KAPITEL 6

Kapitel 6

Donnerstag, 19. Juni

I ch wache früher auf als gewöhnlich. Pops ist bereits mit Elvis Junior in der Scheune. Ich ziehe meine Gummistiefel an und laufe durch das vom Tau noch rutschige Gras.

»Mino gizhep, Pops.« Ich streichle meinen Hund und füge hinzu: »Mino gizhep, Junior.«

»Mino gizhep, Indaanis.«

Pops kümmert sich mit so viel Begeisterung und Hingabe um unseren Garten. Er ist jeden Tag so aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. An der Pinnwand über seinem Arbeitstisch hängen verschiedene Tabellen, eine bunte Karte der Winterhärtezonen und ein Plan unseres Gartens in Postergröße.

Ich bleibe vor dem Kalender stehen. Heute ist Tag drei für die dreizehn zurückgebrachten Kürbissamen, die auf einem Tablett in biologisch abbaubaren Vorziehtöpfen unter Anzuchtlampen stehen. Ich hoffe so sehr, dass sie aufgehen.

Ich habe Pops erzählt, dass ich die besonderen Samen von einem Ältesten geschenkt bekommen habe. Stimmt ja irgendwie. Zum Glück hat er mich nicht mit Fragen gelöchert, wie Mom das tun würde.

»Hey, Pops, heute ist Grandma Cakes Geburtstag.« Ich habe sie nie kennengelernt, aber die wenigen Erinnerungen, die Pops an seine Mutter hat, haben alle mit dem Backen von süßen Köstlichkeiten zu tun. »Hatte sie einen Lieblingskuchen?«

»Sie ist gestorben, als ich vier war.« Pops stellt eine Kiste Einmachgläser auf seinen Arbeitstisch. »Ich erinnere mich kaum an damals – nur an einen Geburtstagskuchen, an das Planschen in Schlammpfützen und an ihr Lachen.«

Grandma Cake, die mit richtigem Namen Pauline hieß, ist in Lansing, Michigan aufgewachsen. Sie hat Großvater Birch kennengelernt, als er am Fließband bei General Motors arbeitete. Nachdem sie bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben war, nahm Großvater Pops mit zurück in seine Reservation in der Nähe von Marquette. Fotos von Grandma Cake zeigen eine schöne Schwarze Frau mit vertrauten Gesichtszügen. Ihre goldbraune Hautfarbe ist genau wie meine, ein paar Töne heller als die meines Dads. Obwohl ich ganz offensichtlich Schwarz bin, kenne ich den afroamerikanischen Teil meiner Familie am wenigsten.

»Ich werde einen Kuchen für heute Abend als Dessert machen«, verkünde ich.

»Mmm. Klingt gut.« Er unterbricht seine Inspektion der Einmachgläser. »Melasse. Ich glaube, mich zu erinnern, dass es etwas mit Melasse war.«

Nach dem Stempeln gehe ich direkt in Coopers Büro.

»Sobald du Zeit für mich hast, bin ich bereit, über meine Aufgaben zu sprechen«, sage ich.

»Fleißige Padawan.« Er weist mit den Lippen zum Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches.

Ich falte die Blätter auseinander, die ich zu Hause ausgedruckt habe. Fünf Ojibwe-Antiquitäten zum Verkauf auf eBay. Ich beginne mit der Weste.

»Glaubst du, dass sie authentisch ist?«, fragt Cooper.

Ich nicke. »Es sind Glasperlen, keine aus Plastik. Die Einfassung sieht wie Hirschleder aus, die Art, wie es abgetragen ist. Aber man müsste es anfassen, um sicher zu sein.« Ich zögere, bevor ich weiterspreche, aber Cooper könnte diese eine Person sein, die mich verstehen würde. »Es ist seltsam, etwas zu kaufen, bevor man es persönlich gesehen hat. Ich hätte gerne, dass Stormy Nodin ein Gebet darüber spricht.«

Cooper starrt darauf, aber sagt kein Wort, bestimmt zwei Minuten lang.

Schließlich zeigt er auf Grave Injustice .

»Sag mir eine Sache aus dem Buch, an die du dich erinnerst«, sagt er.

Da ich darauf vorbereitet war, ihm alle fünf Auktionsartikel zu zeigen, muss ich schnell umdenken.

»Ich fand es cool, dass Studierende in den 1970er-Jahren eine staatliche Förderung beantragten, um einen Pionierfriedhof auszugraben. Nur um zu zeigen, wie verkorkst es ist. Was die einen als Grabräuber bezeichnen, ist für andere ein Archäologe.«

Cooper und ich sprechen abwechselnd über die eBay-Artikel und über das, woran ich mich aus dem Buch erinnere. Wenn ich über etwas, das ich gelesen habe, schimpfe, sagt er nicht, dass ich nicht fluchen soll.

»Was mich wirklich wütend macht, ist der Teil, in dem geschnitzte Hopi-Figuren, heilige Gegenstände, an einen Sammler verkauft wurden, der sie schließlich zerstörte, um nicht erwischt zu werden. Die Behörden wussten, wer es getan hatte, aber niemand wurde jemals verurteilt.« Da ich mich an mehr erinnere, als ich gedacht hatte, spreche ich weiter. »Und ein anderer Fall: Ein Kunsthändler hat drei Masken verkauft, von denen er wusste, dass sie den Hopis gestohlen worden waren. Er kam mit einer lächerlichen Geldstrafe davon. Die Käufer stifteten die Masken einem Museum, anstatt sie dem Tribe zurückzugeben.«

Der vierte Gegenstand, den ich ihm zeige, ist ein Korb aus Schwarzesche mit passendem Deckel, in den feine Tressen aus Süßgras als Muster eingeflochten sind. Auf keinem der Internetfotos ist die Unterseite des Korbs zu sehen, wo die Künstler ihr persönliches Zeichen anbringen. Ich erzähle Cooper, wie meine Urgroßmutter Maria ihre Körbe gekennzeichnet hat.

»Welches Zeichen hätte sie für Januar, den Spirit Moon, verwendet?«, fragt er.

»Das Zeichen für Manidoo Giizis, ein Horizont mit feinen Linien für die Nordlichter.«

Von meiner Namenspatronin zu sprechen, lässt mich auch an Nachkommen in gerader Linie und NAGPRA denken.

»Also, wenn ich mit dem Warrior Girl verwandt wäre, könnte ich sie und ihr Messer zurückverlangen? Würde ich sie zurückbekommen? Das NAGPRA -Gesetz besagt, dass menschliche Überreste und die dazugehörigen Grabbeigaben zurückgegeben werden können …« Ich versuche, mich an den genauen Wortlaut zu erinnern. »Auf Antrag von nachweislichen Nachkommen in gerader Linie.«

»Der Archäologe am Mackinac State College sagt, dass ihre Knochen tausend Jahre alt sind. Er behauptet, sie stamme aus der Zeit, bevor wir Anishinaabeg in dieser Region angesiedelt waren. Somit hat er Warrior Girl als kulturell nicht identifizierbar eingestuft und daher kann sie nicht rückgeführt werden.«

»Dieser Leer-wah-Typ?«, brülle ich.

»Ja«, sagt Cooper. »Du hast das NAGPRA -Gesetz gelesen, das besagt, dass die Institutionen fünf Jahre Zeit haben, um ihre Bestandslisten zu erstellen und alle menschlichen Überreste und kulturellen Gegenstände zu identifizieren, damit die Tribes die Rückführung ihrer Vorfahren und die kulturell damit verbundenen Objekte beantragen können, oder?«

»Jap«, sage ich missmutig. »Hamster-Raquel sagt, dass alles kulturell nicht identifizierbar ist, bis sie die Zeit aufbringt, festzulegen, ob es uns oder einem anderen Tribe gehört.«

»Dr. Fenton«, verbessert mich Cooper, »verzögert den Identifizierungsprozess, was unsere Forderung, unsere Vorfahren nach Hause zu bringen, ausbremst. Aber Dr. Leer-wah bestreitet glatt, dass wir überhaupt einen Anspruch auf das Warrior Girl haben.«

Ich stoße wilde Flüche aus. Cooper hebt die Hand, um mich zu unterbrechen.

»Seine Begründung dafür ist, dass das College das Warrior Girl ohne weitere Nachforschungen dem ›falschen‹ Tribe übergeben könnte. Und da inzwischen neue Technologien entwickelt wurden, will er mehr über sie herausfinden.« Er spricht jetzt sanfter. »Perry, ich teile deine Gefühle. Wir können darüber noch einmal ausführlicher sprechen. Aber magst du mir erst einmal von deinem fünften Gegenstand auf eBay erzählen?«

Mein letzter Gegenstand ist ein Wiegenbrett. Ich versuche, nicht zu weinen, wie ich es getan hatte, als ich das Angebot online fand und mir seine Provenienz vorstellte. Das Warrior Girl war einmal ein binoojii, das von seiner Mutter in den Armen gehalten wurde, vielleicht sogar in ein Wiegenbrett wie dieses eingewickelt. Auntie hat für Waabun ein wunderbares Wiegenbrett anfertigen lassen, mit einer Perlenstickerei aus Flammen, Clan-Symbolen, Blaubeeren und Erdbeeren. Es war nicht für den täglichen Gebrauch gedacht, nur für besondere Anlässe. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um sprechen zu können.

»Cooper, wie kann man diese Arbeit tun, wenn einem dabei das Herz so schwer ist?«

Als Mom mich nach der Arbeit abholt, frage ich, ob wir Melasse und Schmalz zu Hause haben.

»Für was in aller Welt brauchst du Schmalz?«

»Es ist Großmutter Cakes Geburtstag«, sage ich, während ich mich anschnalle. »Ich habe online ein Rezept für Melasse Tea Cakes gefunden. Das ist etwas, das sie für Pops gebacken haben könnte.«

Ich erwarte, dass sie einen Redeschwall über das Kochen mit Schmalz ablässt. Meistens führt es zu einem ausschweifenden Vortrag über die von der Regierung ausgegebenen Lebensmittel und die Kolonisierung unseres Anishinaabe-Verdauungssystems durch die Zhaaganaash, was zu Pops Diabetes geführt hat. Wenn Mom Frybread macht, dann ist es ihre glutenfreie Version mit Mandelmilch, gebacken in Kokosöl statt in Schmalz.

Bei uns zu Hause will niemand Frybread.

Anstatt direkt zur Fähre zu fahren, hält Mama an einem Lebensmittelgeschäft und gibt mir einen Fünfdollarschein.

»Ich nehme an, dass es in Ordnung ist, wenn dein Dad zu diesem besonderen Anlass ein wenig davon isst«, sagt sie.

Ich lasse mir von Pauline bei den Melasse Tea Cakes helfen, das heißt, ich bringe sie dazu, den Teig zu rühren, weil meine Armmuskeln noch unter den Nachwehen von Coopers Reinigungsjobs leiden. Nachdem sie fertig ist, lasse ich sie den Teig ausrollen, damit ich mit der runden Form die Cakes ausstechen kann.

Als Pops aus dem Garten kommt, treten ihm bei dem Duft von Melasse die Tränen in die Augen. Er sieht so traurig aus, dass ich mir kurz überlege, ob das mit den Tea Cakes eine gute Idee war. Dann sieht er aus, als würden fünfhundert wunderbare Erinnerungen auf einmal über ihn hereinbrechen. Er wischt seine Tränen weg und kommt durchs Zimmer, um mich fest an sich zu drücken.

»Gizaagi’in, Indaanis«, sagt Pops und küsst mich auf die Stirn.

Während des Abendessens will Mom, dass wir von unserem Tag erzählen. Ich erzähle von den fünf Auktionsgegenständen auf eBay und den fünf erinnerungswürdigsten Facts aus dem Buch Grave Injustice. Ich will das Gespräch nicht paulinetypisch an mich reißen, aber Mom und Pops stellen mir weitere Fragen.

Als wir die Melasse Tea Cakes essen, erzählt uns Pops alles von Grandma Cake, woran er sich noch erinnert. Mit jeder Erinnerung strahlt sein Gesicht ein wenig mehr. Fotos in Alben, die noch in Marquette sind. Am besten gefällt mir, wenn er von ihrem lauten Lachen erzählt. Einmal saß Pops als kleiner Junge auf ihrem Schoß, als sie lachte und ihn umarmte.

»Ich spürte, wie ihr Lachen durch mich hindurchging und ich ein Teil von ihr war«, sagt er.

Mom streicht über seine Wange und er drückt ihre Hand an sein Gesicht.