KAPITEL 7

Kapitel 7

Freitag, 20. Juni

U nser Freitagsseminar fällt aus, damit die Kinomaage-Praktikanten bei der Suche nach Darby O’Malley helfen können. Das letzte Mal hatte man sie vor acht Tagen mit ihren Mannschaftskameradinnen vom Eishockey-Team in einer Bar auf Sugar Island gesehen. Als jedoch die vorgesehene Fahrerin nicht nüchtern blieb, beschloss Darby, lieber zum Jagdcamp ihres Ex-Freundes zu gehen, anstatt mit jemandem zu fahren, die getrunken hatte. Auf der Überwachungskamera des Ex-Freundes war niemand zu sehen, der das Grundstück betreten hatte, weder bevor noch nachdem sie dort hätte ankommen sollen. Die Tribal Police richtete im Nokomis-Mishomis Elder Center auf der Insel ein Einsatzzentrum ein. Im Speisesaal hängen Karten des Suchgebiets, eine Zeitleiste der Ereignisse und ausgewählte Fotos von Darby, auf denen ihre Augen tatsächlich aquamarinblau sind.

Alle Praktikanten kommen in Jeans und langärmeligen T-Shirts, breitkrempigen Hüten und Wanderschuhen, trotz der Junihitze. Wir sind Teil des Suchtrupps in den Wäldern, wo die Moskitos und Kriebelmücken unbarmherzig sind. Die Tribal Police hat bereits die Straßen und Wasserläufe zwischen der Bar und dem Jagd-Camp durchsucht. Nun wird erwogen, dass Darby eine Abkürzung durch den Wald genommen haben könnte und dabei in Schwierigkeiten geraten ist – vielleicht ist sie gestürzt oder auf einen Bären getroffen.

Jedem Team ist ein Tribal Cop zugeteilt. Team Misfit Toys – mitsamt unserem Ehrenmitglied Elvis Junior – wird von Officer Was-zum Sam Hill begleitet. Fahrgemeinschaften bringen uns zum Jagd-Camp, zu dem Darby unterwegs war. Unsere Aufgabe ist es, den Weg vom Camp bis zur Bar abzugehen.

Was-zum trägt eine Plastiktüte mit einem ungewaschenen T-Shirt von Darby, an dem Elvis Junior ab und zu schnüffelt. Mein Hund versteht seine Aufgabe genau und ignoriert den verrottenden Hirsch- und Bärenkot, in dem er sich normalerweise wälzen würde. Junior läuft voraus, schnüffelt am Boden und hebt das Bein, um sein Gebiet zu markieren, dann läuft er wieder neben Lucas her.

Mithilfe meines altmodischen Kompasses führe ich das Team auf den Pfaden rund um das Jagd-Camp. Auf meiner Karte zeichne ich verschiedene Orientierungspunkte ein.

»Wo hast du das alles gelernt?«, fragt Erik.

»Meine Eltern haben mir das Fährtenlesen beigebracht«, sage ich und zeige auf Kojotenkot auf der Mitte des Pfads.

»Mir auch«, mischt sich Lucas ein. »Mir haben sie es auch beigebracht.«

»Außerdem gehe ich mit Auntie medizinische Pflanzen sammeln.«

»Was wäre, wenn deine Familie diese Fähigkeiten nicht hätte?«, überlegt Erik.

»Im alten Cultural Camp haben sie Wochenend-Workshops angeboten, wo du lernen konntest, wie man Fisch räuchert, Felle färbt oder Ahornsaft zapft, den man dann zu Sirup kocht, je nach Jahreszeit. Es gab sogar ein Winterüberlebenscamp, wo man lernte, wie man einen Unterstand baut und bei Kälte die Körperwärme bewahrt. Solche Dinge eben.«

»Das ist der Ort, an dem wir die Einführung für unser Praktikum hatten«, erklärt Lucas.

»Verstehe. Und gibt es ein neues Cultural Camp?«, fragt Erik.

»Ja«, antworte ich. »Auf dem Festland. Hinter dem Powwow-Gelände. Aber da fühlt es sich anders an, irgendwie nicht so aufregend.« Lucas nickt zustimmend.

»Warum haben sie dort die Einführung gemacht? Ich habe gehört, dass der Council das alte Cultural Camp diesen Herbst abreißen will«, fragt Was-zum.

»Kein Mobilnetz. Die Praktikanten können nicht die ganze Zeit am Handy hängen«, sage ich.

»Kommt die vermisste Frau aus einer Familie wie eure?«, fragt Erik.

»Weiß ich nicht«, sage ich. »Sie ist von einer anderen Tribal Community.«

»Darby ist hierhergezogen, um an der Lake State Hockey zu spielen«, antwortet Was-zum. »Ich glaube nicht, dass sie das Studium abgeschlossen hat. Sie arbeitet im Casino. Lässt sich mit Jungs und Mädchen ein.« Er klingt entsetzt.

»Wow! Wird das Sexleben jeder vermissten Nish kwe so untersucht?«, frage ich.

»S-s-sorry«, stammelt Was-zum. »So war das nicht gemeint.« Er wird rot.

»Wo wir gerade von Einlassen sprechen«, sagt Shense. »Ich müsste mal abpumpen. Das Wandern fördert den Milchfluss.«

Was-zum wird wieder puterrot im Kontrast zu seiner kaum getönten Haut.

Shense setzt sich auf einen Baumstamm und zieht eine batteriebetriebene Milchpumpe aus ihrem Rucksack.

»Ah, was für eine Erleichterung«, sagt sie, als die Pumpe zu summen beginnt. Ihr Lächeln ist breit genug, um ihren rebellischen Zahn zu zeigen, der hervorsteht.

»Fördert Wandern die Milchproduktion?«, frage ich.

»Sicher. Das und wenn das Baby schreit. Und Claire Barbeaus piepsige Stimme.«

Als Shense mit Pumpen fertig ist, verkünde ich das Ende der Pause.

»Hey, ich bin für die Gruppe verantwortlich«, sagt Was-zum.

»Natürlich bist du das«, bestätige ich.

Am Ende des Tages versammeln wir uns alle am Elder Center. Niemand hat auch nur eine Spur von Darby O’Malley in den Wäldern gefunden. Ein paar der Praktikanten verabreden sich auf Drinks. Als Lucas einen Anruf bekommt, um seine kleine Schwester in der Stadt abzuholen, bietet Erik an, Pauline, Junior und mich nach Hause zu fahren. Ich nehme das Angebot an, gerade als meine Schwester aus der Toilette kommt. Ihre Augen sind vom Weinen gerötet.

»Erik bringt uns nach Hause«, sage ich und öffne die Autotür, um ihr den Beifahrersitz anzubieten.

Aber Pauline setzt sich auf die Rückbank und starrt aus dem Fenster.

»Willst du morgen zu mir kommen?«, fragt Erik. Sein riesiger Adamsapfel bewegt sich, wenn er schluckt.

»Und dann? Zimmer putzen?« Ich kraule Juniors Rücken, während er auf meinem Schoß sitzt.

»Nein«, sagt Erik lachend. »Damit bin ich spätestens bis zwei durch. Wir könnten etwas unternehmen.«

Ich schaue zu Pauline. Auch wenn ihre linke Seite nicht zu sehen ist, bemerke ich, wie sie die Wurzeln jeder ausgerissenen Strähne untersucht, bevor sie sie wegschnippt.

Wir befinden uns in DEFCON 1.

»Ich geb dir noch Bescheid«, sage ich, als er in unsere Auffahrt einbiegt.

Pauline ignoriert Junior und eilt zum Haus. Ich hole sie ein.

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagt sie, bevor ich irgendetwas fragen kann.

»Bitte, Egg?« Ich suche nach etwas Versöhnlichem in ihrem Gesicht oder ihrem Gang.

Abrupt bleibt sie stehen und wendet sich mir zu. In ihrem Blick liegt unbändige Wut.

»Auntie Daunis ist so eine Bitch. Sie muss sich überall einmischen.«

Ich bin entsetzt. So sprechen wir nicht über Auntie.

»Wenn du wissen willst, was passiert ist«, presst sie zwischen den Zähnen hervor, »komm ins Baumhaus und bring meine Weed-Gummibärchen mit.« Sie steuert direkt auf das Baumhaus zu und steigt die Leiter hinauf.

Junior weiß nicht, wem er folgen soll. Ich zeige mit meinen Lippen auf Pauline. Er geht ihr nach.

Ich gehe in ihr Zimmer und hole aus der ausgehöhlten Ausgabe von Große Erwartungen die Plastiktüte mit den Süßigkeiten. Meine Schwester behandelt ihre Angstzustände mit Cannabis-Gummibärchen. Da sie aber auch Schiss hat, damit erwischt zu werden, muss ich sie für sie kaufen und herumtragen.

Da Pops nirgendwo im Haus zu hören ist, suche ich im Garten nach ihm, wo er die letzten Spargel erntet. Ich rufe ihn und winke.

»Deine Mom muss heute länger arbeiten, deshalb bringt sie von unterwegs Pizza mit«, ruft er zurück.

Ich laufe über den Hof. Elvis Junior wartet unten an der Leiter, die zum Baumhaus führt.

»Skoden«, sage ich, und er versteht sofort.

Er springt hoch, sodass ich ihn wie ein Kleinkind auf meine Hüfte setzen kann. Mit dem freien Arm steige ich die Leiter zum Baumhaus hoch. Pauline hat sich bereits eine alte Decke aus dem wasserdichten Staukasten geholt. Ich setze Elvis Junior auf den Boden, damit er hier oben rumschnüffeln kann.

»Da.« Ich werfe ihr die Gummibärchen zu.

Schnell kaut sie zwei Gummibärchen, bevor sie mir eins anbietet, obwohl sie weiß, dass ich immer ablehne.

»Magst du?« Wir spulen unsere übliche Routine ab. Als ich den Kopf schüttle, sagt sie: »Natürlich, du brauchst nichts, das dir beim Entspannen hilft.«

»Du machst dir genug Sorgen für uns beide.« Ich komme gleich zur Sache. »Was hat dich so aufgeregt?«

Pauline hat den Chief zu allen Meetings begleitet.

»Der Chief war von meiner Vorbereitung der Sitzung, die er gestern Morgen mit einem Mitglied des Hochschulrats vom Mackinac State College hatte, sehr beeindruckt. Es ging darum, das College in ein Tribal College umzuwandeln.«

»Holla, der Tribe will das College übernehmen?«

»Ein Mitglied des Hochschulrats, Grant Edwards, hat es dem Chief vorgeschlagen«, erklärt Pauline. »Egal, da gerade Mittagszeit war, hat Chief Manitou im West Side Drive-in für uns Burger geholt. Er parkte am Flussufer, damit wir die Frachter beim Schleusen beobachten konnten. Es ist völlig in Ordnung, das zu tun.«

»Was ist mit Auntie passiert?«, frage ich.

»Sie parkt direkt neben uns, winkt und kommt mit einem breiten Lächeln rüber. Sagt Hallo. Fragt mich, wie es mir gefällt, für Chief Manitou zu arbeiten. Bla, bla, bla.« Die aufgewärmte Wut lässt meine Schwester die Stimme heben. »Dann fragt sie ihn über sein Auto aus. Perry, seit wann ist es ein Verbrechen, einen Mercedes-Benz zu fahren? Sie fährt einen schicken Range Rover. Ich habe überhaupt nicht verstanden, um was dieser Streit ging. Jedenfalls prahlt sie damit, wie viel Zeug in ihr Auto passt, vor allem in den Kofferraum. Und wie geländegängig es ist.« Sie steht auf und geht im Baumhaus herum. »Du weißt, was sie getan hat, oder?« Sie spuckt es geradezu aus.

Ich weiß es, aber Pauline fährt fort, als ob ich es nicht wüsste.

»Sie hat angedeutet, dass er sich auf eine Blanket Party gefasst machen kann, falls er etwas Unangemessenes mit mir macht. Sie hätte genauso gut einfach sagen können …« – jetzt imitiert meine Schwester Auntie – »ich werde dich in eine Decke wickeln, dich in meinen geräumigen Kofferraum werfen und dich irgendwo auf der Insel absetzen, damit ich und meine Freundinnen dir die Scheiße aus dem Leib prügeln können.«

Wir haben beide schon Gerüchte über Blanket Partys gehört, aber zum ersten Mal wird uns bewusst, wie real sie sind.

»Der Rest des Tages verlief ganz normal, sodass ich nicht weiter darüber nachgedacht habe.« Pauline schnieft. »Ich hätte mir denken können, dass sie nicht lockerlässt.«

Sie hockt sich neben mich. Den Kopf auf die Hände gestützt.

»Chief Manitou hat mich ausgesucht. Weil ich die Klügste bin und besser arbeite als alle anderen und nicht aus irgendeinem dreckigen, perversen Grund, wie Auntie vermutet. Ich bin die beste Praktikantin.« Pauline schluchzt jetzt. »Wenigstens war ich die beste. Claire kam heute auf mich zu und hat gesagt, dass ich mit sofortiger Wirkung versetzt werde, weil die Tribal Police Unterstützung bei der Vermisstensache braucht. Diese aufdringliche Auntie hat sich in meinen Job eingemischt, genau wie sie dich für diesen Museumsfreak arbeiten lässt. Sie zieht an den Schnüren, als wären wir ihre Marionetten.«

Pauline weint und ich nehme sie in den Arm. Elvis Junior legt seinen Kopf auf ihren Schoß und gibt ein mitfühlendes Winseln von sich. So sitzen wir, bis wir Moms Auto in der Auffahrt hören. Als wir die Leiter hinunterklettern, zögere ich kurz.

Sehen wir es mal so: Pauline hat nicht ganz unrecht. Auntie hat ihre ganze Macht gegen uns eingesetzt. Aber das muss nicht heißen, dass Auntie falschliegt. Ich weiß, dass sich meine Schwester nicht vorstellen kann, dass Chief Manitou irgendetwas Unanständiges mit ihr tun würde. Aber wenn Auntie eine perverse Schwingung vom Chief mit Pauline im Auto verspürt hat, dann ist es vielleicht richtig, dem Typen Angst zu machen.

Als wir klein waren, ist Auntie irgendetwas Schlimmes passiert. Ihre beste Freundin Lily, Lucas’ ältere Schwester, ist gestorben. Darüber sprechen sie nicht mit uns. Der Highschool-Hockey-Coach hatte etwas damit zu tun. Uncle Levi kam ins Gefängnis. Stormy auch für kurze Zeit. Es ging um Drogen, aber die Geschichte war vermutlich komplizierter. Das ist immer so.