Das Dumme an guten Vorsätzen sind schlechte Angewohnheiten. Und zu Karlas allerschlechtesten Angewohnheiten, so fand sie, zählte ein knurrender Magen, sobald sie die Augen aufgeschlagen hatte. Deshalb verließ sie am nächsten Morgen widerwillig die schützende Burg ihres Bettes, zog sich T-Shirt und Jeans an, stülpte eine Baseballkappe über ihr ungekämmtes Haar und wollte gerade mit nackten Füßen in die Halle hinuntertapsen, als sie die Bonbons sah, die immer noch auf dem Holzfußboden vor ihrer Tür lagen. Der Streit mit Felix am Vorabend fiel ihr wieder ein. Der Krach mit ihm hatte einen ähnlich schalen Geschmack hinterlassen wie die Unmengen von Kaubonbons, die sie gestern Abend in sich reingestopft hatte.
Karla bückte sich mit einem Stoßseufzer, sammelte die Bonbons auf und legte sie in eine kleine Holzschale auf ihrem Schreibtisch.
Das war das Blöde an Wutanfällen, dachte Karla. Man hatte in der Regel nicht viel mehr von einem Streit als Arbeit, schlechte Laune und ein schlechtes Gewissen.
Karla schlich die Treppe hinunter, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Jetzt bloß niemandem begegnen, dachte sie.
Nicht Jane mit ihrer Müsli-Mühle!
Nicht ihrem Vater, der wieder versuchen würde, in ihrer Seele zu buddeln.
Nicht Dr. Flostrand mit seinem Strahlelächeln und erst recht nicht Gina Berger, dieser blonden Miss Sonnenschein aus Westfalen. Keinen von ihnen wollte Karla sehen. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass sie die Erwachsenen hörte. Die Stimmen von Mia und Jack. Sie kamen aus der Küche und drangen bis in die Halle. Karla blieb stehen und lauschte.
«Typisch Hausfrau», sagte Jack.
«Was soll das denn schon wieder heißen?», fauchte Mia.
«Das sind die, die prinzipiell die Reste aus großen Schüsseln in kleine Schüsseln füllen, um sie dann mit Frischhaltefolie zu verpacken und in den Kühlschrank zu stellen.»
«Und was ist dagegen zu sagen?»
«Nichts!», erwiderte Jack betont gleichgültig.
Mias Stimme überschlug sich beinahe vor Wut. «Immer noch besser als die Sorte Männer, zu denen du eindeutig gehörst, die ganz lässig einfach alles in den Kühlschrank donnern, weil es ihnen nämlich piepegal ist, ob ihnen sämtliche Joghurtbecher und Milchtüten entgegenkrachen.»
«Da es meine Milchtüte ist, mein Kühlschrank und mein Küchenboden, weiß ich gar nicht, wieso du dich so aufregst», sagte Jack. «Ich mache die Sauerei schon wieder weg.»
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Karla spürte, dass jemand hinter sie getreten war. Sie drehte sich um und erblickte ihre Großmutter. Jane sah zur Küchentür und schüttelte den Kopf. «Uihuih. Da sind zwei mitten in der Schlacht und bemerken gar nicht, dass der Kampf schon längst auf einem Nebenkriegsschauplatz tobt.»
Karla verstand kein Wort. «Was meinst du denn damit?»
«Dass sie sich gar nicht um die Sache streiten», erklärte Jane. «Ich sage dir, weshalb Mia wirklich sauer ist.»
«Das ist ja nicht schwer zu erraten. Weil Gina bei uns wohnt.»
Jane nickte. «Sie ist eifersüchtig», sagte sie und steckte ihre Hände mit den feuerwehrrot lackierten Fingernägeln in die Taschen ihres schwarzweiß gepunkteten Kapuzenpullovers. An ihren Ohrläppchen tanzten Clips mit Dominosteinen. Karla konnte sich nicht helfen, irgendwie erinnerte sie ihre Großmutter heute Morgen an einen Dalmatiner. Aber sie würde den Teufel tun, ihr das zu sagen. Worte waren wie Waffen, das hatte Karla inzwischen begriffen. Man musste aufpassen, was einem aus dem Mund schlüpfte.
«Ich glaube», hörten sie Mias Stimme aus der Küche, «ich gehe jetzt besser. Ich will euch nicht stören beim Frühstück … Frau Berger und dich. Wahrscheinlich hast du deshalb auch die Milchtüte fallen lassen, weil diese Gina deinen Testosteronspiegel völlig durcheinander bringt.»
«Was für einen Spiegel?», wisperte Karla.
«Das männliche Keimdrüsenhormon», erwiderte Jane ebenso leise.
In dem Moment wurde die Küchentür mit einem Schwung aufgerissen, und heraus stürmte Mia, deren Gesicht vor Zorn fast ebenso rot war wie Janes Nagellack. Mia zögerte einen Moment, als sie Jane und Karla sah. «Es tut mir leid», sagte sie dann mit matter Stimme. «Da sind jetzt eben wohl die Pferde mit mir durchgegangen.» Sie lächelte mit schiefem Mund. «Schließlich gehört mir ja auch ein Reiterhof. Da kann das schon mal passieren.» Anschließend lief sie so schnell nach draußen, dass sie schon aus der Tür war, bevor Karla und Jane begriffen hatten, was eben geschehen war. Karlas Blick fiel durch die geöffnete Tür auf ihren Vater, der vorm Kühlschrank kniete und mit Küchenkrepp eine Pfütze Milch vom Fußboden wischte. Als er seine Tochter und seine Mutter entdeckte, sah er zu ihnen hin und versuchte ein Lächeln. Es war so blass wie die Milch auf den Fliesen.
Ehe Karla zu ihrem Vater hingehen konnte, zog Jane sie mit sich fort ins Wohnzimmer. Jane ließ sich auf einen afrikanischen Hocker fallen, der mit Zebrafell bespannt war. Es war eines von Janes vielen Reisemitbringseln, und trotz aller Trübsal an diesem Morgen musste Karla lachen beim Anblick ihrer schwarzweiß gepunkteten Großmutter auf dem schwarzweiß gestreiften Sitz. Aber der war nicht nach Lachen zumute.
«So geht das nicht weiter», sagte Jane. «Jeder ist eifersüchtig auf jeden, belauscht jeden, argwöhnt irgendwas, ist misstrauisch und auf Krawall aus. Das kann doch nicht sein, dass alle durchdrehen, nur weil ein paar hübsche Mädels hier auftauchen.»
«Ich nicht.»
«Jetzt belügst du dich aber selber, Karla.»
«Wer war denn so pampig zu Gina Berger? DU! Du hast doch genauso Angst um Florian wie Mia um Jack.»
Jane nahm ein Blätterkrokant-Osterei aus einer mit Silberplättchen beschlagenen blauen Schale, die aus Marokko stammte, wickelte das Ei aus dem glänzenden Papier und führte es zum Mund. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. «Siehst du, jetzt vergesse ich in der ganzen Aufregung schon all meine guten Vorsätze und esse dieses ungesunde Zeugs.» Sie sah kurz auf das Ei in ihrer Hand, zuckte die Achseln und steckte es in den Mund. «Ist jetzt auch egal!» Jane lächelte Karla an. «Ich auf jeden Fall bin ganz entspannt im Hier und Jetzt!» Zumindest war Janes Hand so entspannt, dachte Karla, dass sie erneut nach einem Schoko-Ei in der Schale griff. «Ich habe eine wunderbare Idee, wie wir alle wieder glücklich werden. Du musst mir nur dabei helfen.»
Karla wippte auf ihren Füßen. «Und wie?»
«Das verrate ich noch nicht. Nur so viel: Dazu müssen wir meine ganzen Sachen in der Scheune auf einem Flohmarkt verkaufen. Und den machen wir hier auf dem Hof.»
Karla schaute ihre Großmutter entgeistert an. «Was? Du willst dein Antiquitätengeschäft auflösen?»
«Kommt doch sowieso keiner hier raus. Steht doch alles nur rum, findest du nicht?» Jane strahlte, während – schwuppdiwupp – das Schoko-Ei zwischen ihren Lippen verschwand. Für einen Moment schloss Jane die Augen.
«Ist das gut», schnurrte sie.
Karla beobachtete ihre Großmutter und schüttelte den Kopf. Was hatte Jane bloß vor? Was um alles in der Welt hatte alter Plunder mit junger Liebe zu tun?
Karlas Großmutter war bekannt dafür, dass sie nicht lange fackelte, wenn sie erst einmal einen Entschluss gefasst hatte. Bereits am nächsten Morgen hing ein Flohmarktaushang an Bäumen, Laternenmasten und an den Häuserfronten des kleinen Ortes. Am Ostersamstag schon sollte alles unter den Hammer kommen, was Jane in all den Jahren auf der ganzen Welt zusammengetragen hatte: Biedermeiergeschirr, russische Porzellanvasen und französische Toilettenspiegel, Kerzenständer, Kupfertöpfe und Kommoden, Backformen, Bilder und Bestecke. Sogar eine echte Ritterrüstung war darunter, ein chinesisches Teeservice, ein ausgestopfter Bussard und das in Gold gerahmte Ölbild einer Herzogin, die einen roten Hut mit einer weißen Feder trug. Jane öffnete ihre Schatzkammer, und alle durften darin grabbeln. In der Scheune sollte etwas völlig Neues entstehen. Was, das wollte sie Karla auf keinen Fall verraten.
Schon am nächsten Morgen half Karla Jane, wo sie konnte. Sie staubten die Möbel ab, polierten Spiegelglas und Holz, brachten Geschirr, Gläser und Bestecke auf Hochglanz. Doch irgendwann waren auch Janes Karaffen und Kronleuchter kein tagesfüllendes Programm mehr, ganz zu schweigen von Sesseln mit hervorquellendem Innenleben aus Sprungfedern oder staubigen Bettdecken aus Jaguarfell-Imitat.
Als könnten sie spüren, was in Karla vorging, kamen Charlotte und Johanna um die Ecke.
«Hallo, Karla!», riefen beide schon von weitem und winkten ihr zu.
Karla, die gerade auf einer Holzbank vor der Scheune hockte und mit einem weichen Tuch einen angelaufenen Silberteller putzte, ließ den Teller sinken und blickte den beiden Mädchen entgegen.
«Hallo!» Sie winkte zurück. Sie war fest entschlossen, ihre schlechte Laune wegzupolieren wie die dunklen Flecken auf dem Silber. Von Jane wusste sie, dass Felix nicht gelogen hatte. Man hatte nach ihr gefragt vor dem Besuch der Eisdiele. Es gab zwar jeden Tag tausend gute Gründe zu schmollen, aber ohne einen Sündenbock machte es nicht halb so viel Spaß.
Karla rang sich ein Lächeln ab. «Nett, dass ihr mich mal besuchen kommt!»
«Pure Neugier», lachte Charlotte. «Schließlich wollen wir doch mal sehen, wie es sich so in einem Schloss lebt.»
Karla runzelte die Stirn. «Na ja, Schloss …»
«Gina hat jedenfalls mächtig geschwärmt», sagte Charlotte.
Kann ich mir denken, dachte Karla, und vermutlich ist sie vor allem begeistert von Jack. Aber sie hielt den Mund. Sie konnte nicht ewig beleidigt sein wie das ganze Leberwurstsortiment einer mecklenburgischen Fleischereiwarenfabrik.
Charlotte schien das ganz genauso zu sehen, denn sie klatschte in die Hände und rief: «Und was machen wir jetzt?»
«Jetzt machen wir eine Hausbesichtigung», sagte Karla. Und so zeigte sie den beiden das Gutshaus mit dem Treppenturm, den Kletterrosen an der Hauswand und ihrem Himmelbett, dem Wintergarten und dem wilden Wein. Später ertrugen sie gemeinsam Janes Vollkornpizza mit biologisch-dynamischem Schafskäse. Nach dem Essen halfen Charlotte und Johanna bei den Flohmarktvorbereitungen. Johanna fuchtelte irgendeinem finster aussehenden Welfenprinzen in Öl mit dem Staubwedel vor der Nase herum, und Charlotte polierte Kuchengabeln. Vor der Arbeit hatte sich Karla die ganze Zeit gedrückt. Es war mühsam, jeden Zinken einzeln zu wienern. Dass sie ausgerechnet Charlotte die Gabeln zum Putzen gegeben hatte, war reiner Zufall, redete sich Karla ein.
Später liefen sie gemeinsam hinüber zur Happy Horse Ranch, um die Pferde zu satteln. Von Charlotte und Johanna wusste Karla, dass Felix in der Stadt war. Zusammen mit ein paar Freunden war er auf der Suche nach einem günstigen Keyboard für die Band, die sie gründen wollten.
Kurz darauf ritten die drei Mädchen los. Die Luft war warm und roch nach frischem Grün. Karla war zufrieden. Auf Stars Rücken durfte sie träumen und in den blauen Himmel hineinreiten. Manchmal gab es einfach keine Probleme, sosehr man auch suchte. Leider hielt dieser Zustand immer nur für kurze Zeit an, wie Karla bald feststellen sollte. Aber vielleicht war das besser als gar nichts.
Felix ließ sich in all den Tagen nicht blicken, zu beschäftigt war er mit der Gründung seiner Band. Karla hatte auch keine Lust, ihm zu begegnen, und es war beruhigend zu wissen, dass Charlotte ihn ebenso wenig zu Gesicht bekam wie sie selber. Mia benahm sich Jack gegenüber kühl und tat so, als wäre Gina Berger Luft.
Karla war sich inzwischen sicher, dass Liebe im Erwachsenenalter erst richtig problematisch wurde. Witterten sie Konkurrenz, waren Frauen zickig wie Diven und empfindlich wie Klatschmohn. Die Liebe war eine todernste Sache und alles andere als ein Spaß. Eigentlich konnte sie einem das Leben regelrecht vermiesen, und man machte besser einen großen Bogen um sie, wenn sie auf einen zukam. Und wenn sie sich nicht verscheuchen lassen würde, dann musste man sich eben wehren. Sie davonjagen. Dann hätte man Ruhe vor ihr, und alles würde wieder sein wie vorher.
Und wenn nicht?
Wenn sie hartnäckig bliebe und sich nicht in die Flucht schlagen ließe?
Dann hatte man vermutlich den Jungen gefunden, der einen liebte, dachte Karla, und das Leben wäre wundervoll und einfach.
Ja, so könnte es gehen.
Aber so ging es in der Regel nicht.
Endlich war Ostersamstag. Schon am Vormittag strömten die Besucher zu Janes Flohmarkt. Die Sonne schien. Vom Garten blickte man auf Wiesen und Wälder und in der Ferne auf das perlmuttfarbene Wasser des Sees. In den Büschen und Sträuchern des Gutshauses hingen bunte Eier, auf Tapeziertischen vor der Scheune waren Janes Schätze aufgebaut, die Möbel hatte Jack auf die Wiese gewuchtet. Ihre Nachbarin hatte Berge von Kuchen gebacken und verkaufte sie für einen guten Zweck. Dutzende von Menschen wuselten herum, Kinder und Hunde. Es war ein buntes Durcheinander, und alle waren gekommen. Jonas mit Maren und seinen Eltern. Gina Berger, Charlotte und Johanna. Florian Flostrand und Mia. Alle waren sie da.
Sogar Felix streunte über das Gelände. Karla beobachtete ihn aus einiger Entfernung. Ihr wurde ganz schwummrig, wenn sie ihn nur ansah. Die Hände wie so oft auf dem Rücken und um die Lippen sein typisches Felix-Grinsen. Ein Lächeln, als würde ihm der eine Teil der Welt gehören – und der andere ihn amüsieren. Manche hielten es für arrogant. Karla jagte es heiße Pfeile ins Herz – und das machte sie wütend. Pfeile gehörten in Zielscheiben und in Western, nicht in Herzen.
Alles an ihm machte sie wütend.
Weil alles an ihm zum Verlieben war.
Seine langen Haare, die eigentlich glatt waren, sich aber über den Ohren leicht kräuselten, wenn sie feucht wurden. Das Stückchen nackte Haut, das aus seinem weißen, zwei Knöpfe offenen Hemd ragte. Der graue Glücksstein, der an einer silbernen Kette auf seiner Brust baumelte. Seine Jeans, die voller Löcher war und vom vielen Waschen eher weiß als blau.
Warum, überlegte Karla, konnte er nicht wenigstens eine Buckelnase haben oder einen Bauch?
Schiefe Zähne oder dünne Haare?
Lippen wie ein Strich oder Ärmchen wie Schlangengurken?
Fast schien es, als habe Felix ihre Gedanken erraten, denn er grinste zu ihr herüber, bevor er auf Charlotte und Johanna zuschlenderte. Karla wandte den Blick ab, als Felix sich zu den beiden Mädchen stellte, während Felix Karla immer noch nicht aus den Augen ließ. Karla ließ ihre Blicke über den Hof schweifen. Sie entdeckte in dem Gedränge Jane, die gerade für einen Käufer einen Kerzenleuchter aus Messing in Zeitungspapier einschlug. Sie sah ihren Vater und Gina Berger ins Gespräch vertieft. Und sie erspähte Mia, deren Augen an den beiden klebten, während sie systematisch in kleinen Happen ein großes Stück Torte von einem Pappteller verputzte. Karla beschloss, zu ihr hinüberzugehen. Doch gerade, als sie nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war, drehte ihr Mia den Rücken zu und ging erneut zum Kuchenbuffet.
«Ein Stück Frankfurter Kranz, einen Bienenstich und einmal gedeckten Apfel, bitte, Frau Pilz!», hörte Karla Mia zu ihrer Nachbarin sagen.
Karla schüttelte ungläubig den Kopf, während Mia den voll beladenen Teller entgegennahm. «Das kannst du unmöglich alles essen!», sagte Karla.
«O doch», erwiderte Mia trotzig. «Ich kann! Und wie ich das kann!»
Mit einer Plastikgabel schob sie sich einen Bissen Bienenstich in den Mund. Dann sah sie hinüber zu Jack und Gina, die gerade lachten, und sagte kauend: «Wenn wir Frauen dick werden, haben wir das nur den Männern zu verdanken. Entweder essen wir, weil wir unglücklich sind. Oder wir essen, weil wir schwanger sind. Oder wir essen, weil wir gut erzogen sind und ihnen Gesellschaft leisten, wenn sie essen wollen.»
Mia nahm einen Happen Frankfurter Kranz und warf wieder einen Blick zu Jack und Gina, hart wie erkaltete Vulkanlava. «Ohne Männer gäbe es nicht eine einzige dicke Frau auf dieser Welt», mümmelte Mia. «Und wenn ich mir weiterhin alles so zu Herzen nehme, dann muss ich bald zum Zirkus Krone, damit die mir ihr Zelt als Nachthemd leihen.» Sie stach kampfeslustig die Gabel in den Apfelkuchen. «Gott sei Dank hat Frau Pilz keine Sahne da, sonst wäre ich verloren.»
Mia war so komisch in ihrer Verzweiflung, dass Karla losprustete vor Lachen.
Aber Mia achtete gar nicht darauf. Sie befeuchtete ihren Zeigefinger mit der Zunge, stippte die Krümel auf und leckte sie ab. «Ich hätte mich niemals in deinen Vater verlieben dürfen. Man wird nur verletzlich, wenn man liebt. Und dabei hätte ich es, gerade ich, doch wirklich besser wissen müssen. Schließlich bin ich schon einmal sehr enttäuscht worden, als uns Felix’Vater verlassen und mit seiner Freundin eine neue Familie gegründet hat.» Mia schluckte und schaute mit leerem Blick zu den vielen Menschen an den Verkaufstischen, die Janes Schätze begutachteten, in die Hand nahmen, sie von allen Seiten betrachteten, sie berührten, betasteten, sie wieder hinstellten, um den Preis feilschten, kopfschüttelnd davongingen oder kauften, wenn Jane sie zurückrief, offensichtlich bereit, mit dem Preis herunterzugehen.
«Warum macht einen die Liebe nur so dumm?», fuhr Mia fort. «Warum verlieben wir uns immer wieder aufs Neue, anstatt endlich aus dem Gelernten klug zu werden? Eine intelligente Frau hat mal gesagt: ‹Das ist der Sieg der Hoffnung über die Erfahrung.)» Mia seufzte und löste ihren Blick von dem Treiben um sie herum. «Ach, verzeih! Ich bin eine fürchterliche Miesmacherin, nicht wahr? Glaub mir, Karla, du kannst froh sein, dass du mit alldem noch nichts zu tun hast. So ist es doch, oder gibt’s bei dir jemanden?»
Karlas erster Impuls war, den Kopf zu schütteln.
Aber warum sollte sie?
Das wäre doch eine glatte Lüge, fand Karla. Sie hatte langsam genug davon, dass sie für alle immer noch das kleine Mädchen war, das nichts anderes im Kopf hatte als Haribo, Hundebabys und Halbblüter. Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: «Es gibt da einen Jungen, den ich … den ich … ganz … na ja, ganz süß finde.»
«Tatsächlich?» Mia sah sie groß an. «Kenne ich ihn?»
«Nein», flunkerte Karla mit leiser Stimme.
«Er hat bestimmt dunkle Haare wie dein Vater, stimmt’s? Man sagt ja, dass sich Mädchen immer in Jungs verknallen, die ihrem Vater ähneln.»
Karla zögerte einen Moment. «Nicht ganz so dunkle Haare», antwortete sie schließlich. «Eher … eher helldunkel.»
«Oh, Gott!», unterbrach Mia sie plötzlich. «Mir ist schlecht! Es war wohl doch zu viel Kuchen. Ich glaube, ich brauche ein Glas Wasser. Entschuldige mich!»
Damit rannte sie davon. Karla war erleichtert, dass die Fragerei ein Ende hatte. Sie blickte auf eine vergoldete Uhr unter einer Glasglocke, die auf einem der Tapeziertische stand. Es war schon kurz nach drei. Um sechs sollte Janes Flohmarkt schließen. Karla sah sich um. Jack trug gerade einen sandfarbenen Sessel mit geschnitzten Füßen zu einem Lieferwagen. Gina plauderte mit Florian Flostrand. Jane wedelte mit großen Geldscheinen in der Gegend herum, die sie nicht wechseln konnte, während sie dem Sessel wehmütig nachsah. Es war eines ihrer Lieblingsstücke gewesen. Johanna holte sich gerade ein Glas Apfelsaft.
Und Felix küsste Charlotte.