KAPITEL 8

Kapitel 8

Samstag, 21. Juni

D as Warrior Girl steht in der Scheune neben mir. Wir schauen auf die Samen in den Anzuchttöpfen unter den Pflanzlampen. Sie ist größer als ich und dünner, Zeichen eines schweren Lebens, wo Essen keine Selbstverständlichkeit ist. Ihre Wildlederlappen sind schlicht und praktisch. Sie taxiert mich. Ihre Augen ruhen auf meinem Haar – tiefschwarz wie ihres, aber dicker und lockiger. Wie würde sie es beschreiben? Hat sie jemals jemanden gesehen mit einer Haut wie meiner? Ich blicke an mir hinunter auf meine Schlafshorts und mein T-Shirt. Es ist nicht meine Kleidung, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, es sind meine Kurven und die Weichheit. Die Landkarte meiner Verletzungen verblasst im Vergleich zu ihrer. Ich zeige ihr meinen krummen kleinen Finger in der Hoffnung, sie zu beeindrucken. Sie lacht mich aus. Ihr Blick verweilt auf meiner Stirn, nein, auf meiner Augenbraue, die von einem abgebrochenen Ast aufgeritzt wurde, der meinen Augapfel aufgespießt hätte, wenn ich damals schon zwei oder drei Zentimeter größer gewesen wäre. Ich wünschte, dass ich die Narbe einer interessanteren Geschichte zu verdanken hätte, etwa eine Verwundung im Kampf statt dem Burgspielen mit Pauline und Lucas. Sie starrt darauf. Streckt ihre Hand aus. In dem Moment, als sie die Narbe berühren will, bellt Elvis Junior. Sie ist verschwunden, bevor er bei mir ist.

Pops bereitet ein riesiges Frühstück für Tag eins des Spargel-Einmach-Wochenendes zu. Unser großer Garten versorgt uns das ganze Jahr hindurch, da wir das geerntete Obst und Gemüse einwecken und einfrieren. Auf Sugar Island ist die Vegetationszeit kürzer als im Süden des Staates, aber Pops verlängert unsere Erntezeit mit Vorziehtöpfen, Pflanzlampen und Gewächshäusern.

Ich sitze gerade an meiner zweiten Portion hausgemachten Buttermilchbrötchen mit Wurstsoße, als Pauline mich unter dem Tisch tritt. Du hast es versprochen , raunt sie mir zu.

Ich soll herausfinden, ob Auntie vorbeikommt. Meine Schwester ist an der Reihe, Mom und Pops beim Einwecken des Spargels zu helfen. Aber wenn Auntie, mit der Pauline den Rest des Sommers nichts mehr zu tun haben möchte, vorbeikommen sollte, würden wir unsere Schicht tauschen. Außerdem gehört zu dem Deal, dass Pauline noch meine Wäsche wäscht.

»Hey, Mom. Kommt Auntie heute, um uns zu helfen?«

Pauline zieht ein Gesicht, weil ich so direkt bin. Sie hätte wegen dieser einen Frage den ganzen Morgen einen Eiertanz aufgeführt.

»Nein. Daunis und TJ fahren mit den Jungs in den Wasserpark nach Mt. Pleasant«, sagt Mom.

»Getrennte Hotelzimmer?« Ich frage, weil ich an Shenses Nur-Freunde- Bemerkung von letzter Woche denken muss.

»Was weiß ich. Das geht mich nichts an«, sagt Mom spitz.

»Na ja, sie spricht niemals über Waabs Vater«, sage ich und stecke Elvis Junior ein halbes Brötchen zu. »Und sie verbringt viel Zeit mit TJ

Mom zuckt mit den Schultern. »Frag sie, wenn du es wissen willst. Wenn sie will, wird sie es dir erzählen.«

Meine Schwester rollt mit den Augen, bevor sie vom Tisch aufsteht.

»Was ist mit ihr los?«, fragt Mom, während sie Pauline nachsieht, als sie die Treppe hochgeht.

»Wenn sie will, wird sie es dir erzählen.« Ich ahme das Achselzucken ebenfalls nach.

Um Pops’ Mund zuckt ein Lächeln, bevor er etwas sagt.

»Warum behältst du diesen Schnorrer hier nicht bei dir drinnen?« Pops krault Juniors Kopf. »Es regnet immer noch heftig, und wir brauchen wirklich keinen nassen Hund, der sich neben uns schüttelt.«

Ihn im Haus zu halten, ist keine leichte Aufgabe. Mein Hund liebt es, sich im Schlamm und anschließend in Tierkacke zu wälzen. Eingeschlossen in meinem Zimmer, winselt er nach dem netten Zwilling, damit dieser ihn retten kommt.

Ich hole das Buch hervor, das Cooper als Lesestoff für nächste Woche bestimmt hat: Repatriation Reader: Who Owns American Indian Remakes? Herausgegeben von Devon A. Mihesuah. Sie ist Choctaw, eine registrierte Citizen.

Es erfüllt mich mit Stolz, dass eine indigene Frau ein Buch über die NAGPRA herausgegeben hat. Sie wählte die Expertinnen und Experten aus, die ebenso wie sie den Wunsch haben, unsere kulturellen Artefakte dorthin zurückzubringen, wo sie hingehören.

Ich kenne sie nicht, aber ich bin stolz auf sie. Ich ignoriere Juniors sporadisches Winseln und tauche gespannt in das Buch ein.

Ich lese ein paar Stunden und unterbreche nur, um mir einen Regenschirm zu schnappen und mit Junior nach draußen zu gehen, damit er sein Geschäft erledigen kann. Er wurde ganz aufgeregt, als ich ihn an die Leine nahm. Ich kenne seine Tricks. Er nutzt jede Gelegenheit, um davonzulaufen. Pauline fällt immer auf ihn rein, ich nicht.

Gerade als ich Junior von einem wassergetränkten Tiergerippe wegziehe, meldet ein Summen in meiner hinteren Hosentasche den Eingang einer Nachricht. Mit dem Regenschirm und der Leine fehlt mir eine dritte Hand, um auf mein Handy zu sehen. Ich binde die Leine an meinen Gummistiefel und lese die SMS .

ERIK : Ich bin früh mit dem Putzen fertig. Was machst du?

ICH : Ich spiele mit meinem Hund im Regen.

ERIK : Willst du herkommen?

ICH : Kein Auto.

Als Mom und Pops herausfanden, dass ich bei dem Unfall schnell gefahren war, verboten sie mir, Auto zu fahren, bis ich Auntie alles zurückbezahlt hätte. Diese Bärenmama hat mir den Sommer gründlich versaut.

ERIK : Ich könnte dich abholen. Sollen wir ins Kino gehen?

Ich habe den neuen X-Men noch nicht gesehen. Oder Drachenzähmen leicht gemacht 2 .

ICH : Ich habe X-Men Zukunft ist Vergangenheit mit Lucas gesehen, aber ich könnte ihn noch einmal …

RUMS .

Ich liege auf dem Rücken. Die Leine ist um meine Knöchel gewickelt. Elvis Junior springt mit seinen schlammigen Pfoten und durchtriebenem Grinsen auf mich drauf.

»Du kleines …« Ich unterbreche meine Schimpftirade, um die SMS fertigzuschreiben.

ICH : Hey. Egal, was wir unternehmen, ich muss auf jeden Fall meinen Hund mitbringen. Er ist zu schlau, als dass ich ihn alleine lassen kann.

Als Erik eintrifft, habe ich Junior schon gebadet und mich gewaschen. Ich begrüße ihn auf der vorderen Veranda und halte Junior kurz an der Leine.

»Ich komme einfach nicht damit klar, wie cool eure Festung ist«, sagt Erik mit Blick auf unser beeindruckendes Baumhaus. Er streicht sich ein paar widerspenstige Locken aus dem Gesicht. »Macht dein Vater das von Beruf? Sachen bauen?«

»Nee, er war Ingenieur auf einem Frachter. Aber wegen seines Diabetes ist er in Frührente. Jetzt bleibt er zu Hause und kümmert sich um uns.« Ich deute mit meinen Lippen auf die Scheune. »Meine Eltern und Pauline wecken das ganze Wochenende Spargel ein. Unser Garten ist hinter der Garage.« Ich führe Erik ins Haus.

»Erinnerst du dich an mich, braver Junge?« Erik krault Junior hinter den Ohren. Als wir ins Wohnzimmer kommen, bleibt Erik auf der Stelle stehen. »Wow. Diese Aussicht ist unglaublich. Seid ihr so nah an Kanada?«

»Jap.« Ich zeige zur Treppe. »Das Schlafzimmer meiner Eltern ist oben und mein Zimmer und das meiner Schwester sind hier unten.« Er folgt mir die Treppe hinunter.

»Wow«, sagt er noch einmal.

Im Gemeinschaftsraum gibt es ein Rudergerät, ein Laufband und ein Mini-Fitnessstudio. Von dem Patio unter dem großen Deck des Wohnzimmers hat man ebenfalls einen Blick aufs Wasser.

»Seit Pops Probleme mit Diabetes hat, sind meine Eltern auf dem Fitness-Trip. Wir trainieren alle, um ihn zu motivieren.«

In meinem Zimmer gibt es nicht viel zu sehen, abgesehen von der riesigen Pinnwand mit Fotos meiner Angelausflüge der vergangenen Jahre. Lucas’ schiefes Grinsen ist in einigen Fotos zu sehen, auch ältere, als wir noch klein waren und keine Zähne im Mund hatten.

»Du und Lucas seid schon lange befreundet«, stellt Erik fest.

»Ziemlich. Er zog vor ungefähr zehn Jahren hierher. Er hatte eine ältere Schwester, Lily. Sie war Aunties beste Freundin. Als Lily starb, wurde Auntie auch Lucas’ Tante.« Ich sitze an meinem Schreibtisch und öffne meinen Laptop. »Ich muss schnell die eine eBay-Auktion checken. Das ist eigentlich für die Arbeit.« Erik blickt mir über die Schulter, als ich mich in eBay einlogge. »Es gibt einen Korb aus Birkenrinde. Die Auktion endet um eins.«

»Hast du auf ihn geboten?«

»Nein, aber ich will sehen, für wie viel er weggeht.« Ich erkläre ihm: »Mein Boss will, dass ich sehe, wie einfach es ist, unsere Kunst, auch heilige Objekte, zu verkaufen. Ich soll ihm Bescheid sagen, wenn ich auf etwas stoße, von dem der Tribe wissen sollte. Falls sie darauf bieten wollen, denke ich.«

»Du könntest doch einfach Benachrichtigungen aktivieren und wirst entsprechend informiert«, sagt Erik.

»Was, auf eBay? Ich habe die ganzen Kontoeinstellungen noch nicht richtig durchschaut.«

»Verstehe. Du könntest auch einen Google Alert einrichten«, sagt er.

»Cool«, sage ich und stehe von meinem Schreibtischstuhl auf, damit er sich setzen kann. »Zeig mir, wie das geht.«

»Was möchtest du beobachten?« Erik setzt sich. »Ich brauche Schlagwörter, Beschreibungen.«

Er tippt so schnell, wie ich diktiere: Ojibwe mit e , Ojibwa mit a , Ojibway mit ay , Chippewa , Anishinaabe , Birkenrinde , Korb aus Schwarzesche , Borsten-Box , Bandeliertasche , Trommel und Wiegenbrett.

»Ich richte dir verschiedene Alerts ein. Bei manchen gebe ich die Kategorie als Auswahlkriterium an, aber ich erstelle auch welche mit breiteren Suchparametern, falls der Anbieter keine Ahnung hat, was er in Händen hält, und das Angebot allgemeiner formuliert ist.«

»Wow! Was du nicht alles kannst.«

Erik wird rot, während er weitertippt.

»Dein eBay ist so weit eingestellt. Ich richte dir noch einen Gmail-Account für die Google-Alert-Mitteilungen ein. Hier«, sagt er und rutscht zur Seite. »Sie fragen nach deiner Haupt-E-Mail-Adresse als Sicherheitsinformation.«

Ich gebe die E-Mail-Adresse ein. Während ich tippe, schaut er zur Seite, was mich zum Lachen bringt.

»Was ist denn so witzig?«, fragt er.

»Wie du meine Privatsphäre respektierst. Ich bin sicher, dass du meinen Account mit links hacken könntest.«

Jetzt muss auch Erik grinsen. Der Raum ist mit dem Klackern der Tasten erfüllt, auf die Erik mit Hochgeschwindigkeit einhackt. Nachdem er alles eingegeben hat, geht er zu dem Tab mit der eBay-Auktion, die ich beobachte.

»Verkauft für 175 Dollar«, sagt er. »Ich weiß nicht, ob der Käufer zu viel bezahlt hat oder ob es ein guter Deal war.«

Ich schaue auf den Bildschirm. Der Birkenrindenkorb hatte die Größe eines Kosmetikeimers. Der Künstler hat zarte Ahornblätter in die helle Rinde geschnitzt. An den ausgeschnittenen Stellen kommt die darunterliegende dunkelorangefarbene Unterseite der Birkenrinde zum Vorschein.

»Für die war es ein Schnäppchen«, sage ich ruhig.

Erik wendet sich wieder dem Laptop zu, damit ich meine Tränen der Wut wegwischen kann. Dann springt er aufgeregt auf.

»Perry. Schau dir das an.« Er zeigt auf den Bildschirm. »Der Verkäufer ist von St. Ignace. Das ist … wie weit? Nicht einmal eine Stunde von hier, oder? Sein Name ist Frank Lockhart. Er hat noch mehr Dinge auf eBay. Und einen Laden, der Teepees-n-Trinkets heißt.« Er sucht die Adresse sofort auf Google Maps. Seine Stimme wird so hoch, wie ich es noch nie gehört habe. »Sie haben heute bis 19 Uhr geöffnet.«

»Roadtrip«, verkünde ich.

Elvis Junior, der auf meinem Bett gedöst hat, wird bei diesem Wort hellwach. Er ist sofort dabei.

Meine Familie macht Mittagspause, als Erik und ich die Treppe heraufkommen. Pauline schöpft sich gerade eine große Kelle Wildreis und Maismehlsuppe in ihre Schale. Mit dem Esslöffel fischt sie nach Büffelfleischbrocken. Eriks Adamsapfel springt auf und ab, als er schluckt.

»Lass uns eine Kleinigkeit essen, bevor wir aufbrechen«, sage ich und schiebe ihn zu meiner Familie. »Hallo zusammen, das ist Erik. Er ist auch im Kinomaage-Programm. Seine Eltern haben das Freighters Motel gegenüber der Schleusen gekauft.« Ich runzle die Stirn, als Pops meinen neuen Freund begutachtet. »Erik, das ist mein Dad Art Birch.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Sir«, sagt Erik und streckt seine Hand aus.

Als Pops Eriks tiefen Bass hört, hebt er eine Augenbraue und schüttelt seine Hand etwas zu lange.

Pauline sitzt am Esstisch und kichert zwischen zwei Löffeln Suppe.

»Ich bin Teddie Firekeeper, Perrys Mom. Ich freu mich, dich kennenzulernen, Erik …« Sie wartet darauf, dass er seinen Familiennamen sagt.

Ich rolle mit den Augen, während ich zwei Schalen Suppe vorbereite. Mom recherchiert im Internet über jeden Jungen, der mit Pauline ausgeht. Ich hätte nie gedacht, dass sie meinen Praktikumsfreund genauso behandeln würde.

»Miller. Erik Miller. Wir sind Ende des Schuljahrs von Escalante hierhergezogen.«

Ich gebe Erik ein Zeichen, sich neben Pauline zu setzen.

»Was habt ihr heute Nachmittag vor?«, will meine neugierige Schwester wissen.

Erik wendet sich an meine Eltern »Wenn es für Sie in Ordnung ist, würden wir gerne mit Elvis Junior einen Ausflug machen.« Er schluckt nervös, noch bevor er den ersten Löffel Suppe im Mund hat.

Moment mal. Die tun alle so, als wäre er mein fester Freund.

»Wir wollten nach St. Ignace fahren, um uns einen Native-Art-Laden anzusehen. Eine Recherche für meine Arbeit«, sage ich.

»Den guten Laden oder die kitschige Touristenfalle?«, fragt Mom.

»Ich weiß nicht. Vielleicht beides?«

Ich glaube, dass Pops’ Schweigen Erik nervös macht, weil Suppe von seinem zitternden Löffel tropft.

Nachdem wir unsere Schalen ausgespült und in die Spülmaschine gestellt haben, dankt Erik meinen Eltern für das Mittagessen und wiederholt sein War schön, Sie kennenzulernen. Während er zu seinem Truck geht, befestige ich Juniors Leine am Halsband. Pauline holt mich in der Diele ein und gibt mir eine Decke.

Igitt. Nicht sie auch noch.

»Warum gibst du mir eine Vögeldecke?«

Pauline lacht. »Hey. Die ist für Elvis Junior, damit er Eriks Rücksitz nicht völlig versaut. Aber du kannst sie bei deinem Date natürlich verwenden, für … was du willst.« Sie zwinkert mir zu und ich möchte am liebsten ihren schwarzen Haarknoten wie einen Türknauf drehen.

Der Regen hat nachgelassen. Wenigstens Junior verhält sich normal. Er freut sich auf die Tour und schnüffelt in die Luft. Für ihn ist es eine ganz normale Fahrt in einem Truck.

Weil es kein Date ist. Oder?

»Das ist kein Date, oder?«, frage ich, als wir auf der Fähre sind. Erik weicht meinem Blick aus, aber ich sehe, dass er rot wird.

»Willst du, dass es eins ist?«

Pauline würde sich ihre Antwort gut überlegen, sich genau durch den Kopf gehen lassen, wie viel sie zu riskieren bereit wäre. Dann erst würde sie antworten. Anschließend würde sie sich mit ihrer Entscheidung herumquälen, weil sie überzeugt wäre, sich falsch entschieden zu haben. So bin ich nicht.

»Ich weiß nicht, ob ich dich ohne die restlichen Misfit Toys mag.«

Erik dreht seinen Kopf zu mir, um zu sehen, ob das sarkastisch war oder ob ich es ernst meine.

»Du nimmst wirklich kein Blatt vor den Mund, was?«, sagt er.

»Was meinst du damit?«

»Dass du dich beim Austeilen nicht zurückhältst, im übertragenen Sinn.«

»So bin ich eben, eine pöbelnde Person, die erst mal austeilt, der Rest findet sich dann schon«, sage ich unumwunden.

»Austeilende Pöbel-Perry.« Eriks tiefe Stimme klingt amüsiert.

»Angepisste Pöbel-Perry teilt aus«, sage ich. Mein Hund lässt ein halbherziges Heulen vom Rücksitz ertönen. »Elvis Junior stimmt mir zu.« Während wir beide lachen, komme ich zu dem Schluss, dass, falls das tatsächlich unser erstes Date sein sollte, es wirklich gut läuft.

Ich erkläre Erik, wie wir auf Nebenstraßen nach St. Ignace kommen, anstatt über den Highway zu fahren.

»Es ist immer gut, einen Schleichweg zu haben«, füge ich hinzu. »Habt ihr so etwas in Escalante?«

»Klar«, sagt er langsam. Sein Gesichtsausdruck ist verhalten.

»Das war nur Spaß. Hattest du tatsächlich Schleichwege in einer Stadt am Arsch der Welt?«

Er zuckt mit den Schultern. »Sicher. Hab mir ein paar Feinde gemacht.«

»Jetzt rechts«, sage ich. »Was für Feinde?«

»Ich wurde aus der Schule rausgeworfen. Habe meinen Abschluss außerhalb der Highschool gemacht und mich bis zu unserem Umzug unauffällig verhalten.«

Bevor ich die erste der vielen Fragen stellen kann, die mir durch den Kopf wirbeln, kommt von der Rückbank ein heftiger Furz. Der Geruch steigt mir eine Nanosekunde früher in die Nase, als Eriks Schrei in meinem Ohr ankommt.

»Hat er ein Stinktier gefressen?« Erik lässt das Fenster herunter. Abwechselnd lacht er und schnappt nach Luft. »Ich glaube, dass ich etwas davon verschluckt habe. Meine Augen tränen.«

»Schieb deine Blähungen nicht auf meinen Hund«, necke ich ihn. »Vielleicht solltest du anhalten, damit er schnell Gassi gehen kann.«

Wir stehen nebeneinander, während mein Hund am Straßenrand sein Geschäft verrichtet.

»Wusstest du, dass das Maskottchen vom Escalante School District ein ›Eskimo‹ ist?«, fragt Erik.

Mir fällt die Kinnlade runter. »Das wusste ich nicht. Das ist so … daneben.«

»Genau, also hab ich mich in die Website meiner Schule gehackt.« Er starrt auf seine schwarzen Converse-Sneaker. Als er aufblickt, funkeln seine blauen Augen. »Überall, wo das Maskottchen genannt wurde, schrieb ich ›Name und Bild sind rassistisch beleidigend‹ dazu.«

Ich bin beeindruckt. »Sie haben dich aus der Schule geworfen, weil du die Wahrheit geschrieben hast?«

»Offiziell wurde ich wegen unerlaubten Zugangs zu Schuleigentum ausgeschlossen. Angeklagt wurde ich wegen versuchten Betrugs und Eingriffs in eine Bildungseinrichtung mit dem Computer. Meine Eltern haben sich mit der Schulverwaltung arrangiert, da es nicht in ihrem Interesse war, dass der Vorfall viral geht.«

»Erik, du bist ein einwandfreier Hacker«, stelle ich fest, während ich Junior zurück zum Auto führe.

»Ich bin ein White Hat«, erklärt er. »Ich stelle meine Hackerfähigkeiten in den Dienst des Guten.«

»Sind Black Hats böse Hacker?« Ich schnalle mich an. »Findest du nicht, dass diese Begriffe rassistisch sind? White, gut. Black, böse.«

Erik überlegt mit dem Autoschlüssel in der Hand. Seine Mimik erzählt eine Geschichte – Überraschung, Ablehnung, Verlegenheit, Erwägung, Erkenntnis.

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht, Perry. Aber jetzt, wo ich es tue, möchte ich … besser darauf achten.«

Ich mag Erik. Wie er eine neue Idee aufnimmt und vorsichtig darüber spricht … gefällt mir.

»Das ist doch ein Witz«, sagt Erik, als wir bei Teepees-n-Trinkets ankommen.

Ein richtiges Tipi – auf eine sechs Meter hohe Konstruktion gemalt – steht zwischen dem Parkplatz und der Straße. Daneben sind Cartoon-Indianer in Lebensgröße mit ausgeschnittenen Gesichtern aufgestellt; Touristen stellen sich dahinter auf und schauen durch die Öffnung – für Fotos.

»Sieht mehr aus wie Stereotypen und Souvenirs«, stelle ich fest.

Erik grunzt ein Lachen. Seine runden Wangen färben sich rot. Ich stupse seine Wange mit dem Finger an.

»Hübsch«, necke ich ihn. »Wie reife Krabbenäpfel.«

»Du sagst wirklich alles, was du denkst, oder?«, sagt Erik, immer noch rot.

Ich binde Juniors Leine an einem schattigen Baum neben dem Auto fest, bevor wir in den Laden gehen.

»Wenn es hier einen Zigarrenladen-Indianer gibt, schuldest du mir ein Eis«, sage ich.

Er hält die Tür auf. »Woher weiß ich, dass du den Laden nicht schon vorher abgecheckt hast?«

»Pah. Meine Eltern würden uns niemals hierherbringen.«

Erik deutet auf ein paar Gegenstände, die er besonders lächerlich findet: Kopfschmuck mit grellbunten Federn, ein Pfeil-und-Bogen-Set mit der Stabilität eines Zahnstochers und ein Federmandala, das eine vollbusige indigene Frau in einem Wildleder-Bikini zeigt.

Als wir beide gleichzeitig nach einem glitzernden Traumfänger greifen, berühren sich unsere Finger. Keiner zieht die Hand zurück. Seine schlanken Fingerspitzen sind weich.

»Du wärst ein prima Taschendieb«, sage ich. Ein weiterer Beweis dafür, dass ich alles sage, was mir in den Kopf kommt.

Erik wirft seinen Kopf in den Nacken und lacht. Ich fühle es tief und warm in meinen eigenen Lungen.

Auf unserem Weg in den hinteren Ladenteil kommen wir an einem Zigarrenladen-Indianer vorbei. Die geschnitzte Statue ist so groß wie Erik. Seine Farben sind schon verblasst.

»Du schuldest mir ein Eis«, sage ich.

»Das ist in Ordnung.« Er klopft ihm auf die hölzerne Schulter. Es ist eine mitfühlende Geste, als wollte er sich für die idiotischen Dinge entschuldigen, die Leute getan haben, während sie neben der Statue für Fotos posten.

Wir bleiben vor den hohen, quadratischen Ausstellungsschränken stehen, die die Tür zum Museumsraum einrahmen. Eine dicke Staubschicht verleiht den Gegenständen eine antike Patina. Auf jedem Glasregal steht ein gefalteter Pappaufsteller: Nicht zum Verkauf .

»Schau dir das an, Erik. Die haben eine Zeremonienpfeife«, sage ich. »Mann. Sie darf nur für Zeremonien zusammengesetzt werden.« Ich gehe in die Hocke, um zu sehen, was in den tieferen Regalen liegt.

Erik zählt den Inhalt des Regals unter der Pfeife auf. »Ich sehe einen Korb in Form einer Erdbeere und ein paar Pfeilspitzen.« Das Letzte, was er sagt, kommt von weit entfernt.

Erik klopft mir auf die Schulter, wie er es bei dem Zigarrenladen-Indianer getan hat.

»Hey, Perry, was ist los?«

Ich sitze mit angezogenen Knien auf dem Boden. Meine Hände über meinen Mund gelegt. Ich kann meine Augen nicht von dem geflochtenen Korb nehmen, der nicht größer als eine Kaffeetasse ist. Drei Reihen Schwarz-Esche-Streifen sind gedreht um den Korb gewunden. Ich nehme seinen Arm, als er sich zu mir setzt.

»Ich glaube, dass dieser Korb von meiner Urgroßmutter ist.« Mein ersticktes Krächzen ist kaum hörbar.

Da der Korb auf dem vorletzten Regal von unten steht, lege ich mich flach auf den Boden, um den Korb von unten zu sehen.

Er ist von ihr. Maria Paquette, 1940. Mit einer Himbeere gekennzeichnet. Meine Urgroßmutter hat den Korb im Juli fertiggestellt. Miskomini Giizis ist der Raspberry Moon.

»Willst du fragen, ob du ihn mal halten darfst?«, fragt Erik.

»Nein«, gebe ich schroff zurück. »Je mehr sie wissen, desto wertvoller wird er.«

Schnell stehe ich auf, um die Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken. Da ich es gewohnt bin, in Geschäften vom Personal verfolgt zu werden, halte ich Ausschau nach Kameras und misstrauischen Blicken der Angestellten. Eine dunkle, kugelförmige Kamera ist über dem Kassentresen angebracht. In den Ecken des Raums sehe ich nichts. An den Fenstern gibt es keine außergewöhnliche Hardware oder Kabel. Es ist ein kleiner, unscheinbarer Laden.

Würde ich den Korb nehmen, wenn ich könnte? Auf jeden Fall! Er sollte bei meiner Familie sein.

Erik und ich gehen durch das »Museum«, das eine verzerrte Geschichte der Region zeigt. Jesuitenpriester retten uns ungläubige Heiden. Pah. Als wären sie ohne unsere Hilfe nicht verhungert. Ich meine, im Ernst, wer hat hier wen gerettet?

Wir nähern uns einem in Augenhöhe aufgestellten Glaskasten. Er beinhaltet eine Sammlung Mokassins, in Kleinkindgröße an dem einen Ende, dann allmählich ansteigende Kindergrößen und zwei Paar Mokassins für Erwachsene am anderen Ende.

Es sind die Wildledermokassins einer ganzen Familie.

»Wow«, entfährt es Erik. »Jedes Alter. Jede Größe.«

Ich weiß, warum Mom uns nie hierhergebracht hat. Auf einem Schild steht, dass die Mokassins einer Familie gehören, die gemeinsam gestorben ist, hier irgendwo in der Gegend begraben und 1976 ausgegraben wurde. Die Headline auf dem Schild lautet: EIN TAPFERER INDIANER MIT SEINER INDIANERMAID UND IHRE KINDER . Der Verbleib ihrer menschlichen Überreste wird nicht erwähnt.

»Diese Mokassins wurden den Vorfahren in ihren Gräbern abgenommen«, sage ich zu Erik.

Er sieht geschockt aus. Ich hole tief Luft, bevor ich weiterspreche.

»Würden sie heute gefunden werden, gibt es Vorgaben, wie man mit den Knochen und den Grabbeigaben umgehen muss.« Noch mehr tiefe Seufzer. Beruhige dich, Perry. »Diese wurden in den 1970er-Jahren gefunden. Vor NAGPRA . Das ist das Gesetz, das vorschreibt, Vorfahren und ihren Besitz ihrem Tribe zurückzugeben.« Ich denke an die eBay-Liste. »Für alles, was vor 1990 gefunden wurde, gibt es einen Freischein.« Ich sehe mich in dem staubigen Museum um, das die Größe meines Zimmers hat. »Private Sammlungen wie diese unterliegen nicht dem Gesetz, Erik. Deshalb können die Besitzer die Gegenstände auf eBay einstellen und meistbietend versteigern.«

Es sind so viele Dinge in den Raum gepfercht. Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, den Bestand aufzulisten. Stattdessen schreit jede Faser in meinem Körper danach, diesen Laden schnellstens zu verlassen. Bevor sie mich gekennzeichnet als INDIANERMAID UM 2014 in eine Glasvitrine legen. Worin besteht der Unterschied zwischen dem einen Satz indigener Knochen und dem anderen? Nur die Jahreszahl auf dem Etikett.

»Ich muss hier raus«, sage ich, und meine Stimme zittert vor Wut, Horror und Panik.

Auf dem Weg nach draußen umringen mich drei kleine Jungs. Unter Geschrei galoppieren sie auf Spielzeugpferden. Für einen Moment fühle ich mich wie in einem schlechten Western. Moment mal … gibt es überhaupt »gute« Western? Warum gehen sie davon aus, dass sie die Helden sind?

Ein Junge rempelt mich an. Er muss das absichtlich getan haben; unmöglich, mich zu übersehen. Er prallt an mir ab und fällt auf den Ausstellungskasten. Der Glasturm fällt in Zeitlupe um. Im Fallen rutscht der Inhalt zur Seite. Durch den Aufprall bricht das Glas.

Der Junge landet auf seiner Verwüstung. Er weint. Seine ausgestreckte Handfläche blutet.

»Hey, es ist okay. Nur ein kleiner Schnitt. Alles wird gut«, sage ich und hocke mich hin, um ihn zu trösten. Seine Augen sind groß und grün. Seine Wimpern sind tränenverklebt. Vielleicht wird er eines Tages die Welt mit diesen Augen verführen. Aber jetzt gerade ist er ein nerviges Ungeheuer, das in einem Laden ein Riesenchaos angerichtet hat, obwohl ihm seine Mutter x-mal gesagt hat, dass er Ruhe geben soll.

Der Korb meiner Urgroßmutter steht neben ihm.

Dann ist er in der Tasche meines Hoodies und ich helfe dem Jungen aufzustehen.

Erik und ich verlassen den Laden, während die Mutter des Jungen darauf besteht, mit dem Geschäftsführer zu sprechen.

Ich wähle Mackinac Island Fudge. Erik nimmt ein Mint Chocolate Chip. Die Eisdiele hat sogar Tiefkühlleckerlis für Hunde. Elvis Junior ist begeistert.

Meine Atmung hat sich normalisiert. Erik beobachtet mich. Ich frage mich, ober er mich als mögliche Freundin ansieht. Pauline ist die mit den Dates. Sie hat wechselnde Typen, die Schlange stehen, um mit ihr auszugehen. Bis jetzt habe ich mich noch nie richtig für jemanden interessiert, und das nicht nur wegen Moms ständiger Erinnerung, dass wir auf Sugar Island alle miteinander verwandt sind.

Die Wärme auf meinem Arm, der neben Eriks liegt, ist mir neu, aber nicht unangenehm. Ich stelle mir die Art Sorgenspirale vor, von der Pauline gelenkt wird, und wende sie auf Erik an. Ist das ein Date? Ich mag sie, aber mag ich sie so? Will ich einen Schritt weitergehen?

Denkt Erik, dass ich hübsch bin? Pops sagt, dass meine Augen wie der Nordhimmel in einer klaren Nacht funkeln.

Pauline sagt, dass Jungs sich vor mir fürchten. Gut, sage ich. Das sortiert die Schwachen aus. Wer will das schon?

»Hast du den Korb genommen?«, fragt Erik tonlos. Er weiß es schon.

»Ja.« Ich bin vieles, aber keine Lügnerin.

»Wie konntest du nur?« Er ist verärgert.

»Weil er genau da stand«, sage ich und ziehe ihn aus der Tasche meines Hoodies. Sie hat ihn während Miskomini Giizis fertiggestellt. Der Raspberry Moon ist eine Zeit der großen Veränderungen. Blüten und Früchte gedeihen an den Dornen vorbei; die Vorbereitung auf die bevorstehende Ernte.

Erik starrt mich an. Seine Augen funkeln dunkel. Nur Schatten. Kein Licht.

»Du hast nicht überlegt, was das für ein Risiko für mich ist«, sagt er. Er schiebt sein grünes Eis zur Seite. »Ich bin auf Bewährung. Wenn ich vor meinem neunzehnten Geburtstag auch nur einen Strafzettel für Falschparken bekomme, kann die Schule die ursprüngliche Klage wieder aufnehmen. Meine Eltern würden eine Hypothek für das Motel aufnehmen müssen, um die Anwaltskosten zu bezahlen.« Er sieht mich an. »Hast du überhaupt an die Konsequenzen gedacht, wenn sie dich erwischt hätten?«

»Nein«, sage ich.

»Und an mich? Deinen Komplizen?«

Ich sage die Wahrheit. »Ich habe an nichts anderes gedacht als daran, diesen Korb mitzunehmen.«

»Perry.« Er zischt meinen Namen geradezu. Aber nicht aus Zuneigung, sondern aus Enttäuschung.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Meine Wut steigert sich mit jedem Atemzug. Junior steht plötzlich wachsam neben mir.

»Weißt du was? Leck mich«, sage ich.

Sein Kopf schwingt zurück, als hätte ich ihn geschlagen.

»Wie viele Körbe und Mokassins gibt es in mickrigen Museen wie diesem? Oder in Privatwohnungen? Grabjäger und private Sammler besitzen unsere Vorfahren und die Gegenstände, mit denen sie beerdigt wurden.« Ich zeige auf das Mackinac State College auf dem Berg. »Oder sie liegen in einem Karton in dem staubigen Büro der Professorin? Jemand, der sie niemals zurückgeben wird.« Ich will nicht weinen. Ich werde Erik nicht ansehen. Ich stecke den Korb wieder in meine Tasche. »Ich konnte ihren Korb nicht dortlassen.«

Mein Eis schmilzt zu einer dicken weißen Soße, in der winzige Brownie-Stückchen schwimmen, die meinem Löffel ausweichen.

»Ich denke, dass wir nach Hause gehen sollten«, sage ich schließlich.

»Ja«, stimmt Erik ausdruckslos zu. »Das sollten wir.«