmal nichts mehr so war, wie es war? Oder dass Felix und Jonas wie ertappt wirkten, an ihren Strohhalmen nuckelten und verlegen auf die Blubberbläschen ihrer Milkshakes starrten?
«Macht ein bisschen Platz!», forderte sie Jack auf. «Wir stellen uns einfach einen Tisch dazu. Komm, Schatz, fass mal mit an!»
Karla schüttelte heftig den Kopf. «Mir ist auf einmal nicht gut. Ich möchte nach Hause.»
Jack sah sie aufmerksam an. «Seit wann geht es dir denn nicht gut, wenn zwanzig Sorten Eis auf dich warten?» Er lachte. «Das gibt’s doch nicht.»
«Ich habe wohl …», stammelte Karla, «… ich habe wohl zu viel Popcorn und Cola gehabt.»
«Das ist mir neu», flachste Jack, «dass meine Tochter von irgendetwas genug haben kann.»
Doch!, dachte Karla und wurde langsam richtig sauer. Sie würde bald genug haben von ihrem Vater!
Was war nur los mit ihm, dass er nicht sah, was in ihr vorging? Tat immer so, als würde er alles verstehen – und kapierte nichts.
Begriff er denn nicht, wie überflüssig sie sich im Augenblick fühlte? Hatte er noch nie etwas gehört vom fünften Rad am Wagen? Das traf auch zu für die fünfte Person am Tisch. Wenn er jetzt nicht auf der Stelle mit ihr den Rückzug antrat, dann würde sie sich morgen adoptieren lassen.
Plötzlich schien Jack zu begreifen. «Tja, dann», sagte er zu den anderen. «Der Wunsch meiner Tochter ist mir Befehl.»
Kurz darauf waren sie wieder draußen auf der Straße. Karla hörte nur noch, wie Felix ihr etwas nachrief. Aber sie verstand nicht mehr, was es war – und sie würde nie verstehen, was er hier zu suchen hatte mit zwei anderen Mädchen, die er gestern noch gar nicht gekannt hatte und die aus einer Gegend stammten, in der man Blindhuhn aß.
Charlotte und Johanna hatten sie einfach übergangen. Hatten sie noch nicht mal gefragt, ob sie mitkommen wollte in die Eisdiele. Kein Wunder, meldete sich Karlas innere Stimme. Du warst diejenige, die die Tür hinter sich fest verschlossen hatte. Ach was, verschlossen! Zugenagelt hast du sie. Du warst nicht gerade nett zu den beiden. Warum also sollten sie Lust haben, mit dir ihre Zeit zu verbringen? Doch Karla hatte inzwischen Übung darin, ihre innere Stimme zu überhören. Außerdem gab es keine Entschuldigung für Felix und Jonas. Hundsgemein hatten sie ihre Chance genutzt und sich im passenden Moment mit Charlotte und Johanna allein verabredet. Ohne Karla-Nervensäge-Störenfried. Wahrscheinlichhatten sie auch noch alle zusammen über sie gelacht. Karla traten vor Wut die Tränen in die Augen. Sie war ganz in Gedanken, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
«Entschuldige, Kleines», sagte Jack mit leiser Stimme. «Das war nicht sehr sensibel von mir, was?»
Karla stellte sich dumm. «Wieso? Was meinst du?»
«Nicht zu sehen, dass du vor Eifersucht fast geplatzt wärst.»
«Wie kommst du darauf, dass ich eifersüchtig bin?»
Jack streichelte ihren Nacken unter dem langen Haar. «Du kannst mir doch nichts vormachen. Du bist sauer, dass sie ohne dich losgezogen sind. Aber dafür wird es eine ganz simple Erklärung geben.»
Karla schüttelte die Hand ihres Vaters ab. «Die ganze Sache interessiert mich so was von gar nicht! Und jetzt lass mich einfach in Ruhe, okay!»
Damit stapfte Karla davon Richtung Parkplatz. So schnell, dass ihr Vater Mühe hatte, ihr zu folgen. Und Karla nicht mehr mitbekam, wie Jack plötzlich kopfschüttelnd mitten auf der Straße stehen blieb, seiner Tochter nachsah und vor sich hin murmelte: «Niemand hat behauptet, dass die Pubertät einfach werden wird.»
An diesem Abend verzog sich Karla früh in ihr Zimmer. Sie hatte weder Lust auf Janes Kichererbsen-Teigtaschen mit einem Dip auf Basis rechtsdrehender Joghurtkulturen noch auf weitere Gesprächsversuche ihres Vaters. Sie wollte allein sein. Und unglücklich. Sie wollte die Welt als das sehen, was sie war: ein Ort voller Grausamkeiten. Dazu eigneten sich am besten ein Himmelbett, melancholische Musik, ein Hundefell, in das man flennen, und Süßigkeiten, mit denen man die Zähne ruinieren konnte.
Als Colas Fell feucht war und an Karlas Kiemen ein Kaubonbon klebte, klopfte es an der Tür. Karla wischte sich mit dem Ärmel ihres Sweatshirts über die Augen, zog die Nase hoch, hockte sich im Schneidersitz aufs Bett und nahm das Buch, das auf ihrem Nachttisch lag.
«Ja?», sagte sie mit belegter Stimme.
«Ich bin’s!»
Karla wusste genau, wer «Ich bin’s!» war. Was bilden sich Jungs nur ein, dachte sie erbost. Rufen einfach «Ich bin’s!» und warten, dass sich – Hokuspokus Fidibus – vor ihnen die Tür öffnet wie von Zauberhand.
«Ich bin’s!»
Das war ein bisschen mager für eine magische Formel.
«Wer ist ‹Ich bin’s!›»?, fragte Karla, während sie wütend auf ihrem Zitronenbonbon herumknatschte.
«Wer wohl? Ich! Felix! Kann ich reinkommen?»
«Wenn’s sein muss!»
Die Tür ging auf. Felix stand auf der Schwelle, verschränkte die Arme vor der Brust und strahlte Karla an. «Sei bitte nicht so euphorisch! Das bringt mich ganz durcheinander.»
«Du bist doch sonst nicht so empfindlich», sagte Karla. «Vor allem dann nicht, wenn es um die Gefühle von Mädchen geht.»
Felix schloss die Tür, trat ein und kam auf Karlas Bett zu. «Ich weiß ja, wieso du sauer bist! Aber falls es dich interessiert: Wir wollten dich fragen, ob du mitkommst. Doch du warst nicht da. Hast du mich verstanden? Du warst nicht da! Und wenn du mir nicht glaubst, dann frag doch Jane. Die hat uns nämlich erzählt, dass du mit deinem Vater im Kino bist.»
«Ach ja?! Und warum hast du mir das in der Eisdiele nicht gesagt?»
«Wollte ich ja. Ich habe noch hinter dir hergerufen, aber du bist ja schneller abgedampft als ein Feuerwerkskörper in der Silvesternacht.»
«Ppphhh», machte Karla und wandte sich wieder ihrem Buch zu.
Felix griff in die Tüte mit den Kaubonbons auf Karlas Bett, nahm sich einen mit Kirschgeschmack, wickelte ihn aus, zerknüllte das Papier zwischen den Fingern und steckte sich den Bonbon in den Mund.
«Kannst wenigstens fragen!», schmollte Karla. «Es sind schließlich meine.»
«Warum werdet ihr Mädels eigentlich mit jedem Jahr zickiger? Eher lernst du als Mönch im Kloster die Frau deines Lebens kennen als ein Mädchen, das nicht zickig ist.»
«Dann geh doch ins Kloster.»
«Danke für den Tipp!»
«Mit vollem Mund spricht man nicht!», sagte Karla, während ihre Augen blitzten.
«Besser mit vollem Mund als mit leerer Birne.» Felix beugte sich über Karla und nahm ihr das Buch aus der Hand. «Jetzt habe ich mal einen Tipp. Du hältst das Buch verkehrt rum.»
Karla zuckte die Achseln, konnte aber nicht verhindern, dass sie rot wurde. Sie drehte den Kopf zur Seite, damit Felix das nicht sehen konnte. «Hast wohl noch nie was davon gehört», sagte sie, «dass Verkehrt-herum-Lesen den Sehnerv trainiert?»
Felix lachte laut auf. «Nee! Noch nie. Und du auch nicht. Wetten?»
«Doch. Da braucht man später nämlich keine Brille.»
«Manchmal kann ein bisschen Durchblick nicht schaden», sagte Felix, während er sich dicht über Karla beugte und sie anlächelte. Es war ein Lächeln zwischen Zärtlichkeit und Spott. Es ging Karla unter die Haut – und auf die Nerven. Es war ein Lächeln, nach dem alles passieren konnte. Kuss. Oder Krach. Ein Lächeln, das man unbedingt stoppen musste, bevor es einen mürbe gemacht hatte. Und deshalb sagte Karla: «Außerdem geht dich das überhaupt nichts an, was ich mache. Warum mischen sich eigentlich alle ständig in meine Angelegenheiten?»
Das Lächeln auf Felix’ Gesicht verschwand. «Aber wehe, man tut es mal nicht. Dann ist die Signorina beleidigt. Ich halte mich ab jetzt aus deinen Sachen raus. Brauchst keine Angst zu haben!»
Felix warf das zerknüllte Bonbonpapier auf Karlas Bett. «Arrivederci, bella!»
Damit ging er hinaus und ließ die Tür ins Schloss fallen. Karla schaute ihm fassungslos nach. Ihren Blicken folgten die Bonbons, von denen Karla eine große Hand voll hinter ihm herwarf. Sie prasselten gegen das weiß lackierte Holz.
Klack. Klack.
«Blödeimer!», rief Karla.
Sie hatte eine Stinkwut. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie vor allem auf eine Person sauer war: auf sich selber. Sie hatte einfach das Talent, im Nu aus jedem mecklenburgischen Lüftchen einen tropischen Wirbelsturm zu machen. Und damit niemand mehr von diesem Orkan hinweggeweht wurde, beschloss Karla, den Rest ihres Lebens hinter den weißen Schleiern ihres Himmelbettes zu verbringen und in einen hundertjährigen Heckenrosenschlaf zu fallen. Danach waren schließlich auch alle Probleme von Dornröschen aus der Welt gewesen.